Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Bethmann

Was Eure Majestät stets gefürchtet und vermieden, was alle Einsichtigen voraussahen: daß ein ernstliches Zerwürfnis mit Österreich von Frankreich benutzt werden würde, um sich auf Kosten Deutschlands zu vergrößern, liegt jetzt in Louis Napoleons ausgesprochenem Programm vor aller Augen. Die ganzen Rheinlande für die Herzogtümer: Das wäre für ihn kein schlechter Tausch, denn mit den früher beanspruchten petites rectifications des frontières wird er sich gewiß nicht begnügen. Und er ist der allmächtige Gebieter in Europa! Gegen den Urheber unserer Politik hege ich keine feindliche Gesinnung. Ich erinnere mich gern, daß ich 1848 Hand in Hand mit ihm ging, um den König zu stärken. Im März 1862 riet ich Eurer Majestät, einen Steuermann von konservativen Antezedentien zu wählen, der Ehrgeiz, Kühnheit und Geschick genug besitze, um das Staatsschiff aus den Klippen, in die es geraten, herauszuführen, und ich würde Herrn von Bismarck genannt haben, hätte ich geglaubt, daß er mit jenen Eigenschaften die Besonnenheit und Folgerichtigkeit des Denkens und Handelns verbände, deren Mangel der Jugend kaum verziehen würde, bei einem Mann aber für den Staat, den er führt, lebensgefährlich ist. In der Tat war des Grafen Bismarck Tun von Anfang an voll von Widersprüchen. Von jeher ein entschiedener Vertreter der russisch-französischen Alliance, knüpfte er an die im preußischen Interesse Rußland zu leistende Hilfe gegen den polnischen Aufstand politische Projekte, die ihm beide Staaten entfremden mußten. Als ihm 1863 mit dem Tode des Königs von Dänemark eine Aufgabe in den Schoß fiel, wie sie nur je einem Staatsmann zuteil geworden, verschmähte er es, Preußen an die Spitze der einmütigen Erhebung Deutschlands zu stellen, dessen Einigung unter Preußens Führung sein Ziel war, verband sich vielmehr mit Österreich, dem prinzipiellen Gegner dieses Planes, um später sich dann mit ihm unversöhnlich zu verfeinden. Den Prinzen von Augustenburg, dem Eure Majestät wohlwollten und von dem damals alles zu erhalten war, mißhandelte er, um ihn bald darauf durch den Grafen Bernstorff auf der Londoner Konferenz für den Berechtigten erklären zu lassen. Dann verpflichtet er Preußen im Wiener Frieden, nur im Einverständnis mit Österreich definitiv über die befreiten Herzogtümer zu disponieren, und läßt in ihnen Einrichtungen treffen, welche die beabsichtigte ›Annexion‹ deutlich verkündigen. Viele betrachten diese und ähnliche Maßregeln, die stets, weil in sich widersprechend, in das Gegenteil des Bezweckten umschlugen, als Fehler der Unbesonnenheit. Anderen erscheinen sie als Schritte eines Mannes, der auf Abenteuer ausgeht, alles durcheinander wirft und es darauf ankommen läßt, was ihm zur Beute wird, oder eines Spielers, der nach jedem Verlust höher pointiert und endlich Va banque sagt. Dieses alles ist schlimm; aber noch schlimmer in meinen Augen, daß Graf Bismarck sich in dieser Handlungsweise mit der Gesinnung und den Zielen seines Königs in Widerspruch setzte und sein größtes Geschick darin bewies, daß er ihn Schritt vor Schritt dem entgegengesetzten Ziel näherführte, bis die Umkehr unmöglich schien, während es nach meinem Dafürhalten die erste Pflicht eines Ministers ist, seinen Fürsten treu zu beraten, ihm die Mittel zur Ausführung seiner Absichten darzureichen und vor allem dessen Bild vor der Welt rein zu erhalten. Eurer Majestät gerader, gerechter und ritterlicher Sinn ist weltbekannt und hat Allerhöchstdemselben das allgemeine Vertrauen, die allgemeine Verehrung zugewendet. Graf Bismarck aber hat es dahin gebracht, daß Eurer Majestät edelste Worte dem eigenen Land gegenüber, weil nicht geglaubt, wirkungslos verhallen und daß jede Verständigung mit anderen Mächten unmöglich geworden, weil die erste Vorbedingung, das Vertrauen, durch eine ränkevolle Politik zerstört worden ist. Noch ist kein Schuß gefallen, noch ist Verständigung unter einer Bedingung möglich. Nicht die Kriegsrüstungen sind einzustellen, vielmehr, wenn es nötig ist, zu verdoppeln, um Gegnern, die unsere Vernichtung wollen, siegreich entgegenzutreten oder mit vollen Ehren aus dem verwickelten Handel herauszukommen. Aber jede Verständigung ist unmöglich, solange an Eurer Majestät Seite der Mann steht und Ihr entschiedenes Vertrauen besitzt, der dieses Vertrauen Eurer Majestät bei allen Mächten geraubt hat.«

