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5. Kapitel

Seit einem Jahr war ich vom Regiment wieder zurück. Ich las »Die Neuen Zeiten«, ohne ein allzu hitziger Anarchist zu sein. Im Frühjahr, nachdem eine Stichwahl zum Parlament etwas Erregung ins Land gebracht hatte, war ich noch einmal unter einem fingierten Namen an das Schreiben eines Aufsatzes herangegangen unter dem Vorwand, dem radikalen Wahlkandidaten beizustehen, um das Elend der Bauern klarzulegen und die Ausnutzungen, denen sie als Opfer anheimgegeben waren. Das war meine einzige regelwidrige Handlung während dieser zwölf Monate.

Ich ließ mich einfach vom Leben treiben und nahm auch ohne Freude oder Unlust die Aufforderung eines Kameraden an, Brautführer bei der Hochzeit meines Einsegnungsgefährten Joseph Girard zu sein, welcher Marie Couturier heiratete, die älteste der drei Töchter des Pächters vom Amouraux-Hof in Baugignoux. Die Ehrenjungfer war die jüngere Schwester der Braut, die Jeanne, ein etwas blasses, zartes achtzehnjähriges Mädchen mit Haaren wie eine reife Kastanie und einem offenen, aufgeweckten, ansprechenden Gesicht.

Wir verstanden uns sehr gut, meine Gefährtin und ich, während der zwei Tage, die die Hochzeit dauerte.

Es herrscht in unserer Gegend eine von alters her übernommene Sitte, daß die ganze Familie an der Bewirtschaftung des Hofes beteiligt ist, und es kommt oft vor, daß der Mann der Tochter sich bei den Schwiegereltern niederläßt. Dieses dauert dann mehr oder minder lang, bis durch das Herannahen eines Familienereignisses oder durch irgendwelche Uneinigkeiten die jungen Ehegatten dazu gezwungen werden, sich einen Hausstand auf eigne Rechnung zu gründen.

Im übrigen trat also Joseph Girard als Schwiegersohn in den Amouraux-Hof ein, und er war es, der mich gegen Weihnachten recht liebenswürdig einlud, ihm einen Besuch abzustatten.

»Komm doch mal auf einen Abend zu uns herüber in unsere Wohnung; du wirst sehen, wie wir untergebracht sind, wir haben unser eigenes kleines Zimmer, das ist da recht bequem alles. Meine Frau wird stolz sein, dir ihre blitzblanken neuen Möbel zu zeigen. Und dann machen wir ein Spiel mit dem Schwiegervater …«

»Ich nehm die Einladung an … wenn also die Zeit es mir erlauben wird …«

Wirklich machte ich mich eines Abends bei Mondschein auf den Weg, sowie ich meine Suppe hinuntergeschlungen hatte. Ich ging wohl eine Stunde durch den Hau durch einsame Schluchtwege, bis ich auf den offenen Platz kam, wo das Gehöft war. Um die Wahrheit zu sagen, ging ich weniger um die Girards und ihr eheliches Zimmer zu sehen nach Amouraux, als um von der nächsten Nähe aus in aller Vertraulichkeit ein gewisses kleines Mädchen mit einem lachenden Frätzchen zu sehen, das von einer Glorie kastanienbraunen Haares umrahmt war.

Ich sah Jeanne in Baugignoux auf dem Tanzvergnügen bei Pardieu im Café de l'Univers wieder, das zur Zeit des großen Januarmarktes in Baugignoux stattfand, und noch nie war ich so glücklich gewesen tanzen zu können, denn es war mir dadurch möglich geworden, sie für ganze zwei Stunden für mich in Anspruch zu nehmen.

Über die Einzelheiten will ich hinweggehen, um sogleich zu gestehen, daß im kommenden Frühjahr ein neues Idyll Wirklichkeit wurde …

Jeanne und ich lernten bald die Süße der Sonntagabendspaziergänge kennen, auf blumenumsäumten Wegen, umgeben vom Drang der schwellenden Säfte und im Liebessang der Vögel; wir lernten eine noch kindhafte Verwirrung und die weiche Wundersamkeit erster Geständnisse kennen, und die Freude gemeinsamen Denkens und Hoffens voll Zukunftsplänen.

