Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Bismarcks Nachfolger

Am 26. Januar 1894 sah vom Fenster einer Privatwohnung ein weißhaariger Mann auf die Straße Unter den Linden herab. Generalsuniform. Auf langem Rumpf ein kleiner Kopf mit kleinen, doch klugen Augen und einer slawischen Nase. Seit früher Morgenstunde hatte der Schwarm die Straße gefüllt; und immer lauter wurde nun, gegen Mittag, das festliche Leben. In den Reihen fand der Blick viele bekannte Gesichter. Gelehrte, Künstler, junge und alte Offiziere waren mit ihren Damen gekommen. Der Rangunterschied und die Vorschrift ehrwürdiger Konvention schien vergessen. Der Rat zweiter Klasse zog die Subalternen ins Gespräch und der jüngste Leutnant durfte mit grauen Exzellenzen kameradschaftlich plaudern. Eine große Familie. Und in Aller Augen ein Leuchten froher Erwartung, als müsse durchs Brandenburger Tor das Glück in die Hauptstadt des Reiches einziehen. Naht es im Glanz der Wintersonne? Vom Nordwesten her dröhnt der Jubel. Der rasche Tritt schwerer Pferde wird hörbar. Kürassiere. Dann ein Galawagen. Rechts und links Halberstädter Reiter. Auch mit gerecktem Hals ist nicht viel zu sehen. Ein gelber Kragen, ein weißer Handschuh, das Funkeln eines Stahlhelms. Dennoch geht's wie ein Rausch durch die Masse; schwört im nächsten Augenblick jeder, er habe den Kömmling so genau wie seinen Nachbar gesehen. Bismarck ist wieder da! Nur für kurze Stunden. Wer weiß? Jetzt, kaum fünf Minuten noch: dann liegt seine Hand in der des Kaisers; blicken nach vier Jahren unheilvoller Wirrung die Beiden einander endlich wieder ins Auge. Wer weiß? Vielleicht verläßt der als Generaloberst zum Militärjubiläum Geladene als Kanzler das Schloß. Der Mann am Fenster ahnt solche Stimmung. Fühlt den Taumel, der die Menge ergriffen hat. Und sinnt trüb dem Wechsel alles Irdischen nach. Dann verabschiedet er sich, fährt ins Alte Schloß und gibt bei dem Fürsten von Bismarck, Herzog von Lauenburg, seine Karte ab. Georg Leo Graf von Caprivi de Caprara de Montecuccoli, Reichskanzler.

Während er auf das Spektakel niederschaute und dann auf den Schloßplatz fuhr, mag er zweier Lenztage gedacht haben, an denen er genötigt ward, den amtlich zu ächten, den die Hauptstadt heute jubelnd empfing und dem er selbst nun ehrfürchtigen Gruß bieten mußte. Der Zirkularnote vom 23. Mai 1890: »Seine Majestät unterscheiden zwischen dem Fürsten Bismarck früher und jetzt. Ich gebe mich der Hoffnung hin, auch seitens der Regierung, bei welcher Sie akkreditiert sind, werde den Äußerungen der Presse in bezug auf die Anschauungen des Fürsten Bismarck ein aktueller Wert nicht beigelegt werden.« Und der Depesche (vom 9. Juni 1892) an den Botschafter Prinzen Reuß: »Für die Gerüchte über eine Annäherung des Fürsten Bismarck an Seine Majestät den Kaiser fehlt es vor allem an der unentbehrlichen Voraussetzung eines ersten Schrittes seitens des früheren Reichskanzlers. Die Annäherung würde aber, selbst wenn ein solcher Schritt geschähe, niemals so weit gehen können, daß die öffentliche Meinung das Recht zur Annahme erhielte, Fürst Bismarck hätte wieder auf die Leitung der Geschäfte irgend welchen Einfluß gewonnen. Falls der Fürst oder seine Familie sich Eurer Durchlaucht Hause nähern sollte, ersuche ich Sie, sich auf die Erwiderung der konventionellen Formen zu beschränken, einer eventuellen Einladung zur Hochzeit jedoch auszuweichen. Diese Verhaltungsmaßregeln gelten auch für das Botschaftpersonal. Ich füge hinzu, daß Seine Majestät von der Hochzeit keine Notiz nehmen werden. Euer Durchlaucht sind beauftragt, in der Ihnen geeignet scheinenden Weise sofort hiervon dem Grafen Kalnoky Mitteilung zu machen.« Unter beiden Aktenstücken stand sein Name. Bismarck hatte sich nicht geändert; auch den »unentbehrlichen« ersten Schritt nicht getan. Und war dennoch dringend ins Kaiserschloß geladen und wie ein Souverain empfangen worden. Einfluß auf die Leitung der Geschäfte? Das fürchtete der Kanzler nicht. Das war nach dem Geschehenen nicht mehr möglich. Jedes politische Thema wurde im Schloß gewiß behutsam vermieden. (Die Vermutung war richtig; nie, sagte Bismarck nachher, habe ich so viele Ballgeschichten erzählt.) Abends, wenn der Fürst in den Sachsenwald zurückfährt, ist alles vorbei. Das Regieren von morgen an vielleicht sogar noch bequemer, weil der Riesenschatten nicht mehr auf die Alltagsleistung fällt. Angenehm war's ja nicht, die Hauptbatterien immer gegen Friedrichsruh zu richten. Am Ende kam man noch in leidliche Beziehungen. Da der Verkehr mit dem Herrn wieder aufgenommen ist, kann auch der Groll gegen den Diener begraben werden, der ja nur getan hatte, was ihm aufgetragen war. Mit entwölkter Stirn kehrte der Kanzler in die Wilhelmstraße heim und pfiff seinem Vöglein, dem einzigen Zimmergenossen des weißen Hagestolzen, muntere Weisen.

