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Der Kampf mit dem Drachen

Der kaiserliche Kriegsherr hat den nach China ziehenden deutschen Soldaten befohlen, keinen Pardon zu geben, keine Gefangenen zu machen, jeden überwältigten Feind zu töten und, nach dem Beispiel Attilas und seiner Hunnen, in Ostasien einen tausend Jahre lang nachwirkenden Schrecken zu erregen. Und an diesen Befehl hat Wilhelm der Zweite die Worte geknüpft: »Gottes Segen möge an Eure Fahnen sich heften und dieser Krieg den Segen bringen, daß das Christentum in China seinen Einzug hält. Dafür steht Ihr mir mit Eurem Fahneneid.«

Seitdem hat der Kaiser wiederum dreimal geredet; er hat einen modernem Empfinden schwer verständlichen Glauben an Gebetswirkungen bekannt, ein paar Tausend Hamburger Arbeiter vaterlandlos und ehrlos genannt und den großen Kurfürsten gepriesen, der sich doch, wie der Königsberger Professor Prutz nachgewiesen hat, von einem Franzosenkönig in besoldete Dienstbarkeit fesseln ließ. Die vier Reden ergänzen einander; wer genötigt ist, eine davon zu betrachten, wird auch auf die anderen einen Blick werfen müssen. Und dieser unerfreulichen Nötigung darf man sich nicht entziehen. Denn die monarchische Krisis, die das ungeblendete Auge längst nahen sah, wird durch Vertuschungsversuche nicht zum Guten gewendet.

Der Kaiser hat auf seiner Hofbühne Hebbels Nibelungentrilogie gesehen. Durch dieses Dramas dritten Teil schreitet ein mächtiger heidnischer Herrscher, der sich eine Welt erobert hat und im Besitz beinah unumschränkter Gewalt edel geblieben ist. Er hat eine Christin zur Frau genommen und ihr jedes Wunsches Erfüllung zugesichert. Er ist sicher, sie wird ihm nichts Unedles ansinnen; die Christenlehre gebietet ja, den Feind selbst zu lieben. Nun fordert sie, er solle ihre (durch die Heimat auch ihm verwandte) Sippe, die Brüder und deren Mannen, in einen Hinterhalt locken und töten lassen. Sie hat seinen Eid; den muß er halten. Als von den Treuen aber der Treuste getötet ist, als der Heldenkönig auf einem Leichenfeld steht und das Amt des Richters und Rächers verwalten soll, da wird ihm die Bürde zu schwer und er legt die Last seiner Kronen auf eines Christenfürsten schneeweißes Haupt. Diesen König hat der niederdeutsche Dichter, nach dem Volksepos, Etzel genannt und durch den Namen die Erinnerung an den Hunnenherrscher geweckt, den die Geschichtschreiber Atilla, Attila und Godegisel hießen. Und diese mit den vornehmsten Wesenszügen geschmückte Heldengestalt hat auf des Deutschen Kaisers lebhafte Phantasie offenbar stark gewirkt. Er hat nicht darauf geachtet, daß dieser Etzel schnöde das Gastrecht bricht, daß er sich von dem unwahrhaftigen Christentum einer blutigen Zeit enttäuscht abwendet und daß für Hebbel die Hunnen dem Hornissenschwarm gleichen, der den Leun in den Tod quält, sondern sich gesagt: So sah der Mann aus, der als Gottes Geißel scheu angestaunt ward; so gewaltig war er, so königlich und so edel in seines Wesens tiefstem Kern.

Leider sieht der Etzel der Geschichte ganz anders aus. Er lebte nicht, wie Wilhelm meinte, vor tausend, sondern vor fünfzehnhundert Jahren und hauste mit seinen Reitern in Europa wie nach ihm kaum noch ein Dschengis Khan und Timur-Tamerlan. Doch diese Horden waren viel früher auch schon der Schrecken Ostasiens gewesen. Ihr erster Raubzug hatte die Hunnen vom Norden der Großen Mauer her in das Gebiet der Chinesen geführt, wo sie unter dem Namen der Hiong-Nu Entsetzen verbreiteten. Ihre Häuptlinge, die Tandschus, ließen die Truppen nach Herzenslust morden und brennen, besiegten den Kaiser Kao-Ti und erpreßten von dessen Nachfolgern Gold, Seide und schöne Jungfrauen als Jahrestribut. Erst der starke und schlaue Wa-Ti, der fünfte Kaiser der Han-Dynastie, vermochte das Joch der Fremdherrschaft abzuschütteln. Er überfiel, wie Gibbon erzählt, das Lager der Hunnen, »während es in Schlaf und Ausschweifung begraben war«, und zwang den Tandschu, Vasall das Boghdo-Khans von Peking zu werden, der ihn mit allen Ehren in der Hauptstadt empfing und sich von ihm huldigen ließ. Die Hunnen brachen mehr als einmal den Lehnseid, neue Kriege folgten und auf hohem Berg kündete im Reich der Mitte Jahrhunderte lang eine Siegessäule dem Wanderer, daß ein Chinesenheer siebenhundert Meilen weit ins Hunnengebiet vorgedrungen sei. Die späteren Schicksale des Reitervolkes, der Weißen und der Wolga-Hunnen, mag man in der »Histoire des Huns« Josephs de Guignes nachlesen. Attila, der sich seiner Abkunft von den Besiegern Chinas rühmte, soll einem häßlichen Kalmucken geglichen haben; er trug auf einem niedrigen, gedrungenen Rumpf einen großen, fast bartlosen Kopf mit platter Nase und pflegte, um Schrecken einzuflößen, die Schlitzaugen wild zu rollen. Die unterworfenen Fürsten und die Feldhauptleute »lauerten auf seinen Wink, zitterten bei seinem Dräuen und führten auf das erste Zeichen seines Willens ohne Zögern seine strengen Befehle aus«; sein Wohlwollen erwarben sie, wenn sie zeigten, daß ihr Auge den strahlenden Königsblick nicht ertragen könne. Im Lager des Weltherrschers sah man den üppigsten Prunk. »Das Geschirr, die Schwerter, sogar die Schuhe waren mit Gold und Edelsteinen besetzt und auf den Tafeln standen in Fülle Schüsseln, Becher und Vasen aus Gold und Silber.« Nur der Monarch selbst blieb bei der Einfachheit seiner skythischen Ahnen, aß von hölzernem Teller und verschmähte die Tafelfreuden der Schlemmer. Doch nicht alle fleischlichen Genüsse scheint er sich versagt zu haben; er schleppte einen Weiberhaufen mit und ließ sich bei der Heimkehr ins Lager von fast völlig nackten Jungfrauen, denen die reiferen Haremschönen ein Schleierspalier bilden mußten, mit Jubelhymnen begrüßen. Sein und seiner Scharen Wesen ist von Cassiodorus und Priscus bis auf Gobineau verschieden geschildert worden und es wäre kindisch, einen Hunnenkönig des fünften Jahrhunderts heute etwa am Maßstab moderner Sittlichkeit messen zu wollen. Der Mann, der ein besonderes Vergnügen darin fand, sich von der Menge Godegisel nennen zu hören, hielt sich wirklich für die Geißel eines finsteren Rachegottes. Ihm war alles erlaubt, konnte und durfte nichts heilig, nichts unantastbar sein. Als ihn der Hofmann Maximin im Auftrag des Kaisers Theodosius besuchte, vernahm er das freche Wort: »In den weiten Grenzen des Römerreiches ist keine Stadt und kein Flecken sicher, wenn es meinem Willen gefällt, sie von der Erdfläche zu vertilgen.« Jedes dem Zweck der Stunde dienende Mittel war dem Wütenden willkommen; er hat unzählige Städte zerstört, unzählige Leichen gehäuft, Versprechungen, Eide, Verträge gebrochen und Europa in den zwanzig Jahren seiner Erobererherrlichkeit furchtbare Wunden geschlagen.

Die Annahme, seine Horden hätten nie Pardon gegeben, ist falsch; wir wissen, daß er fast immer einen großen Troß Gefangener mitführte und daß in seinen Zeltlagern alle europäischen Sprachen zu hören waren.

Und ebenso falsch ist Wilhelms Glaube, Attila lebe in der Überlieferung als eine großartige Erscheinung fort. Nein: als ein blutgieriges Scheusal wird der Hunnenkönig verflucht, wurde er schon im deutschen Land verflucht, als er am Oberrhein erschien und, nach Lamprechts Wort »nicht das Imperium nur, sondern die Kultur des europäischen Westens in Frage stand und die feindlichen Völker Galliens sich einmütig zur Verteidigung des höchsten Palladiums scharten.« Und so fest wurzelt im Volksempfinden dieser Schreckensruf, daß ein Schrei der Empörung durch Deutschland ging, als während des Kulturkampfes Papst Pius IX. zu deutschen Pilgern zu sagen wagte, im Deutschen Reich hause ein neuer Attila. Der Münchener Magistrat weigerte sich, trotz dem Drängen des Erzbischofes, das Jubiläum eines Papstes zu feiern, der Deutschland so beleidigt hatte.

Wer hätte geahnt, daß dreiundzwanzig Jahre später ein Deutscher Kaiser deutschen Soldaten den König Godegisel als Vorbild empfehlen und sie auffordern würde, nach hunnischem Muster die Chinesen zu schrecken? Wer findet von dieser Empfehlung den Weg zu der Mahnung, der Galiläerlehre eingedenk zu bleiben, und zu der auf tausend Blättern von Klio widerlegten Behauptung, nur die auf den festen Boden des Christentums gebaute Kultur habe Bestand und jede heidnische Kultur müsse bei der ersten Kraftprobe erliegen? Und wer will sich darüber wundern, daß solcher Rede klirrender Ton einen Zustand banger Beklemmung schuf? Aus dem deutschen Süden drang derb und deutlich die Antwort gen Norden; und was im Ausland gegen die Etzelrede geschrieben wurde, haben die sonst so flinken Offiziösen bis heute nicht mitzuteilen gewagt.

Wie kann der Kaiser, der nur der nazarenischen Sittenlehre ein Daseinsrecht zuerkannt und, in unüberbrückbarem Gegensatze zu der Mehrheit moderner Westeuropäer, mit der Inbrunst eines mittelalterlichen Mönches an die Heilwirkung von Massengebeten zu glauben scheint, zu der Anschauung gelangt sein, die aus seinen heftigen Reden jetzt so gellend hervortönt? Madame Campan, die Prinzen erzogen hat und einen großen Teil ihres Lebens am Hof des letzten Louis von Frankreich verbrachte, hat gesagt, man müsse das Irren im Reden und Handeln der Fürsten nachsichtig beurteilen und sich bei jedem Staunen erregenden Wort immer erinnern, wie selten es diesen Einsamen oder von schmeichelnden Lügnern Umringten vergönnt sei, in den Büchern der Geschichte und in dem an Lehre reiferen Buch des Lebens die Wahrheit zu lesen. Dieser Warnung einer französischen Royalistin sollten die Deutschen nachdenken. Dem Preußenprinzen Wilhelm ward von Lehrern, die er für aufrichtig und gründlich gebildet halten mußte, gesagt, jeder seiner Ahnen sei ein frommer Held gewesen, ein Christ und ein Krieger, jeder habe in der Geistestiefe weise Pläne gehegt, mit unbeugsamer Willenskraft sie verwirklicht und so, als ein geweihtes Werkzeug der Gnade Gottes, die Macht und den Wohlstand des Landes gemehrt. Der früh auf den Thron Erhöhte, der sich stolz den Sohn seiner Väter fühlt, blickt zurück und vergleicht. Wie gering war der Ahnen Vermögen und wie Gewaltiges haben sie dennoch erreicht. Soll ihm allein, dem reichen Erben gesammelter Kraft, keine von den Aufgaben zugewiesen sein, die das Monarchenleben erst lebenswert machen und den roi fainéant zum Mehrer des Reiches wandeln? Niemand zwingt die weithin schweifende Phantasie in die engen Grenzen gemeiner Wirklichkeit. Niemand verscheucht holde Illusionen und warnt vor einer Überschätzung der kunstvoll, aber auch künstlich geschaffenen Reichsherrlichkeit. Jeder bemüht sich, das schön Scheinende noch schöner zu tünchen. Deutschland ist unermeßlich reich; Deutschland ist berufen, unter den Industrie- und Handelsstaaten die erste Stelle einzunehmen und muß, um diesem Ziel näher zu kommen, seine sieghaften Feldzeichen über die Meere tragen und der Kaiser der Deutschen muß, wie in den Tagen der Kreuzzüge die gekrönten Herren, dem Evangelium die Welt zu erobern trachten. So umwispern Schwärmer und schlaue Spekulanten den Herrn und es ist nur natürlich, daß er, der die wahren Lehren der Geschichte und des bedrängten Lebens nicht kennt und nicht kennen kann, solcher lockenden Rede glaubt. In ruhiger Friedenszeit bleibt der Irrtum ungefährlich, stiftet er wenigstens noch kein ernstes Unheil; in jeder Epoche wirrer Verwickelungen kann er verhängnisvoll werden. Der deutsche Gesandte, der des Kaisers Person vertritt, wird in Peking ermordet, das Leben anderer deutschen Männer und Frauen wird mit gräßlichstem Martyrtode bedroht und der Fanatismus der Asiaten waffnet sich gegen die Christenpriester und deren Gemeinden. So werden, ohne Aufhellung der Ursachen, dem Kaiser die Ereignisse geschildert, wider besseres Wissen wird ihm gesagt, solchen Frevel habe der Genius der Menschengeschichte noch nicht erschaut. Der in selbstgeschaffenen Welten lebende Herrscher wähnt zu großer, befreiender Tat die Stunde gekommen. In der Spur seiner Ahnen, die ihm stets nur in legendenhafter Verklärung gezeigt worden sind, wird er vorwärts schreiten, für Christentum und Kultur den uralten Kampf erneuen und den Frevlern am heiligsten Recht beweisen, daß eines deutschen Kaisers Arm bis in den fernen Osten der bewohnten Erde reicht.