Charles Hervaux war es, der die erste kalte Dusche über meine jugendliche Verliebtheit und Begeisterung ausgoß. Er war mit Begeisterung in meine Fußstapfen getreten und brannte darauf, sich mit mir der Befreiung aus sozialen Täuschungen zu widmen. Er war Freidenker und Revolutionär, seine durchaus einfachen, mit Nachdruck geäußerten Gedanken ließen sich durch keine Bedenken hindern, die fähig gewesen wären die Verstandestätigkeit zu trüben. Er schätzte mich sehr hoch ein, sang bei all und jedermann ein Loblied auf meine großen Verdienste, wachte aber über mich mit einer Art selbstsüchtigen und tyrannischen Eifers wie ein Züchter über ein Ausstellungstier.

»Ist das wahr, was ich gehört habe: du bist auf dem Weg dich zu verheiraten?«

Mein »Vielleicht«, von einem Schmunzeln begleitet, sagte genug dazu …

»Gut also, dann höre mir mal zu,« begann er wieder, »du machst mir viel Sorge, ich will es dir geradeaus sagen! … Wenn man eine soziale Pflicht zu erfüllen hat, dann, glaub mir, hängt man sich nicht so mir nichts dir nichts ein Mädel an die Pfoten. Die Stunde für eine entscheidende Handlung ist für dich gekommen. Ich dachte dich in Bälde zu bestimmen, einen Feldzug syndikalistischer Propaganda zu eröffnen. Wir hätten große Erfolge haben können. Wir wären zahlreich genug gewesen, um dir beizustehen, das kann ich dir versichern! aber du hättest ledig bleiben müssen.«

Ich verteidigte mich:

»Pah, was willst du denn, das man in unserem Stand macht? Bei Industriearbeitern oder selbst bei Tagelöhnern ist so ein Verband möglich, aber nicht bei den Pacht- und Kleinbauern, von denen jeder in einer Lage ist, die sich von seinem Nachbar unterscheidet … Im übrigen, wenn sich eine Gelegenheit bietet, daß ich mich nützlich machen kann, so werd ich mir das nicht entgehen lassen, weil ich verheiratet bin. Morgen grad wie gestern werde ich bereit sein, alle Ungerechtigkeiten zur Anzeige zu bringen.«

»Nein, du wirst es schon sehen, das ist nicht mehr dieselbe Sache … Außerdem ist man in der Familie deiner Zukünftigen noch ganz im alten Frankreich: völlige Unterwerfung gegenüber dem Herrn Pfarrer und den Bourgeois … Na, und was dann kommt … du wirst dich nicht mit ihnen überwerfen wollen und wirst nachgeben.«

Die Worte meines Kameraden regten mich zu tiefsinnigen Überlegungen an. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht gehörten, wenn man seine Stimme für eine bessere Zukunft erheben wollte, Menschen dazu, die entschlossen waren sich zu opfern? Vielleicht! Hat aber anderseits ein wohlgeratener Mensch unrecht sich verheiraten zu wollen? Es ist doch so gut zu lieben und geliebt zu werden … Zum Teufel mit der wenig dankbaren Propaganda unter Ungebildeten, Nichtswissern und Flauen! Soll man denn nicht zuallererst für sich selber leben?

Die allgemeine Meinung war, daß die Couturiers zu den anständigen Leuten zählten. Um diesen Ruf mit Recht verdient zu haben, mußte man Ehrerbietung vor Behörden, vor der Herrschaft und den althergebrachten Überlieferungen zeigen, seinen Nachbarn gerne einen Gefallen tun und sich nicht hartherzig gegen die Armen zeigen. So waren sie denn auch. Sie hatten auch den Ruf erfahrener Landwirte, die bereit waren neue Verfahren anzuwenden, nachdem diese durch die Erfahrungen anderer schon genügsam zu Ansehen gebracht waren.

Was sie aber nicht unmittelbar berührte, blieb ihnen etwas Unverständliches, Befremdliches und Verdächtiges. Und außerhalb ihrer beruflichen Angelegenheiten waren sie grundsätzlich allen selbständigen und kühnen Gedanken feindlich gesinnt.