Kein Psychologe, kein starker Politiker hätte so gedacht. Keiner gewähnt, das Volk, der Kaiser, der alte Fürst könne vergessen. Jeder hätte den Tag dieses Triumphzuges zu anständigem Abgang benutzt. »Ich habe mich in den Jahren des Konfliktes mit dem Fürsten Bismarck verbraucht und bin vor der Welt mit der Verantwortlichkeit für die Vehmung des großen Mannes belastet. Daß ihm die Gnadensonne wieder scheint, freut mich als Patrioten; doch als Kanzler kann ich's nicht überleben. Mein Ansehen wäre geschmälert, das Vertrauen in die Wurzelkraft meiner Überzeugung dahin. Die Situation fordert ein Opfer; möge Eurer Majestät gefallen, mich es sein zu lassen. Der Personenwechsel wird zeigen, daß nicht der Sinn des Kaisers, sondern der falsche Rat seines ersten Dieners die schlimme Wirrnis verschuldet hat. Das scheint mir im Interesse des Reiches nötig.« So hätte ein Staatsmann gesprochen. Caprivi blieb im Amt. Noch neun Monate; auf den Tag. Dann mußte er gehen. Viel früher, als er erwartet hatte. »Unschätzbar« hatte, kurz zuvor, der Kaiser seine Dienste genannt und öffentlich den Wunsch ausgesprochen, sie dem Vaterlande noch lange erhalten zu sehen. Am 26. Oktober 1894 war alles aus; erfuhren die zur Beratung der Umsturzvorlage nach Berlin gerufenen deutschen Minister, daß ein neuer Kanzler ernannt sei. Der ruhmlos Entamtete hat, wie die Berichte seiner der Hoffnung beraubten Freunde verrieten, bis ans Lebensende nicht gewußt, daß er im Januar seine Stunde verpaßt, die Möglichkeit weiteren Wirkens verloren hatte.

Gegen Bismarck: das war die Parole gewesen, die ihn gerufen hatte. Aus Hannover, wo er an der Spitze des Zehnten Armeekorps stand, war er schon vor dem März 1890 mehr als einmal zu heimlichem Rat nach Berlin gekommen. Abends hin, im Morgengrau zurück. Niemand sollte das Ziel der Fahrt kennen. Da wurde ihm auf den Zahn gefühlt. Albedyll, der unter dem alten Kaiser achtzehn Jahre lang das Militärkabinett geleitet hatte, war für die Nachfolge Bismarcks nicht zu haben gewesen. Zu morsch; keine Rednerroutine. Waldersee sollte Moltke ersetzen; galt auch als Russenfeind, als Mann Stoeckers, und hatte zu laut von seinem Einfluß auf den jungen Kaiser gesprochen. Und ein General sollte es doch sein. Der imponiert mehr, hat im Parlament und auf der Straße eine festere Hand; einen Kanzler ohne Uniform konnte man sich kaum denken. Der Mann aus Hannover war als Chef der Admiralität mit dem Reichstag gut fertig geworden. Konnte reden, redete aber nur, wenn es nicht zu vermeiden war. Die Haltung steif (Krampfadern zwangen ihn, Gummistrümpfe zu tragen), die ganze Wesensart schwerfällig und nüchtern; stand er am Bundesratstisch aber auf, dann hatte er sicher auch Etwas zu sagen. Seine Neigung zog den Sohn des unbegüterten Obertribunalsrates zu den kleinadeligen Feinden des Kanzlers; in die Gegend, wo einst die »Reichsglocke« geläutet hatte. Fraglich blieb nur, ob er die Nerven haben würde, die Sache durchzufechten. Leicht wird's nicht. Der Alte hat Hörner und Klauen und wird, wenn's drauf und dran kommt, seine Haut teuer verkaufen. Lady Milford, die alle Minen springen läßt, ist dagegen ein Würmchen. Dennoch mußte es sein. Nicht nur, weil Waldersee mit Recht gesagt hatte: »Euer Majestät Ahnherr wäre nicht Friedrich der Große geworden, wenn er einen übermächtigen Minister geduldet hätte.« Weil's einfach nicht mehr ging. Aber nur keine unnützlichen Versuche mit Liebe und Güte! Der Abschied muß erzwungen werden, der Nachfolger sich sofort in dem Haus Wilhelmstraße 77 einquartieren und ohne langes Hin und Her die Geschäfte übernehmen. A corsaire corsaire et demi. Anders ist's nicht zu machen. Die Erfahrung findet sich. Im Innern weiß Boetticher wie in seiner Tasche Bescheid und für das Internationale sorgt Holstein. Nur Mut muß der neue Mann haben und entschlossen sein, durch Dick und Dünn dem Monarchen zu folgen. Auf dieser Basis wurde man einig; und am 20. März 1890 las Alldeutschland, der General der Infanterie von Caprivi sei zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten ernannt. Las es staunend. Der? Den, hieß es in der Armee, haben sie als Brigadier in Stettin ja schon den »genialen Feldwebel« genannt, weil er immer die merkwürdigsten Einfälle hatte und doch nie über die Kommißsphäre hinauskam. Moltke kann ihn nicht riechen und hat ihn, der 1866 in der »Großen Bude« gearbeitet und 1870 den Generalstab im Zehnten Korps geleitet hatte, nach dem Krieg bei der Meldung wie einen fremden Herrn behandelt. Sonderbar, sagten die Marinemänner: Der ist 1888 ja aus der Admiralität verschwunden, weil die Flottenpläne Wilhelms des Zweiten auftauchten, die er nicht billigte: und derselbe Kaisersetzt ihn nun auf den obersten Posten? Macht nichts, antwortete mancher Zivilist: der Mann ist nicht übel; nicht so liberal wie Stosch, den er als Admiralitätschef beerbte, aber vernünftig und besten Willens. Er wird ruhig arbeiten und im Reich uns unnötige Krisen ersparen; auch auf den Kaiser beruhigend wirken. Selbst Windthorst hält viel von ihm. Laßt ihn nur kommen!