Diesen Brief empfing König Wilhelm nicht, wie der Schreiber gehofft hatte, noch in Babelsberg, sondern erst in Nikolsburg; nach dem Julitag, der seinem Heer bei Königgrätz den mit einem Schlag entscheidenden Sieg beschert hatte. Die Antwort begann mit dem Satz: »In Nikolsburg eröffnete ich erst Ihren Brief und Ort und Datum der Antwort wären Antwort genug.« Der Zuträger hieß Moritz August von Bethmann-Hollweg; war Professor, dann, bis ins Frühjahr 1862, preußischer Kultusminister gewesen und schrieb, während er sich zum Zensor des Ministerpräsidenten berufen wähnte, ein Buch über den »Zivilprozeß des gemeinen Rechtes in geschichtlicher Entwicklung«. Die Warnerepistel lag noch, der Nation unbekannt, im Archiv des Hauses Hohenzollern, als Graf Anton von Prokesch-Osten, der Österreichs Präsidialgesandter beim Bundestag gewesen war und in Frankfurt mit dem Kollegen Bismarck in steter, auch gesellschaftlich fühlbarer Fehde gelebt hatte, schrieb: »Für Herrn von Bismarck, der durch und durch nur Preuße ist, existierte kein anderer Standpunkt als der des preußischen Interesses. Er würde, wenn ein Engel vom Himmel herabgestiegen wäre, ihn ohne preußische Kokarde nicht eingelassen, dagegen dem Satan selbst (zwar mit Verachtung, aber doch) die Hand gereicht haben, wenn dieser dem preußischen Staat ein deutsches Dorf zugeschanzt hätte. Klar wie Macchiavell, war er zu gewandt und zu glatt, um irgendein Mittel zu verschmähen; und man muß ihm zugestehen, daß ihm Halbheit nach jeder Richtung fern lag und daß er jedesmal die ganze, wohlgeordnete Phalanx seiner Mittel ins Feld zu führen verstand. Der Beruf Preußens überwältigte ihn so, daß er selbst mit mir die Unerläßlichkeit der Einheit Deutschlands unter Preußen mehrmals besprach. Mir ist überhaupt kaum ein Mann vorgekommen, so abgeschlossen in seinen Überzeugungen, so bewußt seines Wollens und Sollens. Er war der Mann für den Umguß Deutschlands in die neue Form.« So urteilte ein feindlicher Politiker; aus dem Mund Bethmanns, der sich wohlwollender Objektivität rühmte, hatte ein unpolitischer Geist gesprochen, der nie begriff, um was es sich eigentlich handle, das Wesen der Politik nie auch nur ahnen lernte und schließlich, als ein braver Mann, sich in die unwürdige Rolle des schmeichelnden Klugschwätzers erniederte, um den zaudernden König von dem kühnen Minister zu trennen. Wer den Magisterbrief gelesen hat, kann empfinden, weshalb Bismarcks Groll so oft in harte Worte über Bethmanns kleines Herz, über die Bethmänner und ihre Streberfraktion ausbrach. Und man muß den Brief des Großvaters jetzt lesen, um die Ursache der Enttäuschung zu erfassen, die der Enkel den Deutschen bereitet hat: Herr Theobald von Bethmann-Hollweg. Im Verlauf eines einzigen Jahrzehntes haben wir ihn als Oberpräsidenten von Brandenburg, als Minister des Innern, als Staatssekretär, Ministerpräsidenten, Reichskanzler gesehen. Auf keinem der Posten, die ihm vom Oktober 1899 bis in den August 1909 anvertraut waren, ist er lange genug geblieben, um seine Leistungsfähigkeit erweisen zu können. Noch im Februar habe ich deshalb denen, die ihn rauh schalten und roh schimpften, zugerufen: »Lasset ihm wenigstens doch die Zeit, die zu dem Beweis nötig ist, daß er nichts kann!« Der ist nun erbracht. Herr von Bethmann hat diese Zeit nicht verloren. Mit schmerzhaft geschwinder Deutlichkeit ward der Beweis erbracht, daß dieser redliche, fleißige Mann in den Ämtern des Ministerpräsidenten und Kanzlers unmöglich ist.

