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29. Kapitel

Gegen drei Uhr nachmittags mochte es gewesen sein, am 25. August.

In Amouraux wird mit der Maschine gedroschen, und ich bin meinen Schwiegereltern dabei behilflich. Ich stehe an der Rampe, hinter einem der vier Strohbinder. Die Luft ist schwül, wir stehen gerade zwischen der Maschine und den aufgeschichteten Garben, deren Wand immer niedriger wird, und dem stetig wachsenden Spreuhaufen, gerade wie in einem Glutofen. Der Staub quält uns, er überpudert unsere schweißdurchnäßten Hemden, läßt auf unseren Gesichtern graue Masken entstehen; die Haut prickelt unangenehm und ist ganz stramm. Wir mühen uns schweigend, fast stumpfsinnig um die Arbeit; alle Gefühle sind in der qualvollen Anstrengung unserer gepeinigten Körper wie ausgelöst; wir plagen uns unter der brennenden Sonne im heißen Staub zwischen dem eintönigen Lärm der Maschine, als wären wir selber nur ein nebensächliches Zubehör ihrer selbst.

Ob es nun wirklich der Knecht von Cadet Breton gewesen ist, der Schuld an diesem Unfall hatte? Ich teile diese Meinung nicht. Neunmal auf zehn ist keiner an solchen Unglücksfällen schuld. Sie sind an eine ganze Menge unglücklicher Zufälle geknüpft. Das Verhängnis bringt es so mit sich.

Wie immer es auch gewesen ist, hat sich die Sache derart zugetragen: Ich schnürte, um ihn zu einem Bund abzurunden, einen Haufen Stroh fest, indem ich ihn auf meinem linken Knie zusammenpreßte; es kommt dabei ein Zeitpunkt, an dem sich das rechte Strickende hintenüber reckt, bei dieser Bewegung gab es einen Zusammenstoß mit der Heugabel des Knechtes von Cadet Breton … der Bursche schichtete die Bündel auf dem Hof auf und bediente sich hierbei einer Heugabel mit einem langen Stiel und langen Spitzen. Hielt er die Heugabel ungeschickt, oder war es etwas anderes? … Das kann man nachträglich nicht wissen, einige haben ihm die Schuld gegeben, ich jedenfalls nicht … Immerhin ist es sicher, daß ein Anprall erfolgte und daß die Stahlspitze durch das Stroh hindurch drang, während ich in diesem Augenblick ein lautes Au! vor Staunen und gewissermaßen auch vor Schmerz ausstoße.

»Oh lala!« meinte der andere; »hab ich Euch mit zu fassen bekommen?«

Ich versuche den Tapferen zu spielen:

»Pah, das ist nichts weiter! …«

Und ich fahre fort, mein Bündel zu schnüren.

Aber da der Schmerz doch recht stark ist, hebe ich mein Hosenbein, um nachzusehen. Ein Blutrinnsal sickert schon das Bein entlang und verliert sich in den Schuh. Aus dem kleinen runden Loch fährt das Blut fort weiter zu rinnen …

Meine Arbeitsgenossen kümmern sich darum, wie man sich eben kümmert, wenn man sich selber schon kläglich genug fühlt und keine Minute zu verlieren hat, weil das Stroh sich schnell vor der Rampe anhäuft und die Garben ebenfalls nicht allzuviel Zeit dazu brauchen sich anzustauen und dann störend wirken, wenn man es vernachlässigt, sie in rechten Zeitabständen abzuheben. Einer von ihnen rät mir:

»Wißt Ihr, Ihr müßt das Bein waschen gehen, und dann laßt Euch durch die Frauen mit einem Stück Leinen verbinden. Die Wunde kann am Ende tief sein …«

Der Bursche, der mich verwundet hatte, redete mir auch zu:

»Tut es ja, laßt Euch verbinden, es ist doch immerhin besser …«

Ich versuche mich noch einmal in meinem Mute:

»Ich werd doch lieber schon warten, bis man aufhält … übrigens könnt ihr ja wohl kaum zu dreien binden? Wir vier zusammen haben schon keine Zeit zu verlieren gehabt …«

»Man wird es schon einrichten; man kann ihnen sagen, die Maschine langsamer gehen zu lassen, aber so könnt Ihr es nicht lassen …«

Ich binde noch ein Bündel, aber ich fühle, daß mein Bein inzwischen steif wird; mein Fuß ist wie in laues Blut getaucht, und mit jeder Bewegung wird der Schmerz schneidender. Da gebe ich den Vernunftgründen der anderen nach: ich gehe humpelnd davon und lasse das große fauchende Ungeheuer im Stich, um das die menschlichen Ameisen sich mühen, ihr schweres Tagewerk verrichtend.