Kurz gesagt, es war eine Familie, wie die Bourgeois sich mehr solcher wünschen, würdig alles Lobes der Schwätzer und aller Achtung der öffentlichen Meinung.

Im Laufe des Sommers, verliebter noch als je, unterbreitete ich, den Verwarnungen meines Freundes Hervaux zum Trotz, meine Absichten meinen Eltern, die ohne Vorbehalt zustimmten, und darauf den Eltern von Jeanne, die mich auf das freundlichste einluden, nach Amouraux als Bräutigam zu kommen, so oft ich nur wollte.

Um mir so gute Aufnahme zu gewähren, mußten die Couturiers nichts von meinen Ansichten wissen. Gewiß, mein Vater galt als ein etwas eigenwilliger Mann, der die Angewohnheit hatte über Politik zu reden; sicher wußten sie auch vom Hörensagen, daß ich viel las und daß ich kaum jemals zur Messe ging, aber mein Ruf war alles in allem gut. Ist es außerdem nicht bewiesen, daß junge Leute nach ihrer Verheiratung ihre Angewohnheiten lassen und ganz allmählich wieder auf den natürlichen Weg zurückkehren?

Zum vertraulichen Verkehr mit der Familie zugelassen, wurde ich jeden oder annähernd jeden Sonntag zum Essen zurückgehalten, und die Gespräche, die jedesmal über eine Stunde dauerten, erwiesen verräterisch die tiefgehenden Verschiedenheiten von Auffassungskraft und Verständnis.

Ich billigte öfters bei einem Streik oder neugegründeten Landarbeitersyndikat die Arbeiterbewegung und brandmarkte die Habgier und die Selbstsucht der Arbeitgeber und der Bourgeois. Aber dann beeilten sich entweder der Vater oder der Großvater sich einzumischen. Der Großvater, ein Alter mit einem ausrasierten Gesicht und einer Bartkrause ums Kinn, wie es bei den Bauern von ehemals Mode war, zeigte sich als der giftigere und bissigere.

»Das geht uns gar nichts an … Die Herren sind die Herren! … Wenn sie Geld verdienen, um so besser für sie: ein und jeder kann nicht an ihrer Stelle sein! Und was das mit dem Arbeiter auf sich hat, so muß er seinen Weg aufrecht machen, ohne sich um anderes zu kümmern. Es gibt heutzutage zu viele ›dumme Bengel‹ die nur von Wunden und Beulen träumen und die nie zufrieden sind mit ihrem Schicksal.«

Mutter Couturier, eine energische, kühle, kurz angebundene Frau, mischte sich manchmal auch dazwischen:

»Der Herr Pfarrer hat es erst letzten Sonntag gesagt, daß man zu viele schlechte Bücher und zu viele schlechte Zeitungen umgehen ließe, das verdirbt die Jungen … Und dann ist man auch nicht streng genug für den Pöbel. Überhaupt, das ist alles Pöbel, was da an der Spitze steht.«

Die Ansichten von »dem Herrn Pfarrer« fielen da auf günstigen Boden; man zitierte sie und setzte sie auseinander. »Das Kreuz«, eine Zeitung, die man sich jeden Sonntag nach der Messe beim Sakristan kaufte, war die einzige und alleinig zugelassene Zeitung in ihrem Hause. Vater Couturier und seine Frau machten sich zum Echo der Meinungen dieses Blattes mit einer Art von Naivität und Treuherzigkeit, die mich heimlich lächeln machte.

Auch sonst machte sich überall bei ihnen dieser einfältige Glaube bemerkbar. Heiligenbilder schmückten den Platz über dem Kamin und füllten die Wände aus, wo sich nur eine freie Stelle bot. Am Kopfende eines jeden Bettes prangte ein Kruzifix über einem Weihwasserbecken, besteckt mit einem Zweiglein Buchsbaum, und in dem Zimmer, das Jeanne und ihre jüngere Schwester Germaine mit ihren Eltern teilten, befand sich unter einem Christusbild von der Länge eines halben Meters, das ein grobperliger Rosenkranz umgab, ein Meßtischchen mit einem himmelblauen Papier bedeckt, an dem weiße Spitzen zu sehen waren. Sie hatten das Tischchen mit Statuetten, Phantasieleuchtern und Vasen aus der ausländischen Lotterie ausgeputzt. Dieses war ihre Kapelle.