Wilhelm wäre wahrscheinlich sehr überrascht, wenn er hörte, wie ganz anders sich die Weltereignisse in den Köpfen der meisten Deutschen malen. Die hat das Studium der Geschichte, hat die Erfahrung eines harten Alltagslebens andere Dinge kennen gelehrt und zu anderer Anschauung sind sie erwachsen. In den Hohenzollern sehen sie ein tüchtiges Regentengeschlecht, doch nicht eine lückenlose Reihe gewaltiger Helden. Sie wissen, daß es recht schlechte Hohenzollernfürsten gab, daß mancher laut gepriesene Herrscher aus diesem Haus in der Nähe sehr klein und fleckig aussieht und daß sogar die Besten des Stammes zu den ihrem Lande nützlichsten Taten oft gezwungen werden mußten. Die Gründung des neuen Reiches schreiben sie nicht Wilhelm dem Ersten zu, der ihr mit altpreußischer Zähigkeit lange widerstrebte, sondern Otto Bismarck, dem Exponenten der Volkswünsche, deren Erfüllung das wirtschaftliche Interesse dringend gebot. Und dieses Reiches Herrlichkeit scheint ihnen nicht ungefährdet. Sie sehen es in schwieriger territorialer Lage, von Mißtrauen und Neid umlauert, im Innern unfertig, nach außen auf unzuverlässige oder kraftlose Bundesgenossen gestützt, mit rasch wachsendem Wohlstand, aber ohne den Reichtum, der ihm gestatten könnte, mit Großbritannien, Nordamerika, Rußland den Riesenkampf um Weltmacht und Welthandelsherrschaft zu wagen. Doch dieser Kampf dünkt sie gar nicht nötig; sie erwarten, daß ihre Landsleute durch eigene Kraft und Emsigkeit, ohne imperialistische Hilfe, sich Raum zur Betätigung schaffen werden. Es war ein Fehler, daß der Kaiser die Völker Europas zum Kampf gegen die gelbe Rasse aufrief, daß man dem geriebenen Li-Hung-Tschang den Anblick eines gierig vor dem reichen Kunden nach Bestellungen winselnden Händlerhaufens bot, daß der an zwei Missionaren verübte Mord mit der Zerstückung Shantungs »gesühnt« und, aller Warnung zum Trotz, in Peking der Bruch des geheiligten Hofzeremoniells erzwungen wurde. Dieser Fehler Folgen erleben wir nun. Das Deutsche Reich hat nicht die Mission, in China wieder das Christentum einzuführen, das nach frühen Erfolgen, durch den Hader der Konfessionen im Lande Kong-Fu-Tses entwurzelt wurde. Das Deutsche Reich, dessen höchster Vertreter dem Sultan befreundet ist, trotzdem die Türkenregierung Hunderttausende armenischer Christen abschlachten ließ, ist auch durch keine Tradition und keine Treugelübde zum Rächer jedes Christenmordes berufen. Der deutsche Kaufmann will von dem einträglichen chinesischen Handel nicht ausgeschlossen sein; darüber hinaus geht sein Wunsch nicht. Der Rachekrieg stört seine Kreise und er meint, Deutschland könne zufrieden sein, wenn die Seezölle reichlich fließen, die Zinskoupons prompt bezahlt werden und rundliche Mandarinen deutsche Produkte kaufen. Solche Rede klingt recht nüchtern, wenn man sie dem Überschwang romantischer Kreuzfahrerschwärmerei vergleicht; noch nie aber hat die nüchterne Wägung seines Wertes einem wichtigen Unternehmen Schaden gebracht.

Stets aber hat es den Monarchien geschadet, wenn das Empfinden des Königs mit dem des Volkes nicht einträchtig zusammenklang. Dieser Einklang wird um so schwerer erreicht, je öfter der Monarch über die Fülle einzelner Vorgänge, die keines Sterblichen Blick umfassen und bis in ihre Entstehungsursachen verfolgen kann, öffentlich Urteile fällt. Auch für einen Herrscher ist des Tages Stundenzahl beschränkt, ist der Irrtum unvermeidliches Menschenlos. Für allwissend und allvermögend halten den König nur blöde Knechte und vom Fanatismus verblendete Feinde. Dem Gift der Schmeichler und dem Dolch der Mörder können Könige und Kaiser nur entgehen, wenn sie sich mit der Rolle bescheiden, die ihnen seit den konstitutionellen Kämpfen unseres Jahrhunderts zugewiesen ist: der Rolle des dem Tagesgezänk entrückten, hinter goldenem Gitter durch besondere Gesetze geschützten Repräsentanten der Volkheit, dessen sorgsam erwogenes Wort Tat ist, der Gutes wirken und für Übles nie verantwortlich gemacht werden kann.

Der Deutsche Kaiser hofft, der Kraft seiner Streiter und der »heiligen Macht der Fürbitte« werde gelingen, »die Drachenbanner in den Staub zu werfen«, und er erinnert an das Bibelwort: »Solange Moses seine Hände emporhielt, siegte Israel«. Das war das Wort eines stolzen Volkes, das sich vor anderen auserwählt und zum Heil berufen wähnte; in Preußen hat man sich lieber stets an die weniger fromme Zuversicht gehalten, daß der Herrgott nicht von den stärksten Bataillonen weicht. Der Jahrtausende alte asiatische Drache wird sich durch Kreuzeszeichen nicht bannen lassen. Die spärliche Bürgerschar aber, die noch in Siegerstimmung schwelgt, sollte des Johanniterjünglings gedenken, der von Rhodus in fernen Mythentagen in den Kampf gegen den Drachen zog, Ritterruhm erwarb und die erste Pflicht doch des Ritters vergaß, »der für Christum ficht, sich schmücket mit des Kreuzes Zeichen«. Er hatte sein Roß und das flinke Paar seiner Doggen an das Bild eines Drachen gewöhnt; an den Gifthauch und die grimmen Hauzähne des wirklichen Drachen konnte er sie nicht gewöhnen. Und als er das furchtbare Ungetüm dennoch besiegt und im Triumphgefühl den Schritt in die Ordensheimat zurückgelenkt hat, muß er aus dem Munde des weisen Meisters vernehmen, daß er gegen der Pflichten schwerste sich in frevlem Übermut vergangen hat und, von der Gier nach eitlem Ruhm verlockt, des höchsten Christenschmuckes unwürdig ward, weil er das Joch nicht getragen, den eigenen Willen nicht in Demut gebändigt hat.

Der Kampf, aus dem der Jünger Johannis nach schwerer Versuchung als Sieger hervorging, bleibt auch den Königen nicht erspart, die des Christenheilands, nicht des Hunnenkönigs Glauben bekennen. Vom Drachen der Revolution, von der Hydra des Anarchismus wird in Europa jetzt viel gesprochen und gegen das schreckende Tier, das die Angst mit apokalyptischen Farben malt, werden die wunderlichsten Waffen empfohlen. Wenn die hastigen Kurversuche der Pfuscher fruchtlos geblieben sind, wird man merken, daß die Kronenträger vor Dolch und Kugel nur so lange sicher sind, wie sie dem Mord sinnenden Haß keine Angriffsfläche bieten, und daß den schlimmsten Dienst ihnen der Knecht erweist, der in ihres Menschenwesens wechselnde Regungen von früh bis spät die Neugier hineinblicken läßt.

Onkel Chlodwig

Am 17. Oktober 1900 tritt Fürst Hohenlohe, Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident zurück.

Preussen hat mit den Hohenlohes kein Glück. Fürst Friedrich Ludwig von Hohenlohe-Ingelfingen war einer der Besiegten von Jena und ergab sich am achtundzwanzigsten Oktober 1806 mit fast zwölftausend Mann einem viel kleineren französischen Truppenteil, den Murat anführte. Sein Sohn Adolf, der als Nachfolger des Fürsten von Hohenzollern der Ministerpräsident der Neuen Aera wurde, war ein kränkelnder, gebrochener Mann, überließ die eigentliche Geschäftsführung dem Finanzminister Von der Heydt und beschränkte sein Wirken auf kleine Konzessionen und Gefälligkeiten, die nach Bismarcks derb treffendem Wort wie ein Schnaps die erlahmende Fortschrittspartei stärkten. Er konnte den von der Kammermehrheit gewollten Kampf für die Krone nicht durchfechten, scheute jede ernste Verantwortung, riet dem König zur Nachgiebigkeit und verschwand, in Herzensangst vor dem drohenden Konflikt, am vierundzwanzigsten September 1862 ruhmlos, als ein verhöhnter Mann, vom Schauplatz. Der Dritte des von der fränkischen Burg Holloch stammenden Geschlechtes, der in Preußens Geschichte eine Rolle spielte, war Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Prinz von Ratibor und Corvey. Er hat fast sechs Jahre lang die Titel des Reichskanzlers und des preußischen Ministerpräsidenten getragen, hat diese Titel mit einer Gründlichkeit entwertet, die vorher niemand für möglich gehalten hätte, und hat sich, als er von seinem Tun und besonders von seinem Unterlassen vor dem Reichstag Rechenschaft ablegen sollte, aus dem Staube gemacht, wie es die Ingelfinger 1806 und 1862 getan haben. Er ist, auch darin Friedrich Ludwig und Adolf Hohenlohe ähnlich, gewiß nicht ganz freiwillig gegangen; denn er liebte den Schein der Macht und ängstigte sich vor der Pensionierung, die so oft schon dem dürren Sensenmann eine Greitentür aufschloß. Aber er durfte sich gerade jetzt nicht aus dem Weg stoßen lassen, er mußte darauf bestehen, die in diesem Sommer eingerührte Suppe selbst auszuessen. Und wenn er wider seinen Willen weggeschickt wurde, dann mußte er den falschen Schein freien Wollens meiden. Von den Eigenschaften, die politischen und militärischen Führern am wenigsten fehlen dürfen, haben die drei preußischen Würdenträger vom Stamm Hohenlohe keine einzige gezeigt. Persönlichen Mut mögen alle drei gehabt haben; sobald sie aber mit schwerer Verantwortung bebürdet waren, sank ihnen an schwarzen Tagen das Ritterherz in die Hosen.

siehe Bildunterschrift

Der Kaiser in der Uniform des Regiments der Gardes du Corps

Chlodwig konnte, wie Adolf, mildernde Umstände für sich geltend machen. Er war, als er Ministerpräsident und Kanzler wurde, ein morscher, zu anstrengender Arbeit unfähiger Mann. In der Rede, die vom Reichstag die Bewilligung eines dritten Direktors für das Auswärtige Amt erbitten sollte und deshalb die Geschäftslast dieses Amtes ausführlich schilderte, sagte Bismarck schon im Dezember 1884: »Nach Herrn von Bülow habe ich die Gefälligkeit des jetzigen Botschafters in Paris, Fürsten Hohenlohe, in Anspruch genommen, um eine Zeitlang die Geschäfte zu versehen. Der Fürst hat sich mit der ihm eigenen Zuvorkommenheit und Hingebung für den Dienst dazu bereit finden lassen; aber schon nach einem halben Jahr mußte er erklären, daß die damit verbundene Geschäftslast seine Kraft und Gesundheit übersteige, und hat demnächst abgelehnt.« Später wurde er zum Statthalter von Elsaß-Lothringen ernannt. Für diese Repräsentantenrolle paßte er; noch besser hätte er unter den Regentenbaldachin eines stillen Mittelstaates gepaßt. Doch schon gegen Ende der achtziger Jahre hatte Bismarck den Eindruck, daß im Straßburger Statthalterpalast ein gar zu bequemer Herr hause, und ein Redakteur der Kölnischen Zeitung wurde als unbeglaubigter Botschafter in den Elsaß gesandt, um die Stimmung zu erspähen und, wenn es nötig war, den müden Mann aufzuscheuchen. Immerhin ging die Sache noch. Die eigentliche Arbeit leistete der gewandte Staatssekretär von Puttkamer, der das Land genau kannte; und der Fürst zu Hohenlohe hielt Hof. Verschlang die neusten französischen Romane, knabberte auch ein bißchen an Nietzsche herum und war sehr stolz auf seinen »literarischen Salon«, dessen wertvollster Schmuckgegenstand die Frau Alberta von Puttkamer war. Dieses behagliche Grandseigneurleben dauerte bis in den Oktober 1894. Und nun sollte der Mann, der sich vierzehn Jahre zuvor für die Leitung des Auswärtigen Amtes nicht kräftig genug gefühlt hatte, Reichskanzler und Ministerpräsident sein. Er zögerte, dem Ruf seines Kaisers zu folgen. Als ihm aber die Wahl gestellt wurde, die neuen Würden auf sich zu nehmen oder aus dem Reichsdienst zu scheiden, wählte er die Wilhelmstraße. Diese Herren sind sämtlich Kinder Sansaras und weltlichem Ehrgeiz Untertan. Auch der schillingsfürstliche Herr konnte der Versuchung nicht widerstehen, seinen Namen ins Goldne Buch der deutschen Geschichte zu schreiben.

