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Das Volkslied.

Breslau.

Fürstenzimmer des Hauptbahnhofes, sechzehn Arbeiter im Bratenrock. Sie kamen, um dem Deutschen Kaiser zu danken, und ihr Sprecher hat seine Rede gut gelernt. Er bringt, im Namen der Kameraden, »ehrfurchtvollen Dank« und »untertänigste Huldigung«; »tief empfundenen Dank für das in der Essener Rede den deutschen Arbeitern geschenkte Vertrauen«; das Gelöbnis »unentwegter Treue« und die Bitte: »Gott möge Eure Majestät segnen und schützen immerdar!« Fromme Christen also und zuverlässige Monarchisten. In Essen hat der Kaiser gesagt, ein im »Vorwärts« über angeblich homosexuelle Neigungen Krupps veröffentlichter Artikel sei »eine Tat, so niederträchtig und gemein, daß sie aller Herzen erbeben gemacht und jedem Patrioten die Schamröte auf die Wange treiben mußte über die unserem ganzen deutschen Volk angetane Schmach.« Für die »Schandtat« hatte er die ganze sozialdemokratische Partei verantwortlich gemacht, deren Anhänger nicht mehr würdig seien, sich Deutsche zu nennen, und den Arbeitern zugerufen: »Wer nicht das Tischtuch zwischen sich und diesen Leuten zerschneidet, legt moralisch gewissermaßen die Mitschuld (an einem Mord) auf sein Haupt.« Diese Worte waren vor ein paar Tagen gesprochen: und schon nahten schlichte Männer aus der Werkstatt und dankten dem Kaiser. Der war »von freudiger Befriedigung erfüllt«, weil »die Arbeiter Breslaus sich entschlossen haben, zu ihrem König und Landesvater zu kommen«, und sprach zu den sechzehn frommen Christen und zuverlässigen Monarchisten: »Jahrelang habt Ihr und Eure Brüder Euch durch Agitatoren der Sozialisten in dem Wahn erhalten lassen, daß, wenn Ihr nicht dieser Partei angehörtet oder Euch zu ihr bekenntet, Ihr für nichts geachtet und nicht in der Lage sein würdet, Euren berechtigten Interessen Gehör zu verschaffen zur Verbesserung Eurer Lage. Das ist eine grobe Lüge, ein schwerer Irrtum. Statt Euch objektiv zu vertreten, versuchten die Agitatoren, Euch aufzuhetzen gegen Eure Arbeitgeber, gegen die anderen Stände, gegen Thron und Altar, und haben Euch zugleich auf das Rücksichtsloseste ausgebeutet, terrorisiert und geknechtet, um ihre Macht zu stärken. Und wozu wurde diese Macht gebraucht? Nicht zur Förderung Eures Wohles, sondern, um Haß zu säen zwischen den Klassen, und zur Ausstreuung feiger Verleumdungen, denen nichts heilig geblieben ist und die sich schließlich an dem Hehrsten vergriffen, was wir hienieden besitzen: an der deutschen Mannesehre! Mit solchen Menschen könnt und dürft Ihr als ehrliebende Männer nichts mehr zu tun haben, nicht mehr von ihnen Euch leiten lassen!« Der Bahnhof war, im Dezember, mit grünen Gewinden, Fahnen und Treibhauspflanzen geputzt. Als der Kaiser abgereist war, hörten wir Einiges über die Genesis der »erhebenden Kundgebung«. Acht Breslauer Fabrikanten, die für die Wahrung eines berechtigten Klasseninteresses die Konjunktur günstig wähnten, hatten ihre Arbeiter gefragt, ob sie Einwände gegen den Plan hätten, dem Kaiser, der auf einer Jagdreise durch Schlesiens Hauptstadt kam, eine Deputation auf den Bahnhof zu schicken. Der Winter war hart, der Betrieb in den Tagen arger Industrienot überall eingeschränkt: nur ein kleiner Teil der Gefragten weigerte seine Zustimmung. Unter den älteren, auskömmlich bezahlten Arbeitern gibt es noch immer ja auch einzelne, die der Weltanschauung der Schulze, Duncker, Hirsch nicht entwuchsen; und diesmal war der Sprecher wenigstens nicht, wie einst bei den westfälischen Bergarbeitern und später bei den Tegernseer Theaterspielern, ein Sozialdemokrat, sondern ein brav freisinniger Federschmied. Im Feiertagskleid führte er seine fünfzehn Mann ins Fürstenzimmer. Und der Kaiser war glücklich, weil »die Arbeiter Breslaus sich entschlossen haben, zu ihrem König und Landesvater zu kommen«. Hundert Zeitungen stärkten ihn in diesem Glauben. Hundert Ausschnitte wurden ihm vorgelegt und er las, nun müsse alles sich, alles wenden. Längst habe die Sozialdemokratie ihren Höhepunkt überschritten; von dem tödlichen Kaiserstreich werde sie sich nie wieder erholen. Aus allen Industriebezirken kamen Dankdepeschen und Jubelrufe an Wilhelm den Zweiten. Das Volk huldigte ihm, das ganze, vom drückenden Nachtalben befreite, dankbare Volk. Was tats, daß die rote Rotte der vaterlandlosen Gesellen laut knirschte und ihre besten Männer im Reichstag gegen die Scheltreden protestieren ließ? Damit war nur bewiesen, daß der Hieb gesessen hatte. Herrlich, daß gerade noch vor dem Beginn des Wahlkampfes aus solchem Munde das erlösende Wort gesprochen war! … Da fiel plötzlich ein Reif in die Frühlenzträume. Über die Umstände, die Krupps Ende herbeigeführt oder doch beschleunigt hatten, wurde allerlei bekannt. Man erfuhr, daß der Kanonenkönig an hohen Stellen schlimmen Wandels beschuldigt und hinreichend verdächtig gefunden worden war, ehe ein sozialdemokratisches Blatt über den Capresenklatsch eine Sterbenssilbe veröffentlicht hatte. Das gegen den »Vorwärts« eingeleitete Strafverfahren wurde eingestellt und der Artikel, der, nach des Kaisers Urteil, »aller Herzen erbeben gemacht und jedem Patrioten die Schamröte auf die Wangen treiben mußte über die unserem ganzen Volk angetane Schmach«, konnte auf allen Straßen wieder verkauft werden. Das gab eine Überraschung. Doch die Patrioten faßten sich schnell. Ein formaler Fehler im Strafantrag, weiter nichts; die Sozialdemokratie bleibt dennoch gerichtet und Ihr werdet vor dem Johannistag sehen, daß sie im Volk den Boden verloren hat. »Im Volk.« Wie das Volk denkt, was es sinnt und trachtet, hatte der Dezember mit seinen erhebenden Kundgebungen ja deutlich gelehrt. »Im Volk werden die Reden des Kaisers nicht mißverstanden«: also sprach im Reichstag der Kanzler Graf Bülow.

