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Frankfurt

Fahnen, Girlanden, Teppiche. Der Schmuck ist hier üppiger als in der Stadt der Staatspensionäre. Zwischen weißen Obelisken mit Goldstuck eine Feststraße für den Kaiser, der täglich mit Frau und Kindern aus dem Taunusschloß herüberkommt. Morgens und nachmittags hört er am Main Männerchöre, abends am Kochbrunnen Paradeopern; in Frankfurt Hegar, Brambach, Meßner, Kienzl, in Wiesbaden Weber, Boildieu, Gluck, Meyerbeer. Vierunddreißig Männergesangvereine kämpfen um eine Goldkette, den vor acht Jahren vom Kaiser gestifteten Wanderpreis. Jeder Verein darf einen selbst gewählten, muß einen sechs Wochen vorher von der Jury bestimmten Chor singen; dann folgt ein engerer Wettbewerb: die als die leistungsfähigsten erkannten Vereine müssen einen Chor vortragen, zu dessen Einübung ihnen nur eine Stunde Zeit gelassen ist. Kein Konzert also, geladenen Gästen zur Kurzweil, sondern eine Schlußprüfung, die lehren soll, welche Sängerschar nach vierjährigem Kursus schwierige Aufgaben am besten und schnellsten bewältigen kann. Neun Sachverständige sollen mit Stimmenmehrheit entscheiden. Der Kaiser sitzt als Patron, nicht als Examinator, in seiner Loge. Weil er morgens von Wiesbaden kommt und nachmittags zurückfährt, ist der wichtigste Teil der Stadt fast den ganzen Tag abgesperrt. Auf weiten Umwegen durch Seitengäßchen muß der Fremde das Ziel seiner Wünsche suchen. Wer auf den Bahnhof will, mag sich wahren: auf eine Stunde Verspätung muß er mindestens rechnen. Ausländer, die nicht daran dachten, ihren Paß mitzubringen, werden von der Polizei sanft oder unsanft ermahnt, schleunig aus dem Weichbild der Ostfrankenhauptstadt zu schwinden. Die protzt nun in Gala. Sammet und Seide, Brillanten und Perlen, stucco di lustro und buntes Licht … Ein Volksfest.

Nach dem ersten Wettsingen fuhr der Kaiser mit Familie, Gästen, Gefolge über den Paulsplatz vors neue Rathaus, »Durch jubelnde Menschenspaliere«, stand in der Zeitung. Schulkinder in Festgewanden. Die Geistlichkeit mit der Kirchenfahne. Glockengeläut. Vom Turm herab tönten Fanfaren; die Bläser als Altfrankfurter Stadtmusikanten vermummt. (Wie ziehen künftig wohl Deutschlands siegreiche Feldherren in deutsche Städte ein?) Natürlich darf auch das Rathaus sich nicht im Alltagskleid zeigen. »Der Bürgersaal war mit Gobelins und Festons reich geschmückt«. In diesem Saal spricht der Kaiser. »Spontan, ein Ausbruch herzlicher Gefühle, war der gestrige Empfang; ein Beweis dafür, wie gut es Frankfurt unter der preußischen Krone gegangen ist.« (Der König von Preußen sagts, der Gast, nicht der Wirt, das Haupt der Frankfurter Bürger.) »Noch bewegt die Brust Frankfurts ein Wunsch, dem ich gern Folge geben werde. Es ist schon lange der Wunsch, daß die Zusammengehörigkeit der Stadt mit ihrer Garnison durch ein äußeres Band auch in der Heeresgeschichte sich kennzeichnen möge. Und diesem Wunsch der Frankfurter Patrizier entgegenkommend, habe ich befohlen, daß vom heutigen Tage an das zweite hessische Artillerieregiment Nr. 63 ›Frankfurt‹ heißen soll. Nur, wer seine Geschichte pflegt, wer seine Traditionen hochhält, kann in der Welt etwas werden.« Siebenunddreißig Jahre zuvor hatte, auch an einem Junitag, die freie Stadt Frankfurt gegen Preußen für Österreich gestimmt und mit ihrem Kontingent das Bundesheer verstärkt. Mit preußischer Tradition hatte erst Vogel von Falckenstein, dann Manteuffel sie bekannt gemacht; und noch lange wurde die Pickelhaube am Main gehaßt. Und jetzt »bewegt die Brust Frankfurts der Wunsch«, einem preußischen Artillerieregiment den Stadtnamen verliehen zu sehen. Eine militärmoralische Eroberung.