Ich fühlte mich manchmal bedrängt; man leidet schließlich daran, wenn man nicht nur seine eigenen Überzeugungen in sich zurückdrängen soll, sondern auch noch sich versagen muß, die Meinungen von Denkern und Schriftstellern ins Treffen zu führen, die in der ganzen Welt bekannt sind, von denen aber die Bauern, die weder etwas lesen noch irgendwas auf Bildung halten, nicht das geringste wissen. Sie würden in Wirklichkeit von den Bauern auch nur verspottet werden, wie der Schriftführer des ersten Syndikats, wenn sich eines bilden sollte … Ich verglich das von kirchlichen Dingen und von Überlieferungen eingezwängte Leben der Couturiers mit meinem Leben, welches Lernen erweitert hatte, welches von Wißbegierde gepeinigt, von unsagbaren Wünschen und unbestimmten Hoffnungen erfüllt war. Und es kam mir oft der Gedanke, daß ich ihnen Entsetzen einflößen würde, daß sie mich aus ihrem Hause verjagen müßten, wenn ich ihnen mein Denken zeigen würde, wie es war. Ich kam mir vor wie ein Heuchler und ein Feigling, daß ich fast nichts davon laut werden ließ …

Ich liebte meine kleine Braut viel zu viel, um es zu wagen, die Ihren zu verstimmen. Ich stellte sie sehr hoch und war auch dazu bereit, ihr die weiteste Nachsicht in dem, was mich in ihrer Art und Weise zu reden und zu urteilen etwa störte, entgegenzubringen.

Sie war gläubig, gewiß, aber ohne übertriebenen Mystizismus und ohne fanatisch zu sein. Sie zeigte gelegentlich eine ihr wohlanstehende Jungmädcheneinfalt, die im Grunde eine mutwillige Schalkhaftigkeit war. Sie trieb es selbst so weit, über die Angewohnheiten des Herrn Pfarrers zu lachen und zu behaupten, daß er sich auf der Kanzel oft wiederhole und einem Lust zum Schlafen mache, und manchmal machte sie sogar unehrerbietige Bemerkungen über das Kleid der Madame Trochère oder über eine andere von den feinen Damen der Gemeinde. Aber die Mutter mischte sich sofort ein und warf ihr einen ärgerlichen Blick zu:

»Willst du wohl still sein, du böse Zunge!«

Jeanne bestand nicht darauf, was sie gesagt hatte, aber öfters machte dann die Schwester Germaine nun ihrerseits Bemerkungen, indem sie noch eine schärfere Spitze hinzufügte, und Mama Couturier schimpfte weidlich auf ihre unbotmäßigen Töchter …

In den Stunden des traulichen Beisammenseins mit meiner Braut fühlte ich mich nicht an die übliche Zurückhaltung gebunden und breitete mich ziemlich frei über alle möglichen Dinge aus. Wenn ich aber irgendwelche sehr respektwidrigen Sachen über die Autoritäten verlauten ließ, war sie es, die mich dann mit einer kleinen entrüsteten Gebärde verwies, indem sie mir versicherte, es sei nicht erlaubt, solche Reden zu führen. Wollte ich aber, um sie zu necken, weiter fortfahren, konnte sie gänzlich bestürzt werden, und um ihr keinen Kummer zu bereiten, täuschte ich ihr vor, daß ich nur ganz einfach gescherzt hätte; ich mußte sehr zärtlich, zuvorkommend und sanft werden, und ihr versprechen, nicht wieder davon anzufangen.

Ich vergaß in ihrer Gegenwart alle meine gewohnten Beschäftigungen, und wenn ich in die Waldhütte zurückgekehrt war, beherrschte die vorangegangene Begegnung die ganze Woche hindurch meine Gedanken wie etwas Liebes und Wertes.

Die Hochzeit ward im Oktober gefeiert, gerade ein Jahr nach derjenigen meines Freundes Joseph Girard, der auf diese Art mein Schwager wurde.

Und Charles Hervaux wurde der Brautführer. Seine großtuerische Art, seine lebhaften Reden und sein langer schwarzer Schnurrbart machten ihm, ich glaube, meine kleine Schwägerin Germaine ganz gewogen.