Er kam; und hielt sich genau an die Losung. Zog ins Kanzlerhaus, ehe der alte Bewohner es verlassen hatte, und übernahm die Geschäfte, ohne irgendeine Information zu erbitten. Bismarck war artig, bedauerte den auf solchen Posten Kommandierten und lud den Junggesellen ein, an Johannens Familientisch mitzuessen. Caprivi hatte seine Instruktion im Kopf, traute dem Frieden nicht und blieb ein schweigsamer Gast. Daß er sich nicht sehr behaglich fühle, lehrte die freundlich um ihn bemühte Hausfrau der Seufzer: »Mir ist zu Mut wie einem Kinde, das man mit verbundenen Augen in ein dunkles Zimmer gestoßen hat!« Neben ihm saß einer, der jeden Winkel in diesem Zimmer kannte. Den durfte er aber nicht fragen. Wie ein Seufzer klang denn auch die erste Rede im preußischen Landtag: »Den politischen Angelegenheiten bisher fremd, bin ich vor einen Wirkungskreis gestellt, den auch nur im allgemeinen zu übersehen mit bis heute nicht möglich gewesen ist.« Nicht einmal »im allgemeinen«; und der neue Herr war bereits vier Wochen im Amt. Doch in derselben Rede meldete sich auch schon die zuversichtliche Hoffnung, das Haus des Reiches sei so fest gefügt, daß es auch ohne Bismarcks stützende Hand Wind und Wetter überstehen könne; und wenn der Kanzler auch nur »in bescheidener Weise die Geschäfte zum Segen des Landes führe«, so fehle es doch nicht an Ersatz. »Ich halte es für eine überaus gnädige Fügung der Vorsehung, daß die Person unseres jungen erhabenen Monarchen geeignet ist, die Lücke zu schließen und vor den Riß zu treten.« Eine Hand stützt ein Haus; und wenn diese Hand entfernt ist, schließt ein anderer die Lücke: an solche Bildersprache hatte der Mund eines Reichskanzlers die Deutschen damals noch nicht gewöhnt. Auch nicht an solche Sünde wider den Heiligen Geist der Reichsverfassung. Bismarck sollte gesagt haben, Wilhelm der Zweite werde sein eigner Kanzler sein. Er hat's mit heftigem Nachdruck immer bestritten. »Ich habe gesagt, er möchte am liebsten zugleich Kaiser und Kanzler sein. Was man mich sagen läßt, ist ja Unsinn.« Jetzt sprach ein Kanzler: »In mir dürft Ihr nur das bescheidene Werkzeug höheren Wollens sehen; vor den Riß, der durch das Ausscheiden meines großen Vorgängers entstanden ist, tritt der erhabene junge Monarch.« Für Preußen, wo der König, nach Persils Wort, règne, gouverne et n'administre pas, mochte man's hinnehmen. Das Deutsche Reich aber hat an seiner Spitze keinen Monarchen, sondern nur einen Repräsentanten, der im Kreis der Bundesfürsten primus inter pares und in Friedenszeit von jeder Möglichkeit persönlichen Handelns abgesperrt ist. Jede seiner Verfügungen bedarf, schon nach dem Wortlaut der Verfassung, »der Gegenzeichnung des Kanzlers, der dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt.« Dieser einzige kaiserliche Minister muß ein Mann von weitreichender Geschäftskenntnis und zuverlässigem Augenmaß sein; denn er kann nur für Entschlüsse, deren Folgen er zu wägen vermag, die Verantwortlichkeit übernehmen. Nun hatte Deutschland einen Kanzler, der sich selbst der Unwissenheit zieh und in demütigem Fridolingefühl ausrief: »Das Heil kommt vom Kaiser!« Den gehorsamen Kanzler aus dem Mythenbuch. Gerade dieser Beamte aber soll nicht gehorsam sein, sondern freier Herr seines Willens; nicht Handlanger noch gar Werkzeug, sondern Meister in seinem Fach. Man achtete nicht darauf. Das natürliche Bedürfnis, für empfangene Huldzeichen sich dankbar zu erweisen, und die Verlegenheit ersten Auftretens hätten noch Ärgeres erklärt. Auch Bismarck fand Gründe, die den Nachfolger entschuldigten. Ein im Frontdienst ergrauter Mann wird in der neuen Rolle nicht so rasch heimisch. Die Redaktion der »Hamburger Nachrichten« mußte den Satz veröffentlichen: »Der Fürst hat uns direkt den Wunsch ausgedrückt, Herr von Caprivi, den er wegen seiner persönlichen Eigenschaften hochschätze, möge, seinem Charakter und der Schwierigkeit seiner Aufgabe entsprechend, mit Rücksicht behandelt werden.« Das wurde am 24. April 1890 gedruckt.

Einen Monat danach erging die Zirkularnote an alle deutschen und preußischen Missionen. »Seine Majestät unterscheiden zwischen dem Fürsten Bismarck früher und jetzt.« Hatte die Hamburger »Rücksicht« das mißtrauische Gemüt des Kanzlers nicht beschwichtigt? War er gewarnt worden, sich von dem großen Charmeur mit Süßigkeit ködern zu lassen? Fand er die Russen und Franzosen in Friedrichsruh gewährten Interviews so furchtbar gefährlich? Noch aber war der kurze Weg in den Sachsenwald ihm ja offen. Er konnte hinfahren und sagen: »Ich begreife, daß Euer Durchlaucht das Bedürfnis empfinden, sich auszusprechen, erbitte, als alter Soldat, von Ihrem Wohlwollen aber die Zusicherung, daß es mit äußerster Vorsicht und nur vor erprobten Freunden unseres Vaterlandes geschehen wird; ich könnte meine Pflicht nicht erfüllen, wenn ich in einen Kampf gegen Euer Durchlaucht verwickelt würde.« Solche Reise (zu der ihm die Erlaubnis versagt werden konnte) wäre freilich wider die Abrede gewesen. Auch war er überzeugt, daß Bismarck ihn nur hinters Licht führen würde; Tag und Nacht nur der Frage nachsann, wie er sich wieder ins Amt schlängeln könne. Also die Reichsacht. Ohne ängstliches Zaudern. Daß er sich vor diese Aufgabe gestellt sehen könnte, war ihm ja gesagt worden, bevor er sich zur Annahme des Amtes entschloß. Daß sie ihn zur ersten politischen Tat drängen werde, hatte er damals wohl nicht geahnt.

Andere Taten folgten; andere, die Jahre lang leidenschaftlich umstritten waren und deren Wert heute noch in der Geschichte schwankt. Er trug die staatsrechtliche Verantwortlichkeit; sein Name stand unter den Vorlagen und Verträgen. War er aber wirklich der Täter seiner Taten und darf man ihn nach seinem Tode noch für die Beschlüsse verantwortlich machen, die der Lebende mit seiner Unterschrift gedeckt hat? Vielleicht ist die Wiederaufnahme des Verfahrens geboten, in dem Leidenschaft einst das Urteil sprach. Vielleicht erkennt der nachprüfende Blick, daß es ungerecht war, je von einer Politik des Generals von Caprivi zu reden. Die ersten Taten waren: das Kolonialabkommen mit England und die Weigerung, den Rückversicherungsvertrag mit Rußland zu verlängern. Das geschah schon acht Wochen nach der ersten Landtagsrede und schien eine völlig neue Wendung der internationalen Reichspolitik. Am 15. April konnte der Kanzler seinen Wirkungskreis nicht einmal »auch nur im allgemeinen übersehen«; am 17. Juni war Helgoland gegen Sansibar und Witu eingetauscht und bald danach das Zarenreich brüskiert. Der innere Widerspruch solchen Handelns fiel zunächst nicht auf. Er hat sich eben schnell hineingearbeitet, dachte man; findet, daß wir mit unseren Kolonien einstweilen genug zu tun haben und besser an Englands als an Rußlands Seite passen. »Das Schlimmste, was uns passieren könnte, wäre wenn jemand uns ganz Afrika schenkte« (also auch Ägypten, das Kapland, Abessinien, den Kongostaat, Algerien, Transvaal und Marokko). Auch dieser Satz, der im ersten Diplomatenexamen den Kandidaten zu Fall bringen müßte, weckte nur leisen Widerhall. Wer wird jedes Wort auf die Goldwage legen! Englands Freundschaft wäre ein schwerer zu tragendes Opfer wert. Und wer weiß, welche Ungebühr die Russen uns wieder zugemutet haben?