Zwei Tage noch währte der Sängerkrieg. Und der Kaiser hielt aus, kam sehr oft in die Preisrichterloge und erzählte den zum Urteil Berufenen, wie die Vorträge auf ihn gewirkt hatten. »Er zeigte sich heiter, ungezwungen, humorvoll, aber sehr ablehnend.« Nach einem Meerliede der Kölner: »Nun hören Sie diese Komposition! Die Menschen singen fünfundsechzigmal ›Geschwinde‹, zweiundsiebzigmal ›Ans Land‹, – und das nennt der Komponist eine Seefahrt!« Nach einem anderen Chor: »Die Unglücksmenschen haben an jedem richtigen Ton vorbeigesungen!« Als das Programm abermals einen Chor des Bonner Komponisten Brambach ankündete: »Gott Strambach! Wieder einer von Brambach!« Nach dem von der Jury gewählten Preischor: »Sehen Sie sich doch die Menschenkinder an! Die werden ja braun und blau im Gesicht; ich habe es durch mein Glas gesehen. Die Chöre sind auch viel zu schwer. Ich werde das Komponieren im Deutschen Reich auf zehn Jahre verbieten.« Während die Potsdamer sangen: »Da singt mein Schneider mit! Passen Sie mal auf: da steht er!« Beim Vortrag eines rheinischen Vereins: »Sehen Sie mal: da singen vier Friseure und zwei Photographen mit. Das interessiert mich besonders.« Die Preisrichter lauschten andächtig solchen Scherzen; nicht minder andächtig aber auch den Männerchören. Sie sollen sich königlich über die kaiserlichen Glossen gefreut haben, die das Wettsingen begleiteten. Keiner hat geklagt. Keinem wurde die Richterruhe gestört, die Aufnahmefähigkeit geschmälert.

Die goldne Kette gib mir nicht
Die Kette gib den Rittern,
Vor deren kühnem Angesicht
Der Feinde Lanzen splittern.
Gib sie dem Kanzler, den Du hast,
Und laß ihn noch die goldne Last
Zu andern Lasten tragen.

Nicht jeder Sänger denkt goethisch, nicht jeder spricht zum König: »Das Lied, das aus der Kehle dringt, ist Lohn, der reichlich lohnet.« In Frankfurt gings jetzt um die Kette. Der Berliner Lehrergesangverein trug sie heim. Die Kölner hatten schönere Stimmen, die Berliner aber straffere Disziplin und wohl auch den tüchtigeren Dirigenten. Der Kaiser winkt, der Page lief; wirklich: bei diesem Volksfest gab es Pagen, Herolde und ähnlichen Mummenschanz. Die Frau des Kaisers verteilte mit eigener Hand die Preise; der erste ziert nun die Brust des Berliner Vereinsvorsitzenden, nicht des Dirigenten, der seiner Mannschaft den Sieg erstritt. Dann kam das Merkwürdigste. Sängermanöverkritik. Die Vereinsvorstände wurden zum Kaiser in die Loge befohlen und erhielten von ihm sehr schlechte Zensuren. Zwar habe es an Eifer und Fleiß nicht gefehlt und manches Beifall verdient, aber man habe sich allgemein zu schwere Aufgaben gestellt. Die Vereine seien sämtlich auf falschem Wege. »Der Männergesangverein soll das Volkslied pflegen.« Warum sang man nicht: »Wer hat Dich, Du schöner Wald«, »Ich hatt' einen Kameraden« oder »Es zogen drei Burschen«? »Diese Kompositionen sind außerordentlich wertvoll für die Ausbildung der Technik. Hegar und Brambach mangelt es zu sehr an Melodik. Auch komponieren die Herren Texte, die etwas lang sind. Es wird Ihnen vielleicht interessant sein, zu hören, daß fast zwei Drittel aller Vereine zu hoch eingesetzt und zum Teil um einen halben, um drei Viertel, einer sogar um fünf Viertel Ton zu hoch geschlossen haben. Deshalb haben ihnen die gewählten Aufgaben selber geschadet. Die Wahl der Chöre werde ich in Zukunft dadurch entsprechender zu gestalten versuchen, daß ich eine Sammlung veranstalten werde sämtlicher Volkslieder, die in Deutschland, Österreich und der Schweiz geschrieben, gesungen und bekannt sind. Dann werden wir in der Lage sein, aus diesem Kreis Lieder zu suchen, die wir brauchen. Wir sind hier am Rhein und nicht ein einziger Verein hat die ›Drei Burschen‹ gesungen oder ›Joachim Hans von Zieten‹ und ›Fridericus Rex‹. Wir sind hier in Frankfurt und kein einziger hat Kalliwoda gewählt. Wir haben Mendelssohn, Beethoven, Abt; von ihnen ist nichts erklungen. Hiermit ist nun wohl der modernen Komposition genug getan. Wenn Sie die einfachen, schönen Chöre, wie sie das Volkslied und die Komponisten darbieten, die ich genannt habe, singen, so werden Sie selber Freude haben und weniger Schwierigkeiten und gleichzeitig werden Sie das Publikum, das zum Teil aus Fremden besteht, besser mit unserem Volkslied bekannt machen. Sie werden mit dem Volksliede den Patriotismus stärken und damit das allgemeine Band, das alle umschließen soll. Ich erwarte von Ihnen, daß Sie möglichst meinen Ratschlägen entsprechen werden. Ich danke Ihnen« … Der Kaiser hat den »Sang an Aegir« komponiert und Militärkapellen manchmal den Takt geschlagen.

Siebzig, achtzig Männer hörten die Rügerede; sachverständige Männer, die sich monatelang für das Dreitagewerk geplagt hatten.

Keiner hat davon gesprochen. Unter siebzig, achtzig sachverständigen Männern keiner. Natürlich nur, weil niemand den Goethe, den Wagner am Schnürchen hatte, nicht etwa, weil vor dem Throngerüst der Mannesmut lahmte. Die Rezensentenzunft fand, der Kaiser habe zur Kette goldene Regeln gefügt. Die ungekrönte Sängerschar zog mit saurer Miene heimwärts und zankte sich unterwegs erst den Groll aus der Kehle. Und Allfrankfurt lieferte auch für die letzte Fahrt in den Taunus das »jubelnde Menschenspalier«. Vom Sängerplatz bis auf den Bahnhof: Hurra! Hurra! Hurra! »Spontan; ein Ausbruch herzlicher Gefühle«, wie beim Einzug; »ein Beweis, wie gut es Frankfurt unter der preußischen Krone gegangen ist«.

Zehn Tage danach erhielt in der Garnisonstadt des zweiten hessischen Artillerieregiments Nr. 63, im reichen, glücklichen Frankfurt der Sozialdemokrat dreizehntausend Stimmen mehr als irgendein anderer Wahlkandidat.

In Berlin aber ward der Lehrergesangverein, weil er seine Sache besser gemacht hatte als die vom Kaiser so hart gerüffelten Tonverderber, mit den Ehren des Triumphators empfangen. Nachts um die erste Stunde spielte eine Regimentskapelle ihm den Tannhäusermarsch. Sogar der Bürgermeister hatte sich mit Stadtschulräten auf den Bahnhof bemüht und hielt den Kömmlingen eine pompöse Rede. Auf Allerhöchsten Befehl. »Von den Zuschauern im Bahnhof und auf den Straßen wurden die Heimkehrenden mit Jubelgeschrei begrüßt. Alle Fenster waren besetzt. Man wehte den Sängern mit Tüchern zu und überall ertönten Hurrarufe.« Nachts um eins. So ziehen ins neuste Deutschland die Sieger ein. Der Lehrerverein zeigte sich dankbar und sang den Gaffern ein Volkslied … vom wackeren Kalliwoda aus Prag.


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