Herr Trochère, der Besitzer des Amouraux, wohnte dem Hochzeitsessen bei. Er saß mir gegenüber, und ich hatte genügend Muße, diesen wichtigen Mann und reichen, zum Bourgeois hinaufgerückten Großhändler zu beobachten …

Man ist es gewohnt, die Leute, die es verstanden haben, sich ein Vermögen zu erwerben, als klug, geschickt und mit einem Wort als höherstehend zu behandeln, aber selten, daß man nicht in bezug auf sie nicht enttäuscht wird, wenn einem die Gelegenheit geboten wird, sie aus der Nähe zu sehen. Der dicke und rote Trochère, abgeschmackt und gewöhnlich wie er war, erweckte in keinerlei Weise den Eindruck eines außerordentlichen Menschen. Er aß ohne feinere Manieren mit einer Art von Trägheit der Kauwerkzeuge, daß seine schlaffen Backen und die Wülste seines Doppelkinns erzitterten. Er gab sich übrigens Mühe, den Liebenswürdigen zu spielen, indem er die Alten, deren Gewohnheiten und Vorlieben er von früher her kannte, vertraulich anredete, sich mit den Burschen und Mädchen in der Art eines guten Papas, der die Freuden der Jungen noch zu schätzen weiß, herumneckte, während er uns, Jeanne und mir, den Umständen angepaßte Worte sagte, die von schalkhaften, zweideutigen Blicken begleitet wurden. Man merkte ihm die Sorge an, seinen landläufigen Ruf als Mann, der keine Umstände macht, der zu leben versteht und nicht stolz ist, aufrecht zu erhalten. Währenddessen waren jedoch alle, selbst die albernsten Späße von einer gewissen Art Stolz und einem Dünkel begleitet. Die Art, mit der er eine jede seiner Redensarten von sich gab, war wie eine Erklärung:

Ja, so ist es, ich bin der Mann, der eine Million zu verdienen gewußt hat!

Zwei- oder dreimal machte ich mir das Vergnügen, ihn aus der gewohnten Alltagsprosa hinauszudrängen, und er gab dann einige schwerwiegende Ansichten zum besten, die er dem gemeinsamen Bestand kleiner rechtdenkender Blätter entnommen hatte.

Ich hatte genügend Scharfsinn, zu merken, daß er übrigens gar kein Gewicht auf alles das legte und daß seine wesentlichen Kräfte auf praktischere Ziele gerichtet waren, von denen er gegenüber einer Versammlung von so geringen Leuten nicht für ratsam hielt zu reden …

Wie weitab fühlte ich mich von diesem zufälligen Tischnachbar, nicht nur auf Grund des Abstandes in der sozialen Stufenleiter, der uns trennte, sondern auch aus Gründen, die in der wesentlichen Verschiedenheit unserer Art des Denkens lagen.

Zum Nachtisch traktierten uns die Musikanten, dem anwesenden Herrn zuliebe, mit einer flotten Marseillaise, aber kaum daß sich das Beifallklatschen beruhigt hatte, mit dem man sich bei ihnen bedankte, rief Hervaux ihnen zu:

»Spielt jetzt die ›Internationale‹! Mit Verlaub, Herr Trochère, ich möchte nicht, daß Sie das stört …«

Hervaux und Trochère waren Großvettern, gehörten aber nicht mehr zur gleichen Gesellschaftsschicht, sie ließen diese Verwandtschaft aus dem Spiel, die etwas lächerlich für den einen und etwas unbequem für den andern war.

Die jungen Burschen unterstützten Hervaux.

»Ja, ja! nur zu, die Internationale!«

»Was soll mir das schaden!« stimmte Herr Trochère brummig zu.

Und er fügte etwas leiser hinzu, mich dabei ansehend:

»Das ist ja das Lieblingslied der Streikenden.«

Hervaux, der seine Worte aufgefangen hatte, entgegnete:

»Jawohl, Herr Trochère, das gibt ihnen Mut, wenn sie sich ihren Magen zuschnüren müssen.«

Der reiche Mann aber sagte steif:

»Kommen Sie mir nicht mit den Streikern, diesen Dunstmachern und Heuchlern … Die Regierung ist zu nachsichtig für diese Bande …«


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