Es ist ihm schlecht bekommen. Gleich nach seiner Ernennung sagte ich, die Standesgewöhnung des neuen Kanzlers müsse Bedenken erregen, die gesellschaftliche Sonderstellung des mediatisierten Fürsten, die ihn aus der sozialen Gemeinschaft allzu hoch heraushebt und ihm die Erfahrungen aus der rauhen Wirklichkeit des praktischen, ringenden und erwerbenden Lebens schwer zugänglich macht. Auf der Trümmerstätte des Caprivismus zu bauen, war nicht leicht; diese Aufgabe forderte eine schöpferische Natur, einen rüstigen, aufrechten, rücksichtlosen Entschlusses fähigen Mann, der hoffen durfte, das Richtfest des Hauses noch zu erleben, dem er den Grundstein gelegt hat. Und als man den kleinen Greis, der noch älter schien, als er war, nun zum ersten Male am Bundesratstische sah, mit dem müde auf den eingesunkenen Leib herabhängenden Haupt, da glaubte man, statt eines selbständigen Leiters der Reichsgeschäfte, einen Geheimen Kabinettsrat vor sich zu haben, der nur pro informatione, im Auftrage seines Herrn, den Verhandlungen folgt, ohne persönlich irgendwie daran interessiert zu sein. Dann sprach er, las mit schleppender, schwer verständlicher Stimme von kleinen Zetteln Banalitäten ab; und staunend blickten die Nachbarn einander an: Der soll Reichskanzler sein? … Er ist es sechs Jahre lang geblieben und hat beim Abgang jetzt, wie die Franzosen sagen, eine leidlich gute Presse gehabt. Warum auch nicht? Er hat keinen Menschen gekränkt, ist keinem durch geistiges Übergewicht unbequem geworden. Im Jahre 1869 hatte er Europa gegen das Vatikanische Konzil zum Kampf aufgerufen. Darin, sollte man meinen, war das Symptom einer Weltanschauung zu erkennen. Im Jahre 1894 sagte er dem Zentrum, er habe es damals nicht so böse gemeint und werde jetzt ganz artig sein. Den Liberalen blinzelte er freundschaftlich zu und ließ sie merken: wenn es nach ihm ginge, würde ihr Weizen blühen. Und um die Gunst der angeblich noch immer Konservativen braucht ein neuer Kanzler und Ministerpräsident nicht erst zu buhlen. Sein Hauptvorteil aber war, daß er so ganz ungefährlich, so mitleidenswert kümmerlich schien. Die Abgeordneten sprachen von ihm wie die Treiber bei der ersten Letzlinger Hofjagd, die er mitmachte. Erster Treiber: »Du, welches ist denn nun der neue Kanzler?« Zweiter: »Na, der da, der Kleine, dem das Laufen so schwer wird.« Erster: »Der?! … Jottedoch!« Bismarck hat über diesen Hofwitz noch herzlich gelacht.

Der dritte Kanzler war zu schlau, um in den Fehler des zweiten zu verfallen. Er war eifrig, allzu eifrig bemüht, sich gut mit Bismarck zu stellen. Er hatte nach dem März 1890 die Schwelle des Verfemten nicht mehr betreten, hatte den Verkehr auf höfliche Glückwunschbriefe zu den Festtagen beschränkt, ließ sich aber jetzt als einen Freund des Gestürzten, dem er persönlich nie nah gestanden, in der Presse preisen. Und Bismarck hielt ihn für einen Gentleman, den er ungern angegriffen sah. Später freilich schüttelte er oft den Kopf, lobte Caprivis plumpe Rücksichtslosigkeit, die vorhandene Gefahr wenigstens nicht unter Girlanden verbarg, und zitierte, wenn der Herr der Wilhelmstraße gar so jammervoll über die Schwierigkeit seiner Stellung klagte, Cyranos Wort: Mais que diable allait-il faire en cette galère! Sein helles Auge sah früh, daß auch der neue Mann das Lied nicht blasen könne. Und schließlich merkten es auch die anderen. Zuerst wurde der preußische Ministerpräsident, dann der Reichskanzler aus dem politischen Getriebe ausgeschaltet. Für die preußischen Behörden schien der Präsident des Staatsministeriums schon lange nicht mehr zu existieren. Bei wichtigen Fragen hieß es: »Wenden Sie sich an den Finanzminister!« »Alles kommt darauf an, wie der Finanzminister sich zu der Sache stellt.« Und die paar Leute, die bis zum Fürsten Hohenlohe vorgedrungen waren, kamen verstört zurück. Sie hatten ihn beim neusten Prévost oder Louys gefunden. Er hatte über sein an Ärger und Unbequemlichkeit aller Arten reiches Leben geklagt und die Vorzüge der Pariser und Straßburger Tage gerühmt. Unmöglich, irgendeine wirtschaftliche Frage zu erörtern. Währung, Zollkredit, Transitlager, Termingeschäfte, Tariffragen: die Besucher hatten den Eindruck, daß dieses ganze Gebiet ihrem durchlauchtigen Wirt ein böhmisches Dorf sei. Woher sollte der bayerische Standesherr, der es bis zum Assessor gebracht und nur im diplomatischen Dienst einige Erfahrungen gesammelt hatte, dieses Gebiet auch kennen? Er selbst hat scherzend einmal erzählt, er habe Karriere gemacht, weil er immer einen guten schwarzen Rock angehabt und den Mund gehalten habe. Einen guten Rock hatte er auch jetzt noch an. Aber nun mußte er reden. Und das war schlimm für ihn.

Der Reichskanzler, sagten die dem Fürsten Hohenlohe Getreusten, kann zwar unter den obwaltenden Umständen nichts Positives leisten; doch welcher fürchterlichen Pläne Ausführung hat seine Weisheit schon verhindert! Das war ein guter Einfall, denn das Hemmungvermögen eines Ministers kann kein Mensch kontrollieren. Aber ohne Beweis glauben wir oft Getäuschten solchen Behauptungen nicht. Für uns ist der Heros des Verhinderns einfach der Mann, der das Boetticher-Attest, diese herrliche Frucht kollegialer Gerichtsbarkeit, der staunenden Welt vorlegte, der das Wort vom allzu schnellen Tempo der Sozialreform sprach, Beamte zur Strafe für ihre der Abgeordnetenpflicht entsprechende Abstimmung aus den Ämtern jagte und die Umsturz-, Zuchthaus- und Heinze-Vorlage in den Reichstag brachte. Für uns bleibt er der Mann, der nie den winzigsten selbst gefundenen Gedanken aussprach, nie auch nur den Schein des ernsten Arbeiters wahrte, nie dafür sorgte, daß die Wahrheit hüllenlos an den Thron kam, immer zu Festen gestimmt schien und, während er für die Firma des Deutschen Reiches verantwortlich war, die betrübendsten, unheilvollsten Dinge geschehen ließ.

In dem Telegramm, das 1894 den Fürsten Hermann zu Hohenlohe-Langenburg als Statthalter nach Straßburg berief, hatte der Kaiser den dritten Kanzler Onkel Chlodwig genannt. Der Name ist ihm geblieben. Unzählige Witze wurden über ihn gemacht, namentlich, seit er gar nichts mehr von den Vorgängen erfuhr, seit die Verworrenheit und Anarchie der Verwaltung offenbar wurde und der allein verantwortliche Reichsbeamte, während in Berlin die wichtigsten Entscheidungen fielen, wohlgemut auf seinen russischen Gütern saß. Da hielt er sich besonders gern auf. Weil Onkel Chlodwig Reichskanzler geworden war, hatte der Zar ihm, dem Ausländer, der in Rußland eigentlich keinen Grundbesitz haben durfte, erlaubt, den Güterkomplex von Werki noch ein paar Jahre zu behalten. Jetzt, da er das Ende der Kanzlerschaft nahen fühlte, mußte der gute Hausvater sich bemühen, möglichst schnell einen annehmbaren Preis herauszuschlagen. Das ist ihm gelungen. Er braucht also nicht mit Bedauern auf die Zeit des Berliner Glanzes zurückzublicken und ein neuer Wildenbruch kann ihm ein Scheidelied singen, das mit dem Vers beginnen mag: »Du gehst von Deinem Werki« …

Alexandriner

Am 28. März 1901 Rede Wilhelms II. bei der Einweihung der Alexander-Kaserne in Berlin.

Das Garde-Grenadierregiment, das den Namen des Russenkaisers Alexander trägt, hat eine neue Kaserne bekommen. Wie die Verfassung fordert, wurde das für den Neubau nötige Geld vom Reichstag erbeten und bewilligt. Das Haus ist also von deutschen Bürgern bezahlt und soll als Wohnung und Übungsplatz einem Teil des Volksheeres dienen, das die Aufgabe hat, die Grenzen des Reiches zu schützen und den Angriff fremder Eindringlinge zurückzuschlagen. Mancher Wanderer, der vom Schloßplatz her über den Kupfergraben kam, hat staunend zu dem Neubau aufgeblickt und sich gefragt, ob hier, im Herzen der Hauptstadt, eine Festung errichtet werde. Das war schließlich aber eine Stilfrage; die Regierungszeit Wilhelms des Zweiten hat uns an architektonische Merkwürdigkeiten gewöhnt: warum sollte sie uns nicht eine Kaserne bescheren, die einer befestigten Ritterburg ähnelt? Einen besondern Sinn brauchte man in der Wahl dieses Stils nicht zu suchen. Erst in diesen Tagen haben wir erfahren, daß diese Kaserne mehr sein soll als die Wohnung und der Übungsplatz eines Teiles der wehrfähigen Mannschaft. Der König und Kriegsherr hat seine Absicht mit erfreulicher Deutlichkeit ausgesprochen. Er hat befohlen, die Kaserne dicht beim Schloß zu erbauen, weil er »eine feste Burg« in der Nähe haben will. Das Garde-Grenadierregiment Kaiser Alexander, das gegen Straßenaufstände früher der preußischen und sächsischen Dynastie gute Dienste geleistet hat, betrachtet er als seine persönliche Leibwache, die »Tag und Nacht bereit sein muß, für den König ihr Blut zu verspritzen«, und diese Leibwache muß ihr Quartier natürlich dicht beim Schlosse haben. Der Kaiser, der das Regiment selbst in das neue Haus geführt hat, sagt ihm auch ausdrücklich, für welchen Fall er auf die Leibwache zählt: »Wenn die Stadt Berlin noch einmal, wie im Jahre 48, sich mit Frechheit und Unbotmäßigkeit gegen den König erheben sollte, dann seid ihr, meine Grenadiere, berufen, mit der Spitze eurer Bajonette die Frechen und Unbotmäßigen zu Paaren zu treiben.« So stimmt alles zusammen: das Haus und die Einweihungsrede haben denselben Stil. Der Kaiser sieht in dem achtundvierziger Aufstand eine Regung unbotmäßiger Frechheit. Er glaubt, dieser Vorgang werde sich wiederholen. Deshalb will er eine feste Burg in der Nähe haben und hat in diese Burg eine Leibwache gelegt, die für die Pflicht vorbereitet werden soll, aufrührerische Bürger mit Bajonetten zu verscheuchen.