Jetzt sind die Nebel längst schon gewichen. Wir haben das Buch der Genesis gelesen. Am 2. Mai hatte der Kaiser dem Kanzler die Verständigung mit Großbritannien befohlen; genau die Bedingungen diktiert, unter denen sie herbeizuführen sei. Der Kanzler sah nicht (was Wissmann und Stanley von weitem sofort erkannten), daß wir dabei ein jämmerlich schlechtes Geschäft machten; war auch nicht sachkundig genug, um mindestens die für unseren südwestafrikanischen Besitz so wichtige Walfischbai zu fordern, die ohne Aufgeld zu haben war. Nahm die Hacken zusammen und gehorchte. Schon der erste Besuch in Rußland hatte den Kaiser enttäuscht. Der zweite, von dem Bismarck abgeraten hatte, gab ihm unwiderlegliche Beweise für die unfreundliche Stimmung Alexanders des Dritten. Der Ärger war nun so stark wie vorher der Eifer, sich dem Zaren innig zu befreunden. Graf Schuwalow, Rußlands Botschafter am Berliner Hof, hatte angefragt, ob man den Geheimvertrag verlängern wolle; in Petersburg sei man dazu bereit. Diesen Vertrag hatte Bismarck abgeschlossen, weil er wußte, daß Österreich in absehbarer Zeit »unprovoziert« das Zarenreich nicht angreifen werde, daß die Russen aber solchen Angriff fürchteten. Er benutzte seine Kenntnis der in beiden Ostreichen herrschenden Stimmungen, um die »doppelte Assekuranz« zu erwirken, die Deutschland für den Fall eines französischen, Rußland für den Fall eines österreichischen Angriffskrieges der wohlwollenden Neutralität des Partners versicherte. Die Russen, denen das Schreckbild eines deutsch-österreichisch-englischen Angriffes zerflattert war, brauchten nun nicht mehr daran zu denken, diesem Gespenst offensiv auf den Leib zu rücken, sondern mußten sich sagen: Österreich greift uns nicht an, weil es beim Angriff isoliert sein würde, und wir dürfen Österreich nicht angreifen, weil wir als Angreifer nach dem Wortlaut des deutsch-österreichischen Bündnisvertrages gegen zwei starke Heere zu kämpfen hätten. Dieses klug erdachte Versicherungssystem (das auch der habsburgisch-lothringischen Monarchie keinen Schaden brachte) entsprach nun nicht mehr den Wünschen Wilhelms des Zweiten. Deshalb mußte der Kanzler die Erneuerung des »zu komplizierten« Assekuranzverhältnisses ablehnen. Der Kaiser fuhr, mit dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, nach England und hatte in Hatfield-Lodge mit dem Marquis von Salisbury lange Besprechungen, deren Ergebnis schriftlich fixiert wurde. New departure? In Paris und Petersburg glaubte man's. Bald wurde auch der damals wundeste Punkt Rußlands unsanft berührt. Die Polen kamen am Hof des Hohenzollern in Gunst und ein polnischer Priester ward ausersehen, sich auf den Stuhl des Primas von Polen zu setzen. Die Nervosität nahm in Gatschina so krankhafte Form an, daß selbst der Besuch, den Kaiser Franz Joseph einem englischen Geschwader in Fiume abstattete, als ein bedrohliches Symptom aufgefaßt wurde. Deutschland, Österreich, England: das Gespenst war wieder da. Aus Kronstadt kam die Antwort der Erschreckten nach Berlin. Schon der erste Nikolai hatte zu dem Botschafter Frankreichs gesagt: »Si l'unité de l'Allemagne, que vous ne désirez sans doute pas plus que moi venait à se faire, il faudrait encore pour la manier un homme capable de ce que Napoléon luimême n'a pu exécuter; et si cet homme se rencontrait, si cette masse en armes devenait menaçante, ce serait notre affaire à vous et à moi.« Zwanzig Jahre lang hatte der Schöpfer der deutschen Einheit dieses 1849 vorausgesagte franko-russische Bündnis gehindert; anderthalb Jahre nach seiner Entlassung war es Ereignis geworden. Und Alldeutschland jubelte.

siehe Bildunterschrift

Tirpitz

Das alles scheint uns jetzt in unendlich ferner Vorzeit geschehen. Aber hat dieses Bündnis nicht fast drei Lustren lang unseren Schritt gelähmt? Haben wir in dem traurigen südwestafrikanischen Feldzug nicht die Nachwirkung des Kolonialabkommens vom Jahr 1890 und des caprivischen Damaraland-Vertrages gespürt? Ist für das Deutsche Reich die Tatsache unbeträchtlich, daß Österreich mit Rußland, Italien mit Frankreich eine Separatverständigung gesucht und erreicht hat und der Dreibund seitdem eine wunderhübsche Attrappe geworden ist, die der Vorsichtige nur noch beim Schein bunter Festlampen zeigt? Auch in der Politik gilt das Gesetz von der Erhaltung aller Energie. Nur soll man heute nicht mehr Caprivi für Entscheidungen verantwortlich machen, die er, wie ein Elementarereignis, über sich ergehen ließ. Er hätte auch anders gekonnt, anderes vielleicht mit heitererer Seele verfochten. Kolonien waren seiner Bürokratenneigung zu ruhiger Rechenmeisterarbeit unbequem. Wenn von den Kolonien die Rede war, dachte er nur an Soldaten und Beamte, nie an die Möglichkeiten wirtschaftlicher Entwicklung. Da gab's Skandal und Aufstandsgefahr; und die tüchtigsten Leute, wie Wissmann, hielten ihre Akten und Belegzettel nicht sauber in Ordnung, waren also nicht zu brauchen. Trotzdem: der Generalkanzler führte nur aus, was ihm aufgetragen war.