Ein reines, edles, höchst moralisches Wesen, ohne die sinnliche Stärke, die den Helden macht, geht unter einer Last zugrunde, die es weder tragen noch abwerfen kann; jede Pflicht ist ihm heilig, diese zu schwer. Das Unmögliche wird von ihm gefordert; nicht das Unmögliche an sich, sondern das, was ihm unmöglich ist. Wie er sich windet, dreht, ängstigt, immer erinnert wird, sich immer erinnert und zuletzt fast seinen Zweck aus dem Sinn verliert, ohne jemals wieder froh zu werden!« Dieses Urteil, das, in Serlos Kreis, Wilhelm Meister über Hamlet spricht, schien dem Wohlwollenden auf Herrn von Bethmann zu passen. Ein Mann, der (darüber sind alle längst einig) auf so hohe Posten nicht taugt und sich irrend vermaß, als er sich zu solchen Gipfeln heben ließ. Doch eine, in ihrer edlen Reinheit, fast tragisch stimmende Gestalt. Er soll Kanzler sein; und kann's nicht einmal scheinen. Windet, dreht, ängstet sich; meint, Politik aus den Akten lernen zu können; bietet, wo von ihm die Blutfarbe der Entschließung gefordert wird, die Bedenken bleichsüchtiger Ethik; blickt aus vergrämten Augen auf eine Welt, gegen die er sich am Liebsten absperren möchte, weil sie »ihn nicht versteht«. Einer, der im ersten Herbst des Amtslebens schon seinen Zweck aus dem Sinn verlor, der Unzulänglichkeit seines Vermögens bewußt ward und nie wieder froh werden kann. Den aber, in seiner ratlos, doch redlich eifernden Schwachheit, jeder nicht vom Vorurteil Geblendete mitleidig achten muß. Zwar zeugten einzelne Symptome gegen diese Auffassung. Mit feierlicher Umständlichkeit ließ der fünfte Kanzler nachweisen, daß er nicht von Juden abstamme; daß seine beiden ererbten Namen nicht, wie alle anderen im Bereich deutscher Sprache, durch Bindestriche zu verknüpfen seien, die zwei Familienfronten doch erst in eine sichtbare Einheit zwingen; und zankte, weil er sich von Zeitungszeichnern unähnlich, ungünstig dargestellt fand. Kleine Schwächen, dachte man; begreiflich an einem, der für so steile Höhen nicht geboren ward und im grellen Licht nun, so nah der Sonne, unruhig blinzelt. Die Schulgenossen nannten ihn, der mit Musterleistungen in Latein und Griechisch den Großvater freute, die Gouvernante, die Abgeordneten den Oberlehrer oder Austauschprofessor. Leis leckte, wie eine verbrandende Welle, der Menschenwunsch, im Wesen des Nächsten das Lächerlichste zu entblößen, an der Gestalt, die so steif immer, unbeholfen und unbehilflich, vor dem Auge stand. Der, hieß es, schickt sich gewiß nur in ein Handeln von unanzweifelbarer Sauberkeit; hat sogar, weil's ihn nicht anständig dünkt, abgelehnt eine Partei oder Fraktion zu prellen, je einer zu versprechen, daß er, wenn sie ihm morgen gefällig sei, übermorgen ihre Wünsche erfüllen werde. Einen fleißigen, ernsthaften, gescheiten Patrioten von bestem Wollen und ohne Applausgier habe ich ihn genannt, als Steine und Schmutzklümpchen um sein graues Haupt prasselten; einen, der in stiller Arbeit Nützliches wirken und sein Geschäft mit reinlichen Mitteln treiben will. Das war am 19. Februar 1910. Schon am 4. Juni desselben Jahres war der Beweis seiner Unmöglichkeit als Ministerpräsident und Kanzler geliefert.

Wohin auch der Blick sich wende: dasselbe Bild. Dabei in der Regierung eine Zerfahrenheit, wie sie in Bülows schlimmster Drangzeit undenkbar gewesen wäre. Nicht eine einzige Leistung, die der Unbefangene loben könnte; nicht die dünnste Vertrauenswurzel im deutschen Erdreich. So einsam, so anhanglos war nie ein Kanzler. Überall hört der Lauscher dasselbe Urteil: Unmöglich; auch von denen, die den Anfang aus froher Hoffnung sahen.