Der Kaiser hat die Grenadiere in seiner Rede Alexandriner genannt. Die Bezeichnung ist ungewöhnlich, aber sie klingt nicht schlecht und weckt eine Erinnerung, die nützlich werden kann. Die Alexandriner waren sehr brave Leute und (Männer wie Theokrit, Kallimachos und Herondas waren unter ihnen) sehr tüchtige Arbeiter. Doch ihre schöpferisch fortwirkende Kraft war gering. Sie saßen im Museion über Folianten und häuften in emsigem Mühen den Bücherstoß. Als die ersten in der uns bekannten Geschichte haben sie den Begriff Gelehrsamkeit um sein altes Ansehen gebracht. Weil sie unproduktiv waren, weil ihrer Stubenarbeit die Wirkung versagt blieb, gilt ein Gelehrter, ein Schreiber in der von hellenischer Kultur gedüngten Welt des Westens seitdem als ein dem Leben fremder, zu öffentlichem Wirken untauglicher Mann. Dieser Alexandriner, deren Name warnend an der Spitze der neuesten Rede des Kaisers steht, wollen wir uns erinnern. Wenn wir in der Not der Stunde nur hundertmal Gesagtes wiederholen, wenn wir uns damit begnügen, Artikel zu schreiben und unserer Unzufriedenheit vorsichtigen Ausdruck zu geben, dann werden auch wir nicht mehr erreichen als die Gelehrten einst in der Hauptstadt der Ptolemäer und werden, wie sie, den Kindern kräftiger Epochen nur ein mitleidiges Lächeln entlocken. Echt alexandrinisch war schon der Versuch, der Stimmung des Kaisers nachzuspüren und den Gedankengang der Rede aus melancholischen Anwandlungen zu erklären. Solche Künste sollte man höfischen Gebärdenspähern überlassen. Wilhelm hat diesmal ja nicht anders gesprochen als sonst. Noch ehe ein Eisenstück ihm das Nasenbein ritzte, stand das Bild eines Bürgerkrieges vor seines Geistes Auge. Die Garde rief er auf, ihn vor der »hochverräterischen Schar« zu schützen, und schärfte jungen Soldaten die Pflicht ein, wenn es befohlen werde, auf Vater und Mutter zu schießen. In der ganzen Rede ist kein neuer Ton und alles Bemühen, sie aus einer seelischen Depression abzuleiten, muß fruchtlos bleiben.

Gewiß ließe sich leicht manches erwidern. Als das Geld für die Kaserne gefordert wurde, hat der Kriegsminister mit keiner Silbe angedeutet, hier solle eine kaiserliche Festung, das Quartier einer Leibwache gebaut werden. Natürlich; sonst wäre die Forderung abgelehnt worden. Man könnte also sagen, die Verwendung des Geldes entspreche nicht den im Reichstag vorgebrachten Motiven, und, unter Berufung auf das schöne Lied von den Rossen und Reisigen, hinzufügen, der Kaiser bedürfe keiner Leibwache und zu solchem Dienst seien deutsche Jünglinge nicht verpflichtet, solcher Dienst sei den Organisatoren und Reorganisatoren des deutschen Heeres nie als Ziel ihrer Arbeit erschienen. Dabei wäre über den Unterschied zwischen Prätorianern und einem modernen Volksheer allerlei zu sagen: zum Beispiel: das Alexander-Regiment sei ja nicht mehr dasselbe, das in Berlin und Dresden die Revolution bekämpft hat; eine andere Generation diene in seinen Reihen und es sei von anderem Geist erfüllt, zum großen Teil vielleicht von dem Geist, der in der »hochverräterischen Schar« lebt. Auch sei nicht ratsam, ohne zwingende Veranlassung von der grausen Möglichkeit eines Bürgerkrieges zu sprechen und mit der Spitze der Bajonette zu drohen. In Berlin, im ganzen Deutschen Reich denke kein Mensch an eine Revolution nach achtundvierziger Muster. Schon der alte Engels hat erklärt, die Zeit des Putschismus sei vorbei. Die Sozialdemokraten hoffen von der Evolution viel mehr als von irgendeiner Revolution. Die wirtschaftliche Entwicklung, so rechnen sie, wird des Kapitals Allmacht brechen und eine neue Gesellschaftsform schaffen, die gerechter als unsere die Waffen zum Kampf ums Dasein verteilt. Nie war die Gefahr bewaffneter Aufstände geringer als seit dem Erstarken des Sozialismus; und es ist kein Zufall, daß in den Jahrzehnten, die uns von den Tagen Marxens und Lassalles trennen, trotz den heftigsten Interessenkämpfen kein deutsches Land eine Revolution gesehen hat. Und schließlich wäre zu fragen, ob es nötig war, die unkluge Verzweiflungstat deutscher Bürger, denen Söhne und Enkel leben, »Frechheit« zu nennen. Da hätte Friedrich Wilhelm der Vierte aufzumarschieren, der vor den Opfern des Märzkonfliktes den Hut zog, die Volkserhebung ein »großes Ereignis« nannte und den »ausgezeichneten Geist«, den »gesunden und edlen Sinn« der Berliner pries. Also eine Fülle brauchbaren Stoffes … Und dann? Was ist damit erreicht, wem etwas Neues gesagt? Nicht einmal dem Kaiser selbst, der ja zu wissen glaubt, wie das Volk über ihn denkt.

Nein: der Kaiser hat deutlich gesprochen und deutlich muß auch die Antwort sein, so deutlich, daß sie nicht überhört, dem Ohr, an das sie sich wendet, nicht entzogen werden kann. Auf die berlinische Kommunalvertretung ist nicht zu rechnen. Der Oberbürgermeister von Berlin, der zwar nicht »trotzig«, aber auch nicht »tüchtig« ist, steht bei solchen Reden mit der Amtskette unter den Statisten, ist selig, wenn er eines huldvollen Wörtchens gewürdigt wird, und scheint gar nicht zu ahnen, wie ein stolzer Mann in so seltsamer Lage handeln müßte. Der Magistrat wird loyal weiterwinseln und die Stadtverordneten, deren Mehrheit sich doch als die Erbin des achtundvierziger Geistes fühlt, werden mit leisem Gemurr die strenge Rüge einstecken und in der nächsten Adresse wohl noch wärmere Töne als sonst anschlagen. Im Grunde handelt es sich ja auch nicht um eine berlinische, sondern um eine deutsche Angelegenheit, die in den Reichstag gehört. Da ist der Kanzler zu interpellieren. Ob und wann die verbündeten Regierungen sich von der Notwendigkeit überzeugt haben, dem Deutschen Kaiser eine Leibwache zu schaffen. Warum diese Absicht beim Militäretat, als das Geld für die Alexander-Kaserne gefordert wurde, verschwiegen blieb. Ob der Kanzler, als der allein verantwortliche Reichsbeamte, dem Kaiser gesagt habe, in Berlin sei ein Aufstand zu erwarten, und auf welche bisher unbekannte Tatsachen sich diese Meinung stütze. Ob die Auffassung der achtundvierziger Ereignisse, die den Worten des Kaisers zu entnehmen war, vom Reichskanzler vertreten wird. Im Notfall kann man auch auf einem Umweg ans Ziel kommen. Interpellation über die auswärtige Politik des Reiches. Im Kreis der Offiziere des Alexander-Regimentes hat der Kaiser auch gesagt, es sei gelungen, das freundschaftliche Verhältnis zu trüben, das so lange zwischen Deutschland und Rußland bestand; nicht er aber trage daran die Schuld. Er hat ferner von der nahen Möglichkeit eines Kampfes gesprochen, den Deutschland allein, ohne Bundesgenossen, gegen eine Übermacht auszufechten haben werde: »Wir werden überall siegen, wenn wir auch von Feinden rings umgeben sein und mit der Minderheit gegen die Mehrheit zu kämpfen haben werden. Denn es lebt ein gewaltiger Verbündeter. Das ist der alte gute Gott im Himmel, der schon seit den Zeiten des Großen Kurfürsten und des Großen Königs stets auf unserer Seite war.« Solche Worte spricht ein König und Kriegsherr doch gewiß nicht ohne Grund. Das Volk aber hat ein Recht darauf, zu erfahren, wie das Reich in eine so üble Lage geraten konnte. Graf Bülow hat in seinen Reden eine internationale Gefahr nicht erwähnt und die deutsch-russischen Beziehungen als über jeden Zweifel erhaben geschildert. Aber der Weiße Zar, der Chef des Alexander-Regimentes, hat zu dem Festtag, der den Kaiser zu so auffallenden Betrachtungen stimmte, keinen Gruß geschickt.

Verständigung ist nur zwischen denen möglich, die einander kennen, ihres Wollens Richtung nicht einander verhehlen. Der Kaiser scheint einen Willen zu haben. Ihm ist der mit dem Recht auf den Thron Geborene ein besonderes Wesen, das geweihte Gefäß göttlicher Gnade. Dem Wink des Erleuchteten hat die Menge zu folgen, blind und gläubig, denn er sieht, was dem Auge des niedrig Geborenen noch in Nacht gehüllt ist. Sein Werkzeug ist das Heer, das auf seinen Befehl die »mißleiteten«, »unbotmäßigen« Massen bändigen, niederzwingen muß. Jeder Aufstand des Willens gegen den König war ein freches Verbrechen, das nur mit Feuer und Schwert gesühnt werden kann. Und da der König allein der Vertreter der Staatsgewalt und der einzige Hort der Volkshoffnung ist, hat er Anspruch auf eine Leibwache, die in seiner Person zugleich auch den Staatsgedanken schützt.

Diese aus ehrwürdigen Theokratien stammende Anschauung hat den großen Vorzug lückenloser Einheitlichkeit; nur scheint sie leider mit den Wünschen der deutschen Volksmehrheit kaum zu vereinen. Das ist noch kein Unglück. Erwachsene Menschen, die derselben Kulturzone angehören, sprechen sich aus und finden schließlich einen modus vivendi. Wie aber soll der Kaiser die Volksstimmung kennenlernen? Auf eine Preßstimme, die ihn mit der gebotenen Vorsicht angreift, kommen immer zehn, die jedes seiner Worte als eine Titanentat feiern. Keine Spur einer Einheit im Wollen und Trachten. Und die an den Hof geladenen Herren hüten sich ängstlich, durch eine unbequeme Enthüllung Ärgernis zu erregen; von ihnen hört der Monarch sicher stets, das Volk werde in seinem Glück nur von argen Hetzern gestört. Zu Hause aber jammern sie: Wie schade, daß kein Mensch dem Kaiser die Wahrheit sagt! So geht es nun seit zwölf Jahren. Jeder Rede des Kaisers folgen dieselben Erscheinungen. Eine Woche lang wird davon gesprochen. In Büros, Kontoren, Kneipen, Kasinos ein Gewisper, ein Schütteln der Köpfe. Anspielungen in der Presse, im Parlament. Dann kehrt alles sacht wieder zur alten Ordnung. Höchstens hört man noch, die Kommentare der ausländischen Presse seien »nicht wiederzugeben«.

Diese Kommentare sind für das deutsche Volk noch viel unangenehmer als für den Kaiser. Das also, heißt es da, sind die stolzen Deutschen, die nur Gott fürchten, dem großen Schöpfer ihrer jungen Reichsherrlichkeit Steine in den Weg warfen und jetzt nur verstohlen tuscheln, schelten und Witze reißen, zu einer offenen Auseinandersetzung aber nicht den Mut finden können. Solche Reden sind dem Ansehen neudeutscher Stammesart nicht gerade nützlich; leider dürfen wir sie nicht als unberechtigt ablehnen. So wie bisher kann es nicht weitergehen, wenn wir die Fundamente deutscher Macht uns erhalten wollen. Es muß endlich zu einer Kraftprobe kommen. Spricht die Mehrheit des Reichstages sich für den Kaiser aus, billigt sie seine Weltanschauung, seine impulsiven Versuche, mit dem Einsatz der monarchischen Person auf die Volksstimmung zu wirken, – gut: dann wohnt Wilhelm der Zweite im Recht des Stärkeren und kein Nadelstich kann ihn, soll ihn verwunden. Lautet das Votum der zur Mitwirkung am politischen Geschäft berufenen Volksvertretung anders, dann wird es nötig sein, zu den Sitten zurückzukehren, die in der ersten Zeit unserer Reichsgeschichte üblich waren. In jedem Fall haben die Last der Verantwortlichkeit dann die Faktoren zu tragen, denen sie der Sinn der Verfassung zuweist: der Bundesrat und der Reichstag. Nicht ein Plebiszit nach napoleonischem Muster wird also hier empfohlen, sondern die Beschreitung des Weges, den schon der vierte Friedrich Wilhelm »aus ehrlicher und freier Überzeugung« wählen wollte. Nur auf diesem Weg ist eine Verständigung möglich; jedes andere Bemühen muß, mag es noch so gut gemeint sein, in unfruchtbarem Alexandrinertum steckenbleiben.