Nach dem Abschluß der Handelsverträge mit Österreich-Ungarn, Italien, Belgien und der Schweiz hatte der Kaiser ihm die Grafenkrone verliehen und die Leistung des »großen Grafen Caprivi« bei schäumendem Pokal »eins der bedeutendsten geschichtlichen Ereignisse, geradezu eine rettende Tat« genannt. Auch dem in Preußen nur noch ornamental wirkenden Kanzler schien die Sonne weiter. Er bekam vom Kriegsherrn einen Ehrendegen mit der Inschrift: »Allezeit treu bereit für des Reiches Macht und Herrlichkeit.« Er konnte sich neben dem viel klügeren und gebildeteren Grafen Botho Eulenburg, der ihn als Ministerpräsidenten beerbt hatte, zwei Jahre lang aufrecht behaupten. Noch im Herbst 1894 wurde sein (nicht allzu ernst gemeintes) Entlassungsgesuch abgelehnt. Als er bald danach fiel, wußten selbst die Ministerialen keinen triftigen Grund dafür anzugeben. Er, dem die Offiziösen kurz vorher den »Mut der Kaltblütigkeit« nachgerühmt hatten, war ja bereit, die von Kaiser gewünschte Umsturzvorlage einzubringen, die ein nur blöden Augen verhülltes Sozialistengesetz werden sollte. Er wäre auch leicht zu bewegen gewesen, dem in der Kölnischen Zeitung angegriffenen Grafen Eulenburg ausreichende Genugtuung zu geben. Warum fiel er? Weil die Parole, die ihn gerufen hatte, als unwirksam und schädlich erkannt war. Der Schreiber des Uriasbriefes an den Prinzen Reuß war seit dem 26. Januar 1894 lästig geworden und mußte dem milden Onkel Chlodwig den Platz räumen. Und in dem seiner Inspiration zugeschriebenen Artikel gegen Eulenburg war gesagt worden, der Kanzler sei der Gunst des Kaisers ganz sicher. Des Sieges so gewissen Dienern droht im neuen Reich stets Gefahr.

Ein lauter Trauersalut aus hundert Böllerschlünden: dann tiefes Schweigen. Der Mann, dessen Wesensbild Freunde und Feinde mit so hitzigem Eifer umstritten hatten, war über Nacht fast vergessen. Ist es bis heute geblieben. Kein Lied, kein Heldenbuch kündet noch seinen Namen. Keine seiner einst von überschwingender Begeisterung gefeierten Reden wird zitiert. Zum Berg häuften sich die Blätter, die seines Ruhmes voll waren; nun gilben sie oder sind längst makuliert. Das Werk des Undankes? Nein: richtigen Masseninstinktes. Als er fort war, empfand jeder, daß dieser Mann kein System vertreten habe, und daß es ungerecht wäre, ihn nach seinem Scheiden für das zwischen 1890 und 1894 Geschehene verantwortlich zu machen.

Caprivi ist im Drama neudeutscher Geschichte eine tragische Gestalt; freilich keine von shakespearischem Format. Eher schon im Stil eines Bankbanus, dem kein Gott und kein Poet den Segen der Gemütskraft mit ins Leben gab, eines Fejervary, dem nicht gegönnt war, neben Kossuth und Apponyi beim Friedensmahl zu sitzen. Die Tragik seines Schicksals liegt auch nicht darin, daß er der Nachfolger eines noch nicht eingeurnten großen Mannes war. Das war nicht so schwer wie es schien. Der pfiffige Waldersee hatte nicht ohne Grund zwar gesagt: »Solange Bismarck unbeamtet lebt, wird es immer zwei Reichskanzler geben.« Erstens aber war's kein geringer Vorteil, ein so weise verwaltetes Erbe antreten zu dürfen; und zweitens war gegen den Vorgänger eine haine inassouvie gehäuft, die sich jedem Nachfolger des Lebenden in zärtliche Liebe wandeln mußte. Wie leicht wurde dem zweiten Kanzler das Dasein gemacht! Um die Rückkehr des ersten (die selbst dessen »politischen Freunden« recht unangenehm gewesen wäre) zu hindern, lobten Abgeordnete und Journalisten den zweiten täglich in schöner Rede; Herr Bebel selbst bescheinigte ihm, daß er seinen Platz gut ausfülle. Zentrum, Polen und Welfen hätschelten ihn und Bambergers Sezessionistenschar wurde seine Leibgarde. Später warb er sich Feindschaft. Der Sproß armen Beamtenadels hatte sein Leben lang neidisch auf die von Fortunen mehr begünstigten Standesgenossen geblickt, auf die Großgrundbesitzer, die Väter prassender Reiteroffiziere, und mag es wie einen wonnigen Kitzel empfunden haben, als er an ihnen sein Mütchen kühlen konnte. Die Granden des preußischen Ostens dankten ihm's mit innigem Haß. Das brachte noch keine Tragik in sein Leben. Die entstand erst, als von den Bitternissen jähen Glückswechsels ihm keine erspart blieb und er Hohn, Schimpf und Sturz hinnehmen mußte, weil er getan hatte, was er zu tun gerufen war. Als auch sein Herr das Werkzeug unbequem und nicht mehr brauchbar fand. War dem aus Hannover Geholten denn nicht der Auftrag geworden, ohne langes Federlesen mit Bismarck reinen Tisch zu machen? Nicht streng verboten, von ihm Lehre und Hilfe zu erbitten oder auch nur anzunehmen? Hatte man ihn nicht, Volk und Fürst, verherrlicht, weil er sich streng an die Weisung hielt? Fast vier Jahre lang. So lange man glaubte, Bismarck wolle, könne ins Amt zurückkehren. Als die Möglichkeit aufdämmerte, den Mann im Sachsenwald, statt ihn wieder auf den steilen Gipfel der Macht zu rufen, als guten Onkel der Reichspolitik zu etablieren, wollte keiner je etwas gegen ihn gesagt haben. Caprivi mußte in die Wüste. Jeder legte, wie nach mosaischem Gebot Aron, die Hand auf das Haupt des Bockes, »auf daß also das Tier alle Missetat in eine Wildnis trage«.