Zu Hause beeilt sich meine Schwägerin Marie die kleine Wunde mit einem Leinentuch auszuwaschen, das sie immerwährend in eine Schale Wasser taucht. Sie blutet noch immer und das Wasser färbt sich mehr und mehr, bis es sich vom Rosenrot zum tiefen Dunkelrot steigert. Das Tuch ist auch schon wie in Blut getaucht.

»Ihr habt sicher viel Schmerzen,« meint Marie. »Das Loch ist tief, wißt Ihr … Ihr werdet nicht mehr an der Maschine arbeiten können.«

Und Germaine ruft ganz außer sich:

»Ah, mein Gott! Das viele Blut … Ich kann es nicht mehr mit ansehen!«

Mutter Couturier kommt hinzu, wirft einen Blick auf das Bein und sagt, ohne dabei ihre brummige Miene aufzugeben, die sie immer aufsetzt, wenn sie mit mir spricht:

»Oh! das ist weiter nichts, man wird etwas Lavendelbranntwein drauf legen und mit einem Taschentuch abbinden. Das stillt das Blut.«

In der Vesperpause kommen die meisten meiner Arbeitsgefährten ins Haus, um mich zu sehen. Ich sage ihnen, daß die Schmerzen recht erträglich sind, nur macht sich eine Steifheit des betroffenen Gliedes bemerkbar. Sie sind einig, daß mir nicht nur die Arbeit, sondern auch das Gehen verboten werden muß.

Nun benutzt mein Schwager Josef Girard den Schluß der Vesperpause, um den Esel anzuspannen. Dann machten wir uns auf den Weg, nicht etwa nur meinetwegen, oh nein: Marie hätte sonst doch nach Baugignoux fahren müssen, um Vorräte für den nächsten Tag einzukaufen. Ich klettere nicht ohne viele Schmerzen auf den Wagen, und meine Schwägerin macht einen Abstecher nach La Fayt, um mich abzuliefern.

Am nächsten Morgen ist mein Bein noch zehnmal steifer, es ist mir unmöglich, überhaupt einen Schritt zu tun. Jeanne ist besorgt und läßt Doktor Mathivon kommen.

Die Meinung des Sachverständigen war, daß die Wunde an und für sich unbedeutend sei: sie ginge nicht tiefer als drei Zentimeter, nur die Erstarrung eines Nervs hätte diese gänzliche Steifheit hervorgerufen, die selbst das Knie in Mitleidenschaft gezogen hätte. Er nimmt eine gründliche antiseptische Reinigung vor, wobei er nicht unterläßt zu bemerken, daß, wenn die Heugabel etwas schmutzig gewesen wäre, die Behandlung wohl zu spät gekommen wäre, um ernste Komplikationen zu verhindern. Er schrieb mir völlige Ruhe vor, dabei selbst den Rat gebend, wenigstens während zehn Tagen das Bett zu hüten, außerdem verordnete er ein alltägliches laues Bad des verwundeten Beines.

Seit meiner frühesten Kindheit war es mir nicht erinnerlich, auf eine solche Art krank gewesen zu sein, daß ich das Bett hätte hüten müssen. War das nicht eine Schande, so dazuliegen zwischen den Laken in der grellen Helle des vollen Tages? War das nicht gerade so, als ob man schon tot wäre?

Wenn man noch hätte die ganze Zeit schlafen können! Aber schlaf einer einmal, wenn um ihn herum der ganze Lärm des Hausstandes tobt, das Geklapper der Holzschuhe auf den Fliesen, das Schmeißen der