Liebenberg

Wo Ukrainer und Deutsche einst um die Rechte prägende Macht rangen, liegt, auf uckermärkischem Boden, die Herrschaft Liebenberg. Sie hatte den Bischöfen von Brandenburg, dann den Bredows gehört und war, als nach dem Dreißigjährigen Krieg die Landwirtschaft arge Not zu spüren bekam, von einem aus Cleve eingewanderten Hertefeld durch Tausch und Kauf erworben worden. Dessen Vater hatte die Stunde, da dem clevischen Lande der letzte Herzog starb, schlau benutzt und es, auf eigene Faust und ohne vor der ihm von Wien her drohenden Gefahr zu zittern, einfach durch Wappenanschlag als brandenburgischen Besitz erklärt. Für solchen Dienst zeigte der Kurfürst Johann Sigismund sich dankbar; den tapferen und geschickten Junker machte er zum Geheimen Rat und blieb denen von Hertefeld ein gnädiger Herr. Diese Huld wirkte natürlich fort; und seit unter dem Großen Kurfürsten ein Sohn des Geheimen Rates an der Grenze der Grafschaft Ruppin, in Häsen und Liebenberg, den Eingesessenen bewiesen hatte, wie man Viehzucht und Milchwirtschaft treiben und aus Bruchland reichen Ertrag ziehen könne, saß am kurfürstlichen Hof den Hertefelds mehr als ein Stein im Brett. Ihr Neu-Holland im Ukergebiet galt als Musterwirtschaft; und dem Samuel Hertefeld, der das Havelluch entwässert und dem Anbau gewonnen hatte, häuften sich schon in stattlicher Fülle die Titel: Oberjägermeister war er, Geheimer Ober-Finanz-, Kriegs- und Domänenrat, Drost, Gerichtsherr und Waldgraf und Ritter des Hohen Ordens vom Schwarzen Adler. Daß einer von ihnen, wie der Friedrich Leopold, der an dem halb frommen, halb liederlichen Prunk des von der Lichtenau beherrschten Berliner Hofes ein Ärgernis nahm, auch einmal den Frondeur spielte, hat dem Haus nicht geschadet. Und diese Hertefelds müssen wirklich ganze Kerle gewesen sein; zu den Ganzen gehörte auch der Fritz Polte, der das Schranzentum seiner Standesgenossen mit so boshaftem Leckermaul höhnte und, als man ihm den einzigen Sohn in den Krieg gegen den Korsen schleppen wollte, in heller Wut schrieb: »Ich kann meiner Empörung noch immer nicht Herr werden und will es auch nicht. Meine Verachtung gegen den Urheber werde ich mit ins Grab nehmen. Von Patriotismus sprechen solche Leute, die vom Staat leben, immer. Ich habe keine Gelegenheit versäumt, um nützlich zu sein, habe den Staatsfonds keinen Heller gekostet, nie Vergütigung verlangt, aber auch niemals in die Zeitung setzen lassen, wenn ich für den Staat den Beutel zog. Und diese elenden Menschen wollen einem alten Manne nicht einen einzigen Sohn freilassen, dessen Freilassung durch vernünftige Gründe als notwendig vorgetragen wird! Bei Gott, es wären Vormünder nötig, die die Schurken fortschafften! Emprunts forcés und ›gezwungene Freiwillige‹ gehören in die Kategorie des schändlichsten Nonsens.« Wie dieser trotz literarischen Neigungen derbe Edelmann gegen Hardenberg, so haben die neuen Junker selbst gegen Caprivi nicht gewettert; und täte man tausend Laternen anzünden, man fände unter ihnen wohl kaum einen, der gesprochen hätte wie der Hertefelder zu seinem Sohn: »Glaube mir als einem alten, erfahrenen und von Vorurteilen freien Manne: der Militärstand ist eine splendide Misere. Wenn man eine Zeitlang darin gearbeitet hat, so fühlt man erst das Angenehme der Independenz und, wie nützlich der macht, der als ein Privater seine Güter selbst bewirtschaftet. Er dient dem allgemeinen Besten und braucht mit seiner Meinung nicht zurückzuhalten. Er ist ein freier Mann, der auch frei sprechen darf … Eine Klasse, die jeder Ehre bar und bloß ist, läßt sich zu allem brauchen; folglich ist sie nützlich. Ich wundere mich über nichts mehr, auch nicht über die Anstellung eines gemeinen Spions … Ich erkenne mehr und mehr, daß die Politik die Wissenschaft des Betruges ist. Und so wird es bleiben, bis vernünftige Landesverfassungen da sein werden, die Kraft haben, die Großen zu binden.« Und dieser Apfel war nicht gar zu weit vom Stamme gefallen. Mit seiner rationalistischen Geringschätzung alles leidenschaftlichen Überschwanges, seinem Haß gegen alles phrasenhafte Scheinwesen, seiner stolzen Unabhängigkeit, die er freilich nicht durch das Menschenrecht Rousseaus, sondern durch ein ererbtes, erdientes Kastenprivileg verbürgt glaubte, mit der das innere Gleichgewicht sichernden Mischung von gesundem Menschenverstand und Sehnsucht nach feinerem Geistesbesitz war der alte Knabe der typische Vertreter eines Herrengeschlechtes, das in den Hohenzollern nie die von Gottes Gnade Geweihten, sondern stets nur die von Fortunas Laune besser behandelten Junker sah. Eines Geschlechtes, das (in der Ukermark) Bücher las, bei Voltaire und Chateaubriand heimisch war, Bilder und Skulpturen kaufte, das Kunsthandwerk des Theaterspiels nicht nur in Schlafstuben zu erkennen suchte, Zeitschriften gründete, eifrig über den Wert modischer Belletristen stritt und dabei doch dem alten Edelmannsberuf des Ackerbaues treu blieb und bei keiner Rittersportsübung fehlte. Von einem Hertefeld, der nichts von Marx wissen konnte, stammt das Wort: »Die politischen Institutionen werden von den sozialen erzeugt und beherrscht!« Ein Hertefeld sprach, als er zum ersten Male nach London kam, den ganz unpreußischen Satz: »Was einem in dieser ungeheuren Stadt am meisten auffällt, ist, daß alles ohne Soldaten, Gendarmen und Polizeibeamte in Ordnung gehalten wird.« Und derselbe Junker merkte, trotzdem er keine englische Silbe verstand, nach zwei in Coventgarden verbrachten Abenden doch gleich, daß Shakespeare von anderem Stoff und Wuchs sei als Rache. Als mit diesem Karl dann Geschlecht und Name erlosch, fiel Liebenberg, als Frauenerbe, an die Großnichte des letzten Hertefeld, die Freiin Alexandrine von Rotkirch, die damals schon seit einundzwanzig Jahren die Frau des Reiteroffiziers Grafen Philipp zu Eulenburg war. Der Sohn dieses Paares ist Philipp Friedrich Karl Alexander. Botho Fürst zu Eulenburg und Hertefeld, Graf von Sandels.

Die Hertefelds waren vom Niederrhein gekommen, spät erst in Preußen heimisch geworden und durch eigenes Verdienst im siebzehnten Jahrhundert zu Macht und Ansehen gelangt. Die Eulenburgs, deren Name nicht von dem Nachtvogel, sondern von der Stadt Eilenburg stammt, waren obersächsische Dynasten, die einen Wettiner Burggrafen zu ihren Ahnen zählten und im vierzehnten Jahrhundert über zwanzig Städte und zweihundertundfünfzig Rittergüter herrschten. Durch ihre Beziehungen zum Deutschen Orden kamen sie zu ostpreußischen Besitz; durch Dienste, die einer von ihnen, Wend von Ileburg, im Auftrage des Ungarnkönigs Sigismund als Unterhauptmann der Mark Brandenburg dem Nürnberger Burggrafen Friedrich leistete, wurde ihr Familieninteresse gleich anfangs dem der Hohenzollern verknüpft. So verschiedene Schicksale mußten den Geschlechtscharakter verschieden färben. Auch die Eulenburgs gehörten nicht zu den ungebildeten Landjunkern; mancher von ihnen hat für die Kunst, die Literatur etwas übrig gehabt und Friedrich Albrecht Graf zu Eulenburg, der die erste preußische Expedition nach Ostasien führte, hat aus Japan Bilder, Waffen und Schmuckgegenstände aller Art heimgebracht, die neben der zwölftausend Bände umfassenden Bibliothek der Hertefelder noch heute in Liebenberg bewundert werden. Während aber die meisten Hertefelds froh waren, wenn der Hof, dem sie die Kritik nicht ersparten, sie nach ihrem Behagen leben ließ, wollten fast alle Eulenburgs, darin den auf ostpreußischer Erde gewachsenen Familien ähnlich, an der bürgerlichen und militärischen Verwaltung mitwirken. Ihr Wille zur Macht hat sich oft durchgesetzt; und boshaft übertreibender Witz hat sie deshalb »die eigentlich regierende Familie« genannt. Im Kreis der Standesgenossen hält man sie für besonders klug, für geborene Politiker. Vielleicht danken sie solche Gabe dem Zwergenvolk, das, nach einer Familiensage, im Prassener Schloß gehaust haben soll. Als in einer Hochzeitnacht die Kleinen sich über einen Eulenburg, der ihre Tanzfreude störte, geärgert hatten, bestimmten sie, dem Geschlecht dürfen nie mehr als dreizehn Lebende angehören. Ob die liliputischen Junker sich später der Solidarität aller konservativen Interessen entsannen und, weil sie sich nichts vergeben durften und des Fluches Gewicht doch mindern wollten, die dreizehn verschonten Äste mit ungemeiner Frucht begabten? Möglich, wie alles, was in alten Chroniken steht. Jedenfalls gelten die Eulenburgs als politische Köpfe, als die stärksten und wichtigsten Persönlichkeiten des Hofadels. Sie haben früh mit dem Hause rechnen gelernt, dessen Ahnherr anderen Edlen nur der »Tand von Nürrenberg« war, haben wie der Efeu, nach einem Wort Wilhelms des Zweiten, sich um dieses Haus gelegt und wohl nie die Stimmung gekannt, die einen Hertefeld vernünftige Landesverfassungen« herbeisehnen ließ, »die Kraft haben, die Großen zu binden«.

Weil den Eulenburgs der Ruf politischer Klugheit anhaftet, halten viele sie heute noch für die Träger einer besonderen Familienpolitik. Weil von dem Liebenberger Eulenburg seit Jahren am meisten gesprochen wird, glaubt man, in ihm gerade verkörpere sich Ehrgeiz und Intelligenz des gefürchteten Hauses. Und weil im Oktober 1894 über das (schon lange nicht mehr zweifelhafte) Schicksal des Grafen Caprivi die formale Entscheidung in Liebenberg fiel, ist der Burgberg des uckermärkischen Gutes in der von Gespensterfurcht aufgescheuchten Phantasie allmählich zu einem Blocksberge geworden, wo einmal mindestens in jedem Jahr um Mitternacht höllische Künste getrieben werden.

Die Eulenburgs sind heute noch stark. Dreien von ihnen strahlt sichtbar die Sonne der Gunst. Davon ist einer, als Oberhofmarschall, täglich, ein anderer, als Freund und Reisegefährte, sehr oft in der Nähe des Kaisers. Daß eine solche Familie manches zu erreichen, manches zur rechten Stunde ins ihr beliebende Licht zu rücken vermag, scheint gewiß; doch nicht minder, daß keiner der Begnadeten den Wunsch hegen kann, seine angenehme Position gegen das Amt des verantwortlichen Politikers auszutauschen. Als Caprivi durch Strömungen, die seine fromme Unerfahrenheit überraschten, zu dem Versuch gedrängt wurde, aus katholischen und sittsam liberalen Abgeordneten eine Mehrheit zu schaffen, war das Interesse des protestantischen Preußenadels bedroht und die Eulenburgs hatten Grund, die Entlassung des Kanzlers zu wünschen. Heute aber brauchen sie eine der preußischen Adelspartei feindliche Politik nicht zu fürchten; und sicher strebt keiner von ihnen danach, die Last der kommenden Zollkämpfe auf sich zu nehmen. Keiner; am wenigsten der Fürst zu Eulenburg und Hertefeld. Der ist kein Hertefeld (der Name ist seit 1898 dem des jeweiligen Inhabers des Hertefeldischen Fideikommisses vereint), aber auch kein typischer Eulenburg. Er ist Spiritist, dichtet, komponiert und gehört zu den Leuten, von denen Goethe gesagt hat: »Es ist das Wesen der Dilettanten, daß sie die Schwierigkeiten nicht kennen, die in einer Sache liegen, und daß sie immer etwas unternehmen wollen, wozu sie keine Kraft haben.« Des Künstlers, nicht des Politikers Lorbeer sucht dieses Dilettanten Seele. Er hat es, nach einigem Ungemach, das die Diplomatenprüfung ihm bereitet hatte, weit genug gebracht, ist Fürst, Wirklicher Geheimer Rat, erbliches Mitglied des Herrenhauses und Botschafter am Wiener Hof. Lieber noch wäre er Statthalter in den Reichslanden. Doch seine Feinde sogar, die ihm spottend nachsagen, eine gebildete Sprache dichte und sein Sekretär komponiere für ihn, behaupten nicht, er wolle Kanzler werden. Sein Fürstenwappen trägt die Devise: Constantia et virtute; wenn Ehrgeiz ihn triebe, diese Eigenschaften in Berlin zu bewähren, würde er sich nicht so oft krank melden, sondern zu zeigen bemüht sein, wie eifrig er sich in des Reiches Dienst quält.