Keine Tragik ohne Schuld. Caprivi war kein starker, kein schöpferischer Geist. Rascher Auffassung fähig, fleißig, auf seine Weise geschickt, bei aller Schwerfälligkeit behend genug, um sich schnell in jeder Materie zurechtzufinden. Doch mit dem Gepäck ererbter und anerzogener Vorurteile, militärischer und bürokratischer, belastet, die ihm die Freiheit des Willens und der Anschauung kürzten. Ohne die Kraft zur Synthese, die erst den Staatsmann macht; immer nur das Nächste vor dem Auge (als ob das Nächste nicht oft das Fernste unlösbar bedingte). Ohne seelischen Schwung; wenn er einen Menschen »Schwärmer« nannte, glaubte er, das Schlimmste von ihm gesagt zu haben. Mißtrauisch; und leider nicht von Eitelkeit frei, der »Ersten Hypothek auf dem Grundstück der Ehre«, nach Bismarcks Epigramm. Daß ihm, der sich für stockkonservativ hielt (und es in seiner Weltanschauung auch war), die Liberalen so laut zujubelten, nahm er für den Beweis seiner untadeligen Reine, deren Anblick selbst den Gegner entwaffne, seines besonderen Wesenswertes, vor dessen Höhe alle Parteiunterschiede verschwänden. Ein verständiger Analytiker und ein echter Bürokrat. Den verrät schon die Amtsstubensprache seiner Reden und Erlasse. Le style c'est l'homme même, sagt Buffon. Auf die Bürokratie ließ er drum auch nichts kommen; die hatte ihm auf papiernen Brücken aus jeder Fährnis geholfen. Das bismärckische Naturburschentum, das in dem Geheimrat an sich von vornherein den Erzfeind sah, war ihm zuwider wie Faustens Famulus das Tanzen, Fiedeln, Kegelschieben der rohen Menge. Das alles ließ sich verzeihen; auch, daß er sich oft widersprach, Holzwege beschritt, unhaltbare Behauptungen aufstellte. Vierzig Jahre Truppendienst; und nun die Aufgabe, der willfährige Diener plötzlich wechselnder Wünsche zu sein: das konnte von schlimmeren Vergehen entschulden.

Sein aber war die Schuld, daß der Kanzlerposten im Deutschen Reich entwertet ist; nur sein. Er hat das Beispiel gegeben, den »erhabenen jungen Monarchen« als den Allumfasser, den Allerhalter ins hellste Rampenlicht zu stellen und auch das Ausland in die Vorstellung zu gewöhnen, daß für die Politik des Deutschen Reiches dem ernsthaft prüfenden Sinn nur der Kaiser verantwortlich ist. Und den Hagestolzen konnte doch schon die Schachspielregel lehren, daß man den König solange wie irgend möglich decken soll. Der Reichskanzler soll kein gehorsamer Verwaltungsbeamter sein, sondern der Mann, dessen Hirn aus der Summe des Möglichen das Notwendige zu errechnen und die Kräfte der Nation zur nützlichen Tat zu sammeln vermag; ohne dessen Beistand der Kaiser keinen Schritt aus dem Höfischen ins Politische tun kann; der den ersten Bundesfürsten berät, nicht von ihm Weisung und Rat empfängt. Georg Leo von Caprivi wollte ein treuer Diener seines Herrn sein. Er folgte, wie militärischem Kommando, dem Ruf ins Kanzleramt, war und blieb bereit, auf Befehl zu marschieren und Halt zu machen, nahm das Odium eines Kampfes auf sich, in dem der lebende oder spätestens der tote Gegner ihn besiegen mußte, und ahnte seine Niederlage noch nicht, als die Straße Unter den Linden schon vom Triumphgeschrei widerhallte. Dann mußte er gehen. Mußte; ohne die Ursache des Abschieds auch nur zu ahnen. Ein kinderloser, von der aura popularis nicht mehr schmeichelnd umwehter Mann, für dessen Lendenkraft kein fortwirkender Gedanke zeugt.

Sein Name ist fast vergessen; seine Schuld hat des Reiches Unheil gezeugt. Im Entwurf zur Verfassung des Norddeutschen Bundes war der Kanzler ein Präsidialgesandter im Sinn der Bundestagszeit; zum Präsidialminister wurde er erst durch den achtzehnten Artikel der Reichsverfassung, den die Reichstagsmehrheit gegen den Wunsch des preußischen Ministerpräsidenten durchsetzte. Der Staatsrechtslehrer Max von Seydel hat darüber gesagt: »An die Stelle eines untergebenen preußischen Beamten mit wesentlich formalen Obliegenheiten trat ein leitender Staatsmann mit der Doppeleigenschaft eines Bundesratsvorsitzenden und Präsidialministers.« Erst dieser Beschluß zwang Bismarck, selbst Kanzler zu werden. Das neue Amt verglich er im April 1869 der Stellung eines englischen Ministerpräsidenten, dessen Macht ausreichte, »um die nötige Einheit der Leitung herzustellen«. Drei Jahre danach, als über die Herabsetzung der Salzsteuer verhandelt wurde, sagte er: »Ich bin der einzige, dem die Verfassung für die Ausführung der Gesetzes und der Verfassung eine Verantwortlichkeit auferlegt. Ich komme also in die Lage, ein Gesetz, das der Kaiser vollzieht kontrasignieren zu müssen, und ich muß mich in einem solchen Fall fragen, ob ich, nach meiner Verantwortlichkeit für den Bestand und die Fortentwicklung des Reiches, in der Lage bin, eine solche Kontrasignatur zu leisten.« Zwei Jahrzehnte lang hat er sich dieses Bewußtsein ungeteilter, unteilbarer Verantwortlichkeit bewahrt. Noch in dem »Entlassungsgesuch«, das er, auf zweimal an einem Tag ausgesprochenen Befehl, am 18. März 1890 einreichte, stehen die Sätze: »Eure Majestät geruhten, bei meinem ehrfurchtvollen Vortrag vom 15. März mir bezüglich der Ausdehnung meiner dienstlichen Berechtigung Grenzen zu ziehen, welche mir nicht das Maß der Beteiligung an den Staatsgeschäften, der Übersicht über letztere und der freien Bewegung in meinen ministeriellen Entschließungen und in meinem Verkehr mit dem Reichstag und seinen Mitgliedern lassen, deren ich zur Übernahme der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeit für meine amtliche Tätigkeit bedarf. Nach den jüngsten Entscheidungen Eurer Majestät über die Richtung unserer auswärtigen Politik, wie sie in dem Allerhöchsten Handschreiben zusammengefaßt sind, mit dem Eure Majestät die Berichte des Konsuls in Kiew gestern begleiteten, würde ich in der Unmöglichkeit sein, die Ausführung der darin vorgeschriebenen Anordnungen bezüglich der auswärtigen Politik zu übernehmen. Ich würde damit alle für das Deutsche Reich wichtigen Erfolge in Frage stellen, welche unsere auswärtige Politik seit Jahrzehnten im Sinn der beiden hochseligen Vorgänger Eurer Majestät in unseren Beziehungen zu Rußland unter ungünstigsten Verhältnissen erlangt hat. Nach gewissenhafter Erwägung der Allerhöchsten Intentionen, zu deren Ausführung ich bereit sein müßte, wenn ich im Dienst bliebe, kann ich nicht anders, als Eure Majestät alleruntertänigst bitten, mich aus dem Amte des Reichskanzlers, des Ministerpräsidenten und des preußischen Ministers der Auswärtigen Angelegenheiten in Gnade und mit der gesetzlichen Pension entlassen zu wollen. Ich würde die Bitte um Entlassung aus meinen Ämtern schon vor Jahr und Tag Eurer Majestät unterbreitet haben, wenn ich nicht den Eindruck gehabt hätte, daß es Eurer Majestät erwünscht wäre, die Erfahrungen und die Fähigkeiten eines treuen Dieners Ihrer Vorfahren zu benutzen. Nachdem ich sicher bin, daß Eure Majestät derselben nicht bedürfen, darf ich aus dem politischen Leben zurücktreten, ohne zu befürchten, daß mein Entschluß von der öffentlichen Meinung als unzeitig verurteilt wird.« Die Entlassung war »in Gnade« beschlossen, ehe der Fürst das Gesuch ins graue Kaiserhaus gesandt hatte.