Er bleibt; natürlich. (Die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis hätte ihm ja die Annahme so hoch seine Kraft übersteigender Ämter verboten.) Bleibt, trotzdem er außer der Erhöhung der Krondotation für den König von Preußen nichts, nicht das Allergeringste, erwirkt hat. Blickt noch unfroher als im ersten Herbst auf die deutsche Welt; beschuldigt alle mit seiner Amtsführung Unzufriedenen törichter Kurzsicht; klagt, wie Goethes humorlose Grete von Parma, über Unweisheit und Undankbarkeit, droht aber nicht, wie sie, die Würde hinzuwerfen. (Das dürfen in Fürstenwindeln Geborene wagen; von einem aus jungem Briefadel würde es am Ende ernst genommen.) Daß Augenmaß, Entschlußfähigkeit, Schöpferkraft nicht genügen, ist schon erwiesen; noch aber die Kontur der Gestalt unverändert. Der echte Enkel Moritz Augusts, der alles Geschehen und Wollen durch die Dozentenbrille sah. Ein unpolitischer Geist, der nie begreift, um was es sich eigentlich handle, das Wesen der Politik nie auch nur ahnen lernt; und nicht einmal im engsten Bezirk die Wirkung seines Handelns zu ermessen vermag. Ein Frommer, der gar zu gern die Allüre des modernen, völlig aufgeklärten, von Standesstolz freien Mannes zeigen möchte. Noch immer von so pedantischer Ehrbarkeit wie in den Maitagen der oberbarnimer Landratszeit, da ein Ministerialerlaß ihm den Ausruf entriß: »Ich bin doch kein Wahlagent!« Die sittsam, in rührender Unbeholfenheit, alternde Gouvernante, der Gallensäure ins Blut gedrungen ist und die Haut und die Laune gelbbräunlich gefärbt hat. Jahre lang hat virtuose Rednerei und Technik die Schwachheit deutscher Staatsmannschaft so schlau verhüllt, daß nur der schärfste Blick Niederlage und Rückzüge merkte. Jetzt werden die Fehler mit so biederer Miene gemacht, mit so gemütvoller Aufrichtigkeit vors Auge gerückt, daß der Stumpfste sie spürt; und jeder politisch Empfindende vor dem Tag bangt, der den für die Lebensleistung eines wohlhabenden Privatdozenten Geschaffenen vor die Notwendigkeit schneller und bedeutender Entscheidung stellen könnte.

Unbegreiflich, daß gerade diesen Bülow mit solchem Eifer empfahl, mit seinem Wesen sonst fremder Beharrlichkeit gegen andere Kandidaten vertrat. Wollte er einen Nachfolger, dessen Unfähigkeit einen dem Vorgänger günstigen Vergleich erzwang? Einen, der am Blockhaus mitgebaut hat und über die Schwachheit des Bauleiters, über die Spur läßlicher Sünde, wenn es nötig wird, den Mantel verzeihender Liebe spreitet? Oder hat er bei der Qualifikation (»Ein ruhiger Mann, nicht ungeschickt und dem Kaiser in tiefster, kritikloser Bewunderung ergeben«) nur eben ganz menschlich geirrt und den Rat, den er gab, vielleicht längst bereuen gelernt?

Wahrscheinlicher ist, daß er sich, gerade jetzt sagt: »Mein Rat war gut; der beste, den einer geben konnte. Ich empfahl den in den Rahmen unabänderlich gewordener Verhältnisse passenden Mann. Glanzlos: so sollte er sein. Gehorsam: so wird er von Tag zu Tag sich mehr bewähren. Er hat die hohe Zivilliste erlangt, die Königsberger Rede (vom Instrument des Herrn), ohne den winzigsten Vorbehalt, verteidigt, die für das Reichsland und für die Ostmark ausgesprochenen Wünsche erfüllt, das Zentrum versöhnt, die Kontingentierung der Seemacht den Engländern geweigert, früh und spät die Friedensflagge gehißt und, auf allen Gebieten, den Zustand wiederhergestellt, der vom April 1890 bis in den November 1908 die Formen und das Schicksal deutschen Nationallebens bestimmte. Einer von anderem Schlag wäre nicht möglich gewesen. Im Parlament? Das kenne ich gut genug, um zu wissen, daß es mit jedem zufrieden ist, der ihm nicht überlegen scheint, und nur schwierig wird, wenn es sich durch Willenskraft und Schöpfervermögen geniert fühlt. Da ist nichts Ernstes zu fürchten. Die Zeit wird lehren, wie richtig mein Rat war.« Sie hat es schon gelehrt.