Sechs Monde gingen. Ein neuer Reichstag wurde gewählt. Keine Fahnen heute, kein Straßenputz. In Breslau stimmte eine ungeheure Mehrheit für die Sozialdemokraten. In Essen wurden achtzehntausend, im Essener Revier fünfzigtausend Stimmen mehr als bei der vorigen Wahl für den sozialdemokratischen Kandidaten abgegeben, für den Vertreter der Partei, von der Wilhelm der Zweite gesagt hatte: »Mit solchen Menschen könnt und dürft Ihr als ehrliebende Männer nichts mehr zu tun haben, nicht mehr von ihnen Euch leiten lassen.« Als die Zettel gezählt, die Riesenziffern verkündet waren, scharte sichs unter nächtigem Himmel zu dichten Haufen. Sieg! In Berlin, Hamburg, Dresden, Bremen, Kiel. Lübeck, in allen Industriestädten, in Nord und Süd: überall Sieg. Fünfzig Mandate gleich in der ersten Hauptwahl erstritten. Vierundfünfzig. Achtundfünfzig. Und in hundertundzwanzig Kreisen sind unsere Genossen in die Stichwahl gekommen. »Wir sind der Staat, wir hämmern jung …« »Es wächst auf Erden Brot genug …« »Wir wandeln fort die Bahn, die uns geführt Lassalle.« Dann gehts in Gruppen heimwärts; und der von der Sensation des Abends erschöpfte Bürger hört von fern zuerst ein Gesumm, hört dann Worte und Töne des Arbeiterliedes:

Es stand meine Wiege in niedrigem Haus,
Die Sorgen, die gingen drin ein und drin aus.
Und weil meinem Herzen der Hochmut blieb fern,
Drum bin ich auch immer beim Volke so gern.
Und guckt die Sorge auch mal durch die Scheiben:
Ein Sohn des Volkes will ich sein und bleiben.


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