siehe Bildunterschrift

Caprivi

An einem der letzten Oktobertage des Jahres 1901 lasen wir, der Kanzler sei nach Liebenberg gereist, um dem Kaiser, der beim Fürsten Eulenburg wohne, Vortrag zu halten. Nach Liebenberg! Der Name weckte die einbildnerische Kraft. Was kann Graf Bülow dort wollen? Seinen Vortrag konnte er ja ein paar Stunden früher in Potsdam halten. Da muß Merkwürdiges geschehen sein. Merkwürdiges war wirklich geschehen; nur lag es nicht auf dem Gebiete, das die Spürlust jetzt immer umpürscht. Der französische General Voyron hatte seine Pekinger Briefe veröffentlicht und der Kanzler mußte das Bedürfnis fühlen, die ärgerliche Geschichte sofort mit dem Monarchen zu besprechen. Doch solche einfache Lösung des Rätsels hätte den Produzenten und Konsumenten öffentlicher Meinungen nicht genügt; sie hofften auf eine Krisis, eine Katastrophe von der scheinbar jähen Gewalt der im Oktober 1894 erlebten. Seit Monaten reden sie, hören sie nur von dem neuen Zolltarif und den künftigen Handelsverträgen. Nur darum konnte es sich in Liebenberg gehandelt haben. War nicht eben verbreitet worden, der Kaiser habe gesagt, wenn es nicht gelinge, neue Verträge zu schließen, werde er »Alles kurz und klein schlagen«? Gewiß war es jetzt zum Zusammenstoß gekommen, der Kaiser hatte die Brotwucherpläne verdammt und die Eulenburgs …

La poule blanche heißt ein Bild von Pesne, das im Liebenberger Schloß hängt. Ein schwarzer Hahn wirbt brünstig um ein weißes Hühnchen; gleich, man merkt's, wird der abgewiesene Freier wütend den roten Halslappen schütteln und den zierlichen Liebling des Hofes schrill ankrähen. Beiden Tierleibern hat der Künstler Menschenköpfe gemalt; und an Menschenschicksal sollen sie mahnen. Wie dem weißen Huhn, so geht es nicht auf Federviehhöfen nur den Günstlingen des Glücks: sie werden zuerst umworben, dann beneidet und endlich gehaßt. So ist es auch dem Herrn gegangen, der auf den zärtlich klingenden Rufnamen Phili hört. Dem in die Mark verpflanzten Zweig des eulenburgischen Stammes muß wohl etwas von der Bannmacht alter Zauberruten verliehen sein. Der Vater des Fürsten war, als Adjutant, so weich in Wrangels Gunst gebettet, daß der alte Feldmarschall, der sonst kein Kostverächter war, als er in Ruppin das erste Glied einer Ehrenjungfernschar abgeküßt hatte, dem Major ermunternd zurief: »Eule, küsse weiter!« Den viel jüngeren Mann nannte der Greis seinen Freund, »in Leid und Freude eine Stütze und treuen Stab.« Der Sohn hat noch höhere Gunst gewonnen und darf sich nicht darüber wundern, daß er manchen ein Dorn im Auge ist. Die persönliche Stellung neidet man ihm und dichtet ihm, um die unkleidsame Regung zu bergen, politischen Ehrgeiz größten Stils an. Jahrelang dauert der Spuk; ob er endet, wenn dem Träger das Laken vom Leibe gerissen ist, das allein ihn gespensterhaft wirken ließ? Der Fürst zu Eulenburg kann nicht im Reichsanzeiger verkünden, nie erklinge in Liebenbergs Mauern das leidige politische Lied, niemals; nur von schönen Künsten werde da, von des Wikingers Meerfahrerlust und vom Spiritismus gesprochen. Seine Freunde aber sollten daran erinnern, daß ein Herr, seit er den Titel des Botschafters trägt, so viel gedichtet hat, zu bösem Trachten gar keine Zeit finden konnte. Und genügt auch dieses Argument nicht, dann sollte der leidende Held der Legende selbst nach der guten Waffe greifen und den Skalensängen und Metliedern, den Waldmärchen und Seemärchen das Märchen von Liebenberg folgen lassen. Ein lohnender Stoff.

Kaiser und Kanzler

14. August 1902: Telegramm des Kaisers aus Swinemünde an den Prinzregenten Luitpold.

Bernhard Ernst von Bülow, der die beiden mecklenburgischen Großherzogtümer im Bundesrat vertrat, als über die Versailler Verträge abgestimmt werden sollte, wurde beinah wütend, da er am 28. November 1870 erfuhr, welche Sonderrechte Bayern sich vorbehalten habe. Die Vertretung Preußens im Vorsitz des Bundesrates, das Recht, Gesandte zu halten, die Partikularstellung im Heer, der Diplomatische Ausschuß, der unter Bayerns Präsidium die auswärtige Politik kontrollieren sollte: das alles ärgerte den in Holstein geborenen Mecklenburger. Doch Bayern war unter anderen Bedingungen für den Ewigen Bund nicht zu haben, bis zur bindenden Abstimmung blieb nur eine Frist von zwei Tagen; und so schrieb der Bevollmächtigte denn an seinen Landesherrn nach Orleans: »Wir sind zu der Überzeugung gelangt, daß die Verantwortung einer Ablehnung noch größer sein werde als die der Annahme. Wir haben uns namentlich sagen müssen, daß Graf Bismarck diesen Vertrag als ein Ganzes, als einen großen politischen Akt betrachtet habe, den er so nicht abgeschlossen hätte, wenn Bayerns Eintritt wohlfeiler und mehr im System und Schema der Verfassung zu haben gewesen wäre. Eine andere Frage ist, ob Bayern nicht klüger gehandelt hätte, einfach als primus inter pares einzutreten, auf sein Recht und sein eigenes Gewicht vertrauend, statt, wie jetzt der Fall, durch Ausnahmen zweifelhaften Wertes und zweifelhafter Dauer die Bundesgenossen zu verstimmen. Der Diplomatische Ausschuß wird sachlich keinen großen Einfluß oder Geschäftskreis haben, nur Bayern eine gewisse Wichtigkeit geben; aber er stört die Gleichberechtigung.« Aus jedem Wort spricht mühsam verhaltener Groll. Auch die übrigen Exzeptionen seien »im Ganzen unzweckmäßig«; immerhin werde »das Triebwerk föderaler«, die Gefahr eines straff zentralisierten Staates gemindert und man könne deshalb die offene Ablehnung der bayerischen Ansprüche vermeiden. Long ago. Bayerns Sonderrecht ist in den großen Reichsangelegenheiten Jahrzehntelang nie als lästig empfunden worden. Jetzt aber muß man sich der schweren Wehen, aus denen die Reichsverfassung entbunden ward, wieder erinnern. Denn im zweitgrößten Bundesstaat hat die Mehrheit des Volkes sich in leidenschaftlicher Erbitterung gegen eine Ingerenz des Reichsoberhauptes erhoben; und der verantwortliche Leiter der Reichsgeschäfte ist der Sohn des Mannes, der den bayerischen Sonderrechten nur eine »zweifelhafte Dauer« zusprach. Den Inhalt der von seinem Vater verfaßten Staatsschriften hat der pietätvolle Sinn des Grafen Bernhard von Bülow sich gewiß längst eingeprägt. Doch er sollte auch nicht versäumen, in den Akten der Reichskanzlei den Erlaß zu suchen, in dem Bismarck Preußens Gesandten am Münchener Hof ermahnte, unter keinen Umständen sich in bayerische Händel zu mischen.

Die Mahnung scheint leider vergessen. Am 14. August lasen die Deutschen, las das Ausland die folgende, an den Prinzregenten von Bayern gerichtete Depesche des Kaisers: »Von meiner Reise eben heimgekehrt, lese ich mit tiefster Entrüstung von der Ablehnung der von Dir geforderten Summe für Kunstzwecke. Ich eile, meiner Empörung Ausdruck zu verleihen über die schnöde Undankbarkeit, welche sich durch diese Handlung kennzeichnet, sowohl gegen das Haus Wittelsbach im allgemeinen als auch gegen Deine erhabene Person, welche stets als ein Muster der Hebung und Unterstützung der Kunst geglänzt. Zugleich bitte ich Dich, die Summe, welche Du benötigst, Dir zur Verfügung stellen zu dürfen, damit Du in der Lage seiest, in vollstem Maße die Aufgaben auf dem Gebiete der Kunst, welche Du Dir gesteckt hast, zur Durchführung zu bringen. Wilhelm.« Auch die Antwort Luitpolds von Bayern wurde mitgeteilt. Sehr höflich, sehr korrekt. Der Prinzregent spricht nicht, wie der Kaiser, von einer persönlichen Sache, sondern von einer Angelegenheit seiner Regierung. Die Annahme des angebotenen Geschenkes wird, als unmöglich, gar nicht erst erwähnt, sondern nur berichtet, ein im Reichsrat sitzender Privatmann habe das Geld schon zur Verfügung gestellt. Die beiden Depeschen waren von Wolffs Telegraphischem Büro veröffentlicht und mit dem Satz eingeleitet worden: »Wie wir aus München erfahren.« Das sollte die Leser zu dem Glauben stimmen, die Publikation sei von der bayerischen Regierung ausgegangen. Nur die naivsten Gemüter konnten sich durch diesen Kniff täuschen lassen. Die Münchener Offiziösen haben dann auch rasch erklärt, aus Bayern sei kein Wort von dem Depeschenwechsel in die Öffentlichkeit gelangt. Die Telegramme sind also, vier Tage nach ihrer Absendung, von Berlin aus, ohne vorher eingeholte Einwilligung der bayerischen Instanzen, veröffentlicht worden.

»Von meiner Reise eben heimgekehrt, lese ich mit tiefster Entrüstung von der Ablehnung der von Dir geforderten Summe für Kunstzwecke«. Wo las das der Kaiser? In einem Bericht des Reichskanzlers? Des am Münchener Hof beglaubigten preußischen Gesandten? Oder in einer Zeitung, vielleicht gar einer, der die Taktik gebot, das Verhalten des politischen Gegners falsch darzustellen, die Tendenz seines Wollens zu färben? Darf auf eine Zeitungsnachricht sich der Entschluß zu einer Staatsaktion stützen, deren Folgen unabsehbar sind? Jeder amtliche Bericht hätte, wenn er nicht von der Wahrheit wich, dem Kaiser die Vorgänge anders geschildert. In Bayern werden, wie in allen konstitutionellen Monarchien, die Vorlagen im Namen des Regenten in die Parlamente gebracht. Diese Formel bedeutet aber nicht etwa, jede Forderung sei nun als eine persönliche Sache des Regenten, jede Ablehnung als eine ihm zugefügte Kränkung zu betrachten; sonst hätte das Budgetrecht der Volksvertretung überhaupt keinen Sinn, wäre es wenigstens eine in der Hand des Monarchisten unbrauchbare Waffe. In allen Parlamenten der Erde werden, auch von den loyalsten Parteien, Geldforderungen abgelehnt und nie hat, seit den Tagen der letzten Stuarts, in solcher Ablehnung, selbst wenn sie einen vom höchsten Repräsentanten des Landes vorher nachdrücklich vertretenen Plan traf, jemand ein Zeichen persönlichen Ressentiments gesehen. Die Aufgabe der Parlamente ist nicht, den Staatsoberhäuptern Gefälligkeiten zu erweisen, sondern, zu fördern, was ihnen nützlich, zu hindern, was ihnen überflüssig oder schädlich scheint. In Bayern hat es sich nicht, wie der Kaiser meint, um eine vom Prinzen Luitpold, der Verweser des Königreiches, nicht König ist, für Kunstzwecke verlangte Summe gehandelt, sondern um einzelne Forderungen aus dem Extraordinarium des Kulturetats. Taktische Erwägungen haben das bayerische Zentrum bestimmt, nicht den ganzen Etat, sondern nur einzelne Forderungen des Kultusbudgets abzulehnen. Das geschieht in Großbritannien, dem Stammlande des Parlamentarismus, sehr oft; von den geforderten Summen werden winzige Beträge, zehn, fünfzig, hundert Pfund Sterling, gestrichen, um die Regierung oder einen einzelnen Minister erkennen zu lehren: Du bist nicht mehr der Träger unseres Vertrauens. Nach diesem Muster hat das bayerische Zentrum gehandelt; es hat seine Weigerung auf den Geschäftskreis des Kultusministeriums beschränkt und damit unzweideutig gesagt. Auf diesem Gebiet haben wir, seit der verantwortliche Leiter zum Rücktritt gedrängt worden ist, das Vertrauen zur Politik der Regierung verloren. An diesem Verfahren ist nichts zu tadeln; wer in den nach hartem Kampf erstrittenen konstitutionellen Einrichtungen nicht nur ein wesenloses Ornament sieht, der muß, mag er Atheist, Protestant, Jude oder Buddhist sein, sich der Tatsache freuen, daß eine Partei, statt mit ohnmächtigen Keifreden die Luft zu erschüttern, offen und ohne Zagen die Machtmittel anwendet, deren Gebrauch ihr in der Verfassung verbürgt ist.