Unter dem Wonnemond dieses Jahres müssen wir endlich erkennen: Wir haben uns, Angreifer und Verteidiger, vom Wesen des fünften Kanzlers ein völlig falsches Bild gemacht. Daß dieser fromme Altliberale ungeschickt sei und als Märtyrer weltfremder Überzeugung enden müsse, kann heute kein Scharfsichtiger noch glauben. Der ernste, für ruhige häusliche Freuden geschaffene Mann, dessen Gaben und Gesinnungen das Glück eines redlichen Bürgers sichern würden, der mit all seinen Orden und Bändern, Titeln und Generalsabzeichen aber, auf ellenhohen Socken noch, klein bleibt, hat sich zu einer Pfiffigkeit erzogen, die der Caprivis aufs Haar ähnelt. Im Streit um die preußische Wahlreform hat er sich schwach gezeigt und mit demütigendem Verzicht auf feierlich vorgetragene Grundsätze nicht einmal einen Erfolg eingehandelt; doch er stand, unsicher, zwischen einem königlichen Versprechen und seiner eigenen Rede, die, als Überzeugung des Ministers des Innern, ausgesprochen hatte, daß Preußens Wahlrecht für die nächsten Jahre unverändert bleiben müsse. Als es um die Verfassung von Elsaß-Lothringen ging, band ihn kein Monarchenversprechen; saß er nicht in der Schlinge eines seinem Mund entschlüpften Wortes. Er war vor dem Entschluß frei und hatte einer Frage, die in den gefährlichsten Bezirk internationaler Politik hineinreicht, die Antwort zu finden. Schritt vor Schritt ist er zurückgewichen; noch als, nach seiner Meinung, »die Grenze dessen erreicht war, was den Reichslanden zur Zeit konzediert werden kann.« Bundesstaat, Vollmacht zum Bundesrat, allgemeines Wahlrecht ohne Pluralstimmen: das (und manches andere) hat er zuerst geweigert und zuletzt gewährt. Von blasser Lippe tröpfelte ihm, in der letzten Stunde, mühsam erkünstelter Spott über die Leute, die jeden ihrem Trachten unnützlichen Kompromiß mit gerunzelter Stirn rügen. Für einen Humorlosen war es alles mögliche. Hier aber hat es sich um eine Lebensfrage des Deutschen Reiches, um den Sitz seiner reizbarsten Schwäche gehandelt. Wer hier nicht vor dem ersten Schritt genau weiß, wie weit er gehen will, wer sich über die allen Blicken entschleierte Grenze seines Wollens hinausdrängen läßt und das gestern als unannehmbar Abgelehnte heute, mit dankbar devotem Lächeln, annimmt, der hat, all in seiner menschlichen Rechtschaffenheit, die Achtung verscherzt, ohne die ein Kanzler nicht wirken kann. Nur an einer Stelle ist Theobaldur standhaft geblieben: die Kaisergewalt, die Hausmacht des Königs von Preußen hat er gestärkt; alles heimgebracht, was Wilhelm sich wünschte.

Im Haus der von Preußen Abgeordneten hatte Herr von Bethmann gesagt, »der tiefste Zug deutschen Wesens« fordere die Ungleichheit des politischen Rechtes, dessen Gleichheit »dem Reichtum und der Innerlichkeit deutscher Kultur« unvereinbar sei. Und selbst in den Gegnern wohnte noch das Gefühl, daß dieser Mann glaube, was er sage, und nur sage, was er glaube. Heute muß selbst der Freund fragen, was dieser Ministerpräsident und Kanzler in seines Herzens Grund eigentlich glaube. Geheime Wahl: unannehmbar; er nimmt sie an. Indirekte Wahl: unannehmbar; er nimmt sie an. Gleiches Wahlrecht: deutscher Kultur, dem tiefsten Zug deutschen Wesens unvereinbar; er gibt es den Elsässern und Lothringen. Denen durfte er jeden Wunsch erfüllen, wenn sie dann so laut, daß man es in Paris hörte, riefen: »Wir sind zufrieden; fühlen uns im Reichsverband behaglich.« Jetzt sind sie so unzufrieden, daß sie dem Zentrum gar, dem klügsten Tyrannen, schroff den Gehorsam kündigen. Der Kanzler hat das Feuer geschürt, das er ersticken sollte. Und er, der den Festungbewohnern, auch den dem Reich feindlichsten, das unbeschränkte Wahlrecht schenkte, würde ausgelacht, wenn er es, mit der alten, zerfetzten Begründung den Preußen noch weigerte.

Caprivis rettende Tat ist, nach dreizehnjährigem, bis in unsere Tage fortwirkendem Kampf, aus dem Buch deutscher Geschichte gestrichen worden. Was Herr von Bethmann zerstört hat, ersteht nicht so leicht aus den Trümmern. Aber er hat den Nachweis seiner Geschicklichkeit erbracht. Und ist fürs erste gerettet?

Ist gerichtet.


 << zurück weiter >>