Ich kann nicht anders: unwillkürlich (er hat mir's bestätigt) drängte in dieser großen Stunde dem Mann sich das Wort der Lutherlegende in die Feder. Hat der Kaiser es seitdem gehört? Vom Grafen Zedlitz, von Walther Bronsart von Schellendorff; nie wieder von einem Kanzler. Caprivis Beispiel hat sie Ordre parieren gelehrt. Der General muß das »Entlassungsgesuch« (eins in Anführungsstrichen nannte es Bismarck immer) gekannt, müßte die Einsicht in dieses geschichtliche Dokument gefordert haben, bevor er sich endgültig zur Nachfolge entschloß. Hätte der zur Leitung eines Bergwerkes, einer Chemikalienfabrik, einer Bank Ausersehene nicht gezaudert? Der Vorgänger, der auf seinem eigensten Gebiete dreißig Jahre lang stets richtig gerechnet hat, warnt vor neuen Wegen einer Geschäftspolitik, die den größten Teil des mühsam Errungenen aufs Spiel setzen müsse, und heischt zu der alten ungeschmälerten Verantwortlichkeit den alten, ungeschmälerten Machtbezirk. Der wird ihm geweigert. Von einem jungen Herrn, den der Tod des Vaters früh zum reichen Erben gemacht hat und der auf seinem hohen Sitz in so kurzer Frist Erfahrungen noch nicht zu sammeln vermochte. Der Junge will nach links abbiegen, der Alte rechts vorwärtsgehen. Der Junge langt nach weiter reichender Herrschgewalt, der Alte erklärt, nur in den bisher ihm gewährten Machtgrenzen sei nützliche Arbeit zu leisten. Würde der zur Nachfolge Erwählte nicht zaudern? Nicht gewissenhaft prüfen, ob er ein Geschäft übernehmen dürfe, das der Sachverständige als unausführbar abgelehnt hat? Das nur der Jugendillusion eines Unerfahrenen möglich scheint? Caprivi zauderte nicht, prüfte nicht. Schlug die Mahnung, die wie Orgelton aus jedem Worte des Scheidenden dröhnte, skrupellos in den Wind. Fragte nicht einmal: Wie liegen denn die Geschäfte? Bat nicht, den Gegenstand des letzten Zwistes ihn genau sehen zu lassen, im Interesse des großen Ganzen ihn in das Hauptarbeitgebiet einzuführen. Verließ sich auf den erhabenen jungen Herrn, der keines Rates bedürfe, und war zur Ausführung jeder »Allerhöchsten Intention« in demütiger Dienertreue bereit. So ist's geblieben; auch als der Kanzler nicht mehr im Waffenrock des preußischen Offiziers vor den Reichstag trat. In Straßburg spöttelte Chlodwig Hohenlohe vor den Puttkamers und anderen Intimen über Herrn Ernst Matthias von Köller, dessen ostelbische Junkermanier ihm auf die Nerven falle. Folgte gehorsam aber dem Ruf seines Kaisers: »Köller mitbringen!« Trotzdem der Unterstaatssekretär nun Minister des Innern wurde, aus dem Schatten ins Licht treten sollte. War der Kreuzzug nach China Chlodwigs Wunsch? Hauste er gern mit dem Freiherrn von Marschall, über den er mit solchem Behagen den Freunden die bittersten Glossen aus der »Zukunft« vorgelesen hatte? Kürte er Herrn Bernhard von Bülow zum Helfer und Erben? In Ängsten fuhr Frau von Bülow damals nach Wien und beschwor den Botschafter und Skalden Philipp Eulenburg, den geliebten Mann in Rom zu lassen, wo er sich wohlfühle. Den Mut, offen sich, auf eigene Gefahr, dem Ruf zu versagen, brachte der im Palazzo Caffarelli Gebietende nicht auf. Noch gar später die Kraft, ein im Sinn des »großen Vorgängers« regierender Kanzler zu sein. »Sie ahnen nicht, wieviel ich noch verhindere«: Das war längst die Losung. Die stets offene Ohren und willigen Glauben findet. Der arme Kanzler, heißt's, muß in minder wichtigen Fragen zehnmal nachgeben, um da, wo die kaiserliche Initiative gefährlich zu werden droht, einmal seinen Willen durchsetzen zu können. Welcher Deutsche hätte vor den trüben Tagen des Caprivismus an solchen Versuch der Entschuldigung gedacht? Die Botschafter und ihre Gehilfen lächeln, wenn von unseren Offiziösen bestritten wird, der Deutsche Kaiser habe dies oder jenes gesagt oder getan. Wissen die Bülow und Tschirschky denn immer, was er sagt, sinnt und tut? Was er mit Franz Joseph besprochen und der Fürstin Metternich anvertraut hat? Ob aus Kiel, Hamburg oder einer Fjordstadt Nikolai nicht eine lange Depesche, Herr von Schoen eine Weisung erhielt, die dem Nachbarverhältnis der beiden Kaiserreiche neuen Inhalt gibt? Offiziöse glauben, ihrem Herrn mit der Beteuerung zu dienen, er sei von einer politischen Handlung des Kaisers ahnungslos überrascht worden.