Unter den gestrichenen Summen waren auch hunderttausend Mark, die alljährlich zu Ankäufen für die Neue Pinakothek gefordert werden. Ob dieser karge Betrag bewilligt oder verweigert wird, ist für die Kunstkultur des Landes ganz gleichgültig. Staatsunterstützung hat in moderner Zeit noch nie eine gesunde, kräftige Kunst geschaffen oder auch nur am Leben erhalten. Die Kunsttendenzen des bayerischen Zentrums werden freilich Vielen mißfallen. Aber auch dem Deutschen Kaiser? Die Münchener Landtagsmehrheit wird fast überall, wo es sich nicht um in majorem Borussiae gloriam auf Bestellung gemalte oder gemeißelte Werke handelt, mit dem Reichsoberhaupt im Kunsturteil zusammentreffen. Wilhelm der Zweite müßte, wenn er im bayerischen Landtag oder Reichsrat säße, nach seiner inneren Überzeugung jeden Heller der für Kunstzwecke geforderten Summen verweigern, denn sie werden zum größten Teil der modernen Kunst zugewandt, die, nach des Kaisers Wort, »in den Rinnstein niedersteigt und überhaupt keine Kunst ist«. Als der Monarch neulich in Düsseldorf war, wurde, um seinem Auge ein Ärgernis zu ersparen, von getreuen Stadtvätern in der Königsallee über dem Portal einer Bilderausstellung das Schild mit der Aufschrift »Freie Kunst« entfernt und durch eine Girlande ersetzt; in derselben Stadt sprach er sich, wie in den Zeitungen erzählt wird, in der Großen Kunstausstellung »so abfällig über Klingers Beethoven aus, daß die Heiterkeit der Anwesenden erregt wurde«. »Am meisten,« heißt es weiter, »fesselte ihn die kunsthistorische Abteilung, die er sich in allen Einzelheiten vom Domkapitular Schmitzen zeigen ließ.« Genau so hätte ein Zentrumsführer geurteilt. Die Frommen beider Bekenntnisse wittern in der modernen Kunst, die weder der Kirche noch dem Staat Magddienste leisten will und einer natürlichen Schöpfungsgeschichte nachzuschauen strebt, ein feindliches Element und bekämpfen sie deshalb mit dem Recht subjektiver Weltanschauung. Was von Sprechern der bayerischen Landtagsmehrheit über die Kunst gesagt worden ist, könnte auch vom Deutschen Kaiser gesagt worden sein, ist zum Teil, fast mit denselben Worten, von ihm gesagt worden. Hier aber handelt sich's zunächst um Politik, nicht um Kunstgeschmack. Und wenn die Münchener Zentrumsleute die rohesten Banausen wären, Böotier, Barbaren, wenn sie vor jeder starken Regung künstlerischer Kultur so fremd und verständnislos ständen wie ein Zugtier vor Michelangelos Mediceergruft: auch dann noch hätten sie das Recht nicht nur, nein, auch dann noch die Pflicht, ihrer Überzeugung das politische Handeln anzupassen.

Alle Voraussetzungen, deren Zusammenwirken Wilhelm den Zweiten in »Entrüstung«, »Empörung« trieb, sind, wie die nüchterne Nachprüfung lehrt, unrichtig. Wären sie aber richtig, so müßte jeder, der's mit dem Reich und dem Kaiser gut meint, diese Kundgebung des Zornes dennoch bedauern. Gewiß: sie ist nicht die erste ihrer Art. Als der Reichstag den Antrag, Bismarck zum achtzigsten Geburtstag zu gratuliren, abgelehnt hatte, telegraphierte der Kaiser: »Euer Durchlaucht ausspreche Ausdruck tiefster Entrüstung über eben gefaßten Beschluß Reichstages«. (In Parenthese sei hier bemerkt, daß Fürst Bismarck ein paar Wochen danach gesagt hat, er hätte als Kanzler dem Kaiser von einer so scharfen öffentlichen Kritik eines rite gefaßten Reichstagsbeschlusses entschieden abgeraten.) Am Sedantag desselben Jahres wurde die Sozialdemokratie, für die anderthalb Millionen Deutsche gestimmt hatten, eine »hochverräterische Schar« und »eine Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen Deutscher zu tragen«, genannt. Neuere Äußerungen über die »Frechheit und Unbotmäßigkeit« der Berliner Bürger, vor denen im März 1848 ein Preußenkönig den Hut zog, über Reklame- und Rinnsteinkünstler, polnischen Hochmut und sarmatische Frechheit sind noch in aller Gedächtnis. Wenn die Agrarier Brotwucherer, Bismarckgemeinde und Freisinn Nörgler verschiedener Sorten, die Christlich-Sozialen unduldsam und unsinnig, die Gegner der Flottenvermehrung vaterlandlose Gesellen, die Polen freche Feinde des Staates, die Sozialisten Hochverräter und Mordstifter sind, wenn sogar die Politik des Zentrums mehr als einmal das Reichshaupt zu »tiefster Entrüstung« stimmt: was bleibt dann dem Kaiser der Deutschen und vor welcher nationalen Willenseinheit soll dann der Haß des Fremdlings das Fürchten lernen? … Genau wie in allen früheren Fällen war jetzt der Verlauf; nur sind diesmal auch die Kommentare der bayerischen, nicht nur der ausländischen Presse »nicht wiederzugeben«. Das scheidet den Vorgang von allen bisher erschauten. Schon oft hat der Kaiser über das Parlament und die Parteien des Reiches, der König von Preußen über Wollen und Handeln seiner nächsten Landsleute heftige Worte gesprochen. Diesmal hat er in die nicht zur Reichskompetenz gehörenden inneren Händel eines autonomen Bundesstaates eingegriffen und die Vertreter der Volksmehrheit dieses Staates mit schroffstem, härtesten Tadel gekränkt. Das Geplärr, »Hochherzigkeit«, nicht die tadelnswerte Absicht, die Bayern die Eisenfaust des Imperators fühlen zu lassen, habe den Kaiser zu solchem Eingriff getrieben, ist sinnlos, ist das Produkt schlotternder Feigheit, die nicht Farbe zu bekennen wagt. Des Reiches Verfassung bürdet dem Bundespräsidenten, der den Namen Deutscher Kaiser führt, viele Pflichten auf und gibt ihm nur wenige Rechte. Darunter ist nicht das Recht, die in den Bundesstaaten geleistete legislative Arbeit zu kontrollieren und Parteien zu schelten, die auf vom Gesetz und von freier Überzeugung gewiesenen Wegen auf einen Standpunkt gelangt sind, der dem Bundespräsidenten mißfällt. Die Kaisermacht ist ein köstliches Gut; aber sie ist durch die Reichsverfassung beschränkt. Als Karl der Erste vom englischen Parlament die Anerkennung seines sovran power heischte, stand Sir Edward Coke, der Patriarch unter den britischen Rechtsgelehrten, auf und rief der Meute, die immer und überall hündisch fühlt, mit letzter Kraft die Sätze zu: »Solches Zugeständnis lockert die Grundlagen unserer Verfassungrechte! Magna Charta ist ein strammer Bursche, der keinen sovran power über sich duldet.« Und der Name dieses mutigen Greises lebt unvergänglich in Großbritanniens Heroengeschichte.

Der Beamte, der vor allen anderen berufen ist, mit gleicher Umsicht und Energie den Sinn der Verfassung und die Person des Kaisers zu schützen, ist der Reichskanzler, der kaiserliche Minister, der sich, wenn er sein Amt ernst nehmen will, nicht, wie ein Verwaltungsbeamter, zu stummem Gehorsam verpflichten darf. Er hat in private Handlungen des Kaisers, von denen politische Wirkung nicht zu erwarten ist, nicht dreinzureden, sich sofort aber zu regen und seinen Rechtsanspruch geltend zu machen, wenn der Wille des Bundespräsidiums nach Betätigung strebt. Der Kaiser kann sprechen und schreiben, was ihm beliebt, Reden und Depeschen an Jeden richten, den er dazu geeignet findet: Niemand darf ihn hindern, auch der Reichskanzler nicht. Zu Veröffentlichung solcher Reden und Schriften ist aber eine Anordnung, eine Verfügung des Kaisers nötig; und Artikel 17 der Verfassung bestimmt: »Die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, der dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt.« Der Zweck dieser Bestimmung war, dem Kaiser unter allen Umständen die Gefahr einer Verantwortlichkeit zu ersparen. In den Blättern, die den Weisungen des Grafen Bülow zugänglich sind, ist erklärt worden, er habe die Depesche des Kaisers erst aus den Zeitungen kennen gelernt. Nichts weiter. Kein Wort darüber, ob der Kanzler erforschen will, wessen Verfügung oder Anordnung die Publikation bewirkt hat und wer die Schuld daran trägt, daß die Veröffentlichung mit der Lüge eingeleitet wurde, sie sei von München aus befohlen worden. Der Pflichtenkreis des Kanzlers ist groß; er umfaßt auch »die Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes und den Schutz des innerhalb des Bundesgebietes gültigen Rechtes«. Die Wohlfahrt des deutschen Volkes muß leiden, wenn im zweitgrößten Bundesstaat der Partikularstolz sich zornig gegen den Kaiser waffnet; und zu den im Gebiet des Ewigen Bundes gültigen Rechten gehört auch das bundesstaatlicher Parlamentsmehrheiten, im Etat geforderte Summen nach freiem Ermessen zu bewilligen oder abzulehnen, gehört das Recht jedes Deutschen, gegen öffentlich kränkende Vorwürfe gesichert zu sein, denen die räsonnierende Stimme des Reichshauptes die weiteste, von keines anderen Mundes Gewalt zu übertönende Wirkung verleiht. Der Kanzler muß aus dem Buch der Reichsgenesis erfahren haben, welche Befürchtungen 1870 im bayerischen Landtag laut wurden, muß die Reden der Jörg und Schleich gelesen und in den Erinnerungen des Grafen Otto von Bray-Steinburg den Bericht gefunden haben, den dieser bayerische Ministerpräsident aus Bar-le-Duc an seinen König sandte und der nur aus zwei noch heute beherzigenswerten Sätzen besteht: »Ich habe im Auftrag Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Luitpold weiter zu berichten, daß Graf Bismarck sich dahin äußerte: Preußen und der Nordbund werden bereitwilligst die Vorschläge akzeptieren, die Seine Majestät der König von Bayern nach Allerhöchstseiner Bequemlichkeit im Interesse einer engeren nationalen Einigung sich etwa zu machen veranlaßt sehen würden. Preußen und der Norddeutsche Bund verzichteten aber darauf, auf diese Entschlüsse irgendwelche Pression zu üben, da ein für Norddeutschland günstig gestimmtes Bayern der nationalen Sache mehr nütze als ein widerwillig in nähere Beziehung gebrachtes Land.« So wurde Unwägbares damals geschätzt, so bei jedem Schritt der besonderen Stammesindividualität und des schwer dem Stolz abgerungenen Opfers gedacht, das allen Deutschen das alte Haus Wittelsbach brachte, als es sich entschloß, auf seinem Dach die preußische Spitze zu dulden. Grollend sah es Bernhard Ernst von Bülow; sieht es grollend noch heute sein Sohn? Fühlt er das aufziehende Wetter nicht in den Nerven? Ist ihm nicht zu Ohren gekommen, daß am Abend des vierzehnten Augusttages in einem österreichischen Kasino ein hoher Herr in heller Freude gerufen hat: »Heute müßte alles, was gut habsburgisch ist, eigentlich illuminieren?«

The king can do no wrong. Der Kaiser kann irren, raschen Impulsen in falsche Richtung folgen, nie aber, nach dem gravitätischen Wort der Verfassungsurkunde, niemals zur Verantwortung gezogen werden. Wir haben uns an den Reichskanzler zu halten. Dessen Pflicht ist, den Kaiser ohne Säumen richtig über alle Vorgänge zu informieren und vor sichtbarem Irrtum zu wahren. Ihn kann nichts entschulden. Er ist, auch wenn er am Nordseestrand weilt, für das politische Handeln des Reichshauptes dem Volke verantwortlich; kann er nicht hindern, nicht durchsetzen, daß er vor jeder Entscheidung, auch der unbeträchtlich scheinenden, gefragt wird, dann muß er, um die Amtspflicht nicht verwaisen zu lassen, seinen Abschied erbitten.

Die Feinde des Kaisers

Vier Monate saß Wilhelm der Zweite auf dem Thron; da sagte er zu hauptstädtischen Abgeordneten, die ihm ein kostbares Geschenk anboten, sein Unwille sei im höchsten Grade dadurch erregt, daß die freisinnige Presse »seinen seligen Vater gegen ihn zitiere«. Anderthalb Jahre später drohte er, jeden, der sich ihm entgegenstelle, zu zerschmettern. Im selben Jahr sprach er die Sätze: »Wer kein guter Christ ist, ist auch kein guter Soldat« (womit Ungläubige und Juden aus der Reihe der guten Soldaten gewiesen waren) und: »Die sämtlichen Hungerkandidaten, namentlich die Herren Journalisten, sind verkommene Gymnasiasten.« 1891: »Die Kartelle sind unhaltbar und ungesund.« »Der vornehmste Umgang für den Soldaten ist der Soldat, nicht das Zivil.« 1892: »Die mißvergnügten Nörgler sollen den deutschen Staub von ihren Pantoffeln schütteln. Ihnen wäre dann ja geholfen und uns täten sie einen großen Gefallen damit.« 1893: »Ich hoffte von dem patriotischen Sinn des Reichstages die unbedingte Annahme der Militärvorlage. Darin habe ich mich leider getäuscht. Eine Minorität patriotisch gesinnter Männer hat gegen die Majorität (der nicht patriotisch gesinnten) nichts zu erreichen vermocht.« 1894: »Für anderthalb Mark Zolldifferenz sollte den Konservativen ihr Patriotismus doch nicht feil sein.« »Eine Opposition preußischer Adeligen gegen ihren König ist ein Unding; sie hat nur dann eine Berechtigung, wenn sie den König an ihrer Spitze weiß.« »Ihr Rekruten tragt jetzt des Kaisers Rock und seid dadurch den anderen Menschen vorgezogen.« 1895, als der Antrag des Grafen Kanitz empfohlen wurde: »Sie können mir doch nicht zumuten, daß ich Brotwucher treibe!« Am Sedantag desselben Jahres: »Eine Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen Deutscher zu tragen, wagt es, das deutsche Volk zu schmähen, wagt es, die uns geheiligte Person des allverehrten verewigten Kaisers in den Staub zu ziehen. Möge das gesamte Volk in sich die Kraft finden, diese unerhörten Angriffe zurückzuweisen! Geschieht es nicht, nun, dann rufe ich meine Garden, um der hochverräterischen Schar zu wehren, um einen Kampf zu führen, der uns von solchen Elementen befreit.« Als im Elsaß ein Fabrikant ermordet worden war: »Wieder ein Opfer mehr der von den Sozialisten angefachten revolutionären Bewegung!« 1896: »Stoecker hat geendet, wie ich es vor Jahren vorausgesagt habe. Christlich-Sozial ist Unsinn und führt zu Selbstüberhebung und Unduldsamkeit.« 1897, zu Studenten, die mit Fackeln vors Schloß zogen: »Sorgen Sie dafür, daß im Volke nicht mehr so viel genörgelt wird.« An den Prinzen Heinrich von Preußen: »Vaterlandlose Gesellen haben die Anschaffung der notwendigsten Schiffe zu hintertreiben gewußt.« Bei einer Rekrutenvereidigung: »Wer kein guter Christ ist, der ist kein braver Mann«. 1898, an den Regenten von Lippe-Detmold: »Dem Regenten, was dem Regenten zukommt, weiter nichts. Im übrigen will ich mir den Ton, in welchem Sie an mich zu schreiben für gut befunden haben, ein für alle Male verbeten haben«. Auch in den Jahren, die seitdem verstrichen sind, haben wir ähnlich klingende Worte oft gehört, die einstweilen letzten vor ein paar Tagen: »Ich habe das Gefühl, daß alles, was das Land geworden und was das Reich geworden, schließlich beruht auf einer festen Säule; und diese Säule ist die Mark Brandenburg«. 1890 und 1894 hatte der Kaiser gesagt: »Die Provinz Ostpreußen ist nach meiner Überzeugung die Säule des Vaterlandes, die Stütze der Monarchie.« Jedem dieser Sätze sind Kommentare gefolgt, freundliche und unfreundliche, jedem ist nachgesagt worden, wie er gemeint sei, nur gemeint sein könne, jeder ward nach kurzen Lebensstunden vergessen und tauchte höchstens in Epigrammen manchmal wieder auf. Jetzt ist es anders. Die Depesche, die aus Swinemünde an den Prinzregenten von Bayern abging, ist fast schon drei Wochen alt und beschäftigt doch heute noch die ernstesten Geister. Wenn die Bewohner eines jungen, künstlich geschaffenen Reiches, die alte Stammesantipathien noch nicht völlig überwunden haben, auf ihre Grundrechte und Sonderprivilegien zu pochen beginnen, wenn die Wurzeln der Verfassung ausgegraben und auf dem lauten Markt geprüft werden, dann droht der dem Gemeinwesen unentbehrlichen Willenseinheit eine Gefahr, die nur der Leichtsinn unterschätzen kann. Das fühlt jeder; und deshalb will nicht so rasch wie sonst diesmal die Sorge verstummen.

Jeder fühlt's; doch nicht jeden drängt die Stimme der Pflicht zu offenem Bekenntnis. Die Schar der Unfreien, der Königischen, der Ministerialen und gemieteten Schreiber muß schweigen. Andere, die es auf ihre Art gut meinen, dünken sich die besseren Patrioten, wenn sie tun, als sei nichts Ungewöhnliches geschehen, von einer Erregung des Volkes nirgends, im Süden nicht und erst recht nicht im Norden, etwas zu merken und der ganze Lärm nur von ein paar Pfaffenknechten und Preßschwätzern gemacht. Das glauben sie selbst natürlich nicht, hoffen aber, wenn sie's nur laut genug sagen, in dem bourgeoisen Ruhebedürfnis ein Echo zu wecken. Höchst aufgeklärte Leute vielleicht, die sich über manches hinwegsetzen, an einer Ecke aber, wie der kleine Taktiker Clavigo, mit Zwirnsfäden festgebunden sind und noch immer wähnen, durch Besprechen sei Krankheit zu heilen. Sie rufen: Was wollt Ihr Nörgler denn eigentlich? Den Kaiser kennt Ihr doch nicht seit gestern. Gerade weil Ihr frühere Reden und Telegramme in treuem Gedächtnis bewahrt, dürft Ihr Euch jetzt nicht so erstaunt stellen. Wilhelm der Zweite ist nun einmal, wie er ist, und eine so starke Persönlichkeit wird sich nicht ändern. Er ist sein eigener Kanzler. Von ihm sind alle wichtigen politischen Entscheidungen der letzten zwölf Jahre ausgegangen. Er verhandelt, so oft es ihm nötig scheint, selbst mit den bei ihm beglaubigten Botschaftern und nimmt sich nicht immer die Zeit, jede aufdämmernde Möglichkeit lang und breit mit seinen Ministern zu besprechen. Das geben wir zu; auch, daß Marschall nicht wußte, ein deutscher Kreuzer sei nach Kreta gesandt, Hohenlohe nicht, den Buren sei »die Hilfe befreundeter Mächte« in Aussicht gestellt worden, und so weiter. Das ist kein Unglück. Habt Ihr den jungen Kaiser des zweiten Faustteiles nie gekannt? »Ihm ist die Brust von hohem Willen voll, doch, was er will, es darf's kein Mensch ergründen. Was er den Treusten in das Ohr geraunt, es ist getan; und alle Welt erstaunt,« Endlich solltet Ihr Euch in die längst nicht mehr neue Situation gefügt haben. Wenn's so weit war, hat sich noch jedesmal ein Minister gefunden, der die Verantwortung übernahm. So wird's auch diesmal werden. Würde es etwa besser, wenn Bülow ginge? Nein. Also müssen wir wünschen, daß er bleibt und das Staatsinteresse nicht durch allzu häufigen Personenwechsel geschädigt wird. Ihr scheltet den Kanzler und meint den Kaiser. Ihr seid Heuchler, seid feige, tückische Friedensstörer …

Solche Stimmen soll man, auch wenn sie im Ton eines für seine Kirschen zitternden Marktweibes kreischen, nicht hochmütig überhören. Sie berufen sich auf das Volk. Haben sie es belauscht, auf dem Feld, in der Werkstatt, in Studierstuben und Schänken? »Wir brauchen«, sagt Goethe, »in unserer Sprache ein Wort, das, wie Kindheit sich zu Kind verhält, so das Verhältnis Volkheit zum Volk ausdrückt. Der Erzieher muß die Kindheit hören, nicht das Kind; der Gesetzgeber und Regent die Volkheit, nicht das Volk. Jene spricht immer dasselbe aus, ist vernünftig, beständig, rein und wahr. Dieses weiß niemals für lauter Wollen, was es will. Und in diesem Sinn soll und kann das Gesetz der allgemein ausgesprochene Wille der Volkheit sein, ein Wille, den die Menge niemals ausspricht, den aber der Verständige vernimmt, den der Vernünftige zu befriedigen weiß und der Gute gern befriedigt.« Will einer leugnen, daß die deutsche Volkheit, so verschieden ihre Bestandteile sein mögen, längst in einer Besorgnis zusammenstimmt? Löst ihr für einen Tag nur die Zunge, gebt ihr das Recht, geheimes Trachten ans Licht zu bringen: eines Wunsches Angstschrei wird euch ins Ohr dröhnen. Und auch ohne solche Eintagsfreiheit muß, wer nicht taub ist oder sich taub stellt, vernommen haben, was in Hofsälen und Hütten, in Ministerien und Fabriken, auf der Tenne und am Strande seit Jahren geflüstert wird.

Die Verfassung des Deutschen Reiches weiß nichts von einem Kaiser, der sein eigner Kanzler ist; die gibt Kaiser und Kanzler verschiedene Rechte, verschiedene Pflichten. Genügt sie dem Bedürfnis nicht mehr, dann soll man sie morgen ändern, mit Stimmenmehrheit oder dem Gewaltrecht des Stärksten, und versuchen, ob ein reifes, differenziertes Europäervolk von dem Willen eines jeder Kritik und Kontrolle entrückten sterblichen Menschen zu leiten, ohne Schaden für Hirt und Herde vorwärts zu führen ist. Solange die Verfassung aber noch besteht, haben wir in dem Kanzler ihren höchsten Hüter zu sehen.

Und an den Kanzler haben wir eine Forderung, die zugleich unzweideutige Antwort auf die Frage gibt, »was wir eigentlich wollen«. Er soll aufhören, sich den leitenden Staatsmann zu nennen und zu sagen, so lange er auf seinem Posten ausharre, könne kein irgendwie wichtiger Entschluß ausgeführt werden, den er nicht gebilligt hat. Er soll dem Bundesrat und dem Reichstag offen erklären, der Kanzler sei wieder geworden, was er sein sollte, ehe dem Artikel 17 des Verfassungsentwurfes der Schlußsatz zugefügt wurde: ein Präsidialgesandter im Sinne der Bundestagszeit. Dann kann er ruhig leben und in der Wilhelmstraße zu hohen Jahren kommen; nur das tragikomische Mühen, mehr zu scheinen, als sie waren, hat seine Vorgänger um das Ansehen und schließlich auch um das Amt gebracht. Genügt solche Beamtenrolle dem Grafen Bülow nicht, dann muß er seine Entlassung erbitten. Er ist, nicht zum ersten Mal, in einer Angelegenheit, die Fürsten und Völker verstimmt hat und deren Folgen in der Haltung unentbehrlicher Parteien fühlbar werden können, die also keine Kleinigkeit ist, übergangen worden. Er hat nicht verborgen, daß die Publikation des Depeschenwechsels ihm eine sehr unangenehme Überraschung brachte. Wegen viel unbeträchtlicherer Dinge hat Bismarck mehr als einmal seinen König gebeten, ihn von der Amtspflicht zu entbürden. Der alte Herr hat dann erwogen, ob er seinen persönlichen Wunsch oder seinen ersten Minister opfern solle. Der zweite Wilhelm hat noch nie einen harten Willen gefunden, der sich seinem nicht beugte, nie einen Mann, der in aufrechter Ehrfurcht dem Wink des Herrn den Gehorsam zu weigern wagte. Der Kaiser weiß nicht, wie oft die drei Kanzler die Verantwortlichkeit für sein Handeln im Privatgespräch seufzend abgelehnt und sie nur, um sich den Schmerz der Scheidestunde zu sparen, öffentlich, zu spät, auf sich genommen haben. Er kann, er muß glauben, daß nur boshafte Nörgler Gefahren in einem Zustand sehen, mit dem die besten Patrioten und die Räte der Krone sehr zufrieden sind. Graf Bülow ist nicht damit zufrieden; er hat's in Berlin, an der Nordsee, auf Österreichs Bergen, in Bayreuth ausgesprochen. Er ist jung, nicht militärisch erzogen und von rüstigem Selbstgefühl. Er kann seinem Kaiser zu der wertvollsten Regentenerfahrung helfen, zu der, daß es Männer gibt, denen das Wesen mehr gilt als der Schein, die Pflicht mehr als die Pfründe. Und er ginge nicht als ein verbrauchter, gering geschätzter Diener, der seine Kraft an die fruchtlose Arbeit verzettelt hat, dem Volk zu sagen, was die Volkheit nicht glaubt.


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