Der Platz, der nach der Verfassung dem Kanzler gebührt, ist leer; und ehe er nicht wieder würdig besetzt ist, kehrt dem Reich das Glück nicht zurück. Kann's nicht zurückkehren. Daß der calculus des Kaisers fast immer auf der falschen Stelle lag, möchte noch hingehen. Wilhelms in die Weite strebendes Planen ist nirgends ans Ziel gelangt. Er hat Frankreich nicht versöhnt, den Islam nicht gewonnen, weder in Rußland noch in Ostasien Liebe geerntet, trotz allen Geschenken, Artigkeiten und Milliardärbesuchen in den Vereinigten Staaten nicht die erhoffte Neigung zu einem Schutzbündnis gegen England gefunden; nicht einmal das Vertrauen der Holländer zu stärken und den Dreibund zu erhalten vermocht. Wie sein Ahn, das einzige politische Genie des Zollernhauses, könnte auch er, nur mit schwerer belastetem Herzen, heute über die Zeit klagen: »ou l'on est bien revenu de la terreur de nos armes, ou l'on pousse la témérité jusqu' à nous mépriser.« Auch Hohenzollern sind sterbliche Menschen und dem Irrtum untertan. Doch selbst ein mit politischem Talent und sicherem Augenmaß begabter Monarch könnte in unseren Tagen nicht die Geschäfte eines großen Reiches führen. Nicht, wenn er an der Spitze zu sehen wäre. Eduard tut viel (manche Briten meinen: zu viel) und hat sein soigniertes Fetthändchen in jedem Spiel, das um hohen Einsatz geht. Sieht man ihn aber? Ist seines Wirkens Spur aus der Ferne genau zu erkennen? Britannien wollte ein schwaches Russenreich: Japan erfüllte den Wunsch. Wollte in Asien gegen Amerika, Rußland und Deutschland, in Afrika gegen deutsche Konkurrenz, in Europa gegen eine Festlandskoalition gesichert sein: Bündnis mit Japan, Freundschaft mit China, Vorstoß nach Tibet; Begünstigung der Hereros und Hottentotten, schlaue Ausbeutung der Kameruner, Windhuker, Berliner Kolonialskandale, Cromers kluge Diktatur in Ägypten, Abkommen über Tripolis, Marokko, Abessinien, Einschüchterung des Osmanenkhalifen; entente cordiale mit Frankreich, Italien, Spanien, Portugal; auf Norwegens Thron ein Däne, der von England die Frau und die Krone empfing; der Sultan am Persischen Golf so ohnmächtig wie am Sinai. Rußland? Sobald es mürb genug ist, laden wir's in unseren Konzern, der das deutsche Land wie ein Gurt umschnürt, helfen ihm auch wohl mit Bargeld aus der Klemme. Einstweilen schüren wir die Feuer, deren Glut ihm den Angstschweiß aus den Poren treibt. Sagen dem Zaren: Deutschland will mit Waffengewalt intervenieren, weil es dir nicht mehr die Kraft zur Ruhestiftung zutraut. Sagen der Rebellenschar: Deutschland will eurem Tyrannen starke Büttel liefern, weil es von jeher der Hort finsterer Reaktion war und immer sein wird. Säen auf beiden Seiten so Mißtrauen wider den Nachbar und hindern durch das Alarmgeschrei Deutschland, die Gelegenheit zu vorteilhafter Annäherung zu nutzen. Zeigen auf Kongressen und bei Verbrüderungsschmäusen inzwischen, daß wir fast too full of the milk of human kindness sind, und empfehlen, da wir in naher Zeit nicht viel stärker werden können, den Völkern der Erde, die lästige Rüstung abzulegen … So macht man Politik, nützt man wechselnde Konjunkturen aus. Der König ist hinter dem Vorhang zu ahnen; wer nach ihm stäche, träfe gewiß aber nur einen Polonius. Der König läßt sich suchen, läßt seines Willens Richtung erraten. Redet nicht, telegraphiert nicht und kann jeden Augenblick sagen: Das hat mein Minister getan, der Vertrauensmann der regierenden Mehrheit. Ist überall, wo er sich zeigt, willkommen.

Seit 1890 umlauern die Kanzler auf den Knien ihres Willens den Allerhöchsten Herrn. Was mag er wollen? Welchen Willens Ausdruck wünscht er von mir zu hören? Caprivi war ein in der Furcht des Kriegsherrn erwachsener, der Politik fremd gebliebener Soldat, Hohenlohe ein müder, des Reichsgeschäftes unkundiger Greis, Bülow ein von Fortunen allzu hitzig geküßtes Gunstkind, das, mit charmanten Gaben, überall ein guter Zweiter werden konnte, nirgends ein Erster. Ein strammer General, zwei schmiegsame Diplomaten, die ein Staatsmann zu nützlichem Agentendienst verwenden konnte. Alle drei dachten mehr an Applaus als an fortwährende Wirkung; wollten sich auf der Höhe halten und ihrer Person Anerkennung werben, nicht den vorbedachten Plan eines Schöpferhirnes durchsetzen. Wollten sich, nicht eine Sache. Alle drei stöhnten vor den Gästen über die Gefahr kaiserlicher Initiative und keiner wagte Kopf und Kragen an den Versuch, sie zu mindern. Was kommen mußte, kam. Schneller als in Fritzens Preußen nach 1786 führte diesmal der Schlängelpfad bergab; schneller noch als in den dunklen Tagen, da Friedrich Wilhelm der Vierte die Hoffnung enttäuschte. Das Unglück dieser Zeit hat Treitschke in die Worte gefaßt: »Die ruhige Würde des Vaters erweckt Vertrauen, die bewegliche Geschäftigkeit des Sohnes Zweifel und Argwohn.« Damals gab es kein Deutsches Reich, hatte der Preußenstaat noch keine Verfassung. Temperament und Neigungen eines deutschen Kaisers würde die Neugier vergebens umspähen, wenn wachsamer vor ihm der Kanzler stünde, der für den Platz gedacht ward. Dann würde der Kaiser nicht täglich genannt, aber auch nicht für das Mißgeschick des Reiches verantwortlich gemacht. Doch Bismarck hat, seit Caprivi das böse Beispiel gehorsamer Handlangerleistung gab, keinen Nachfolger gefunden.


 << zurück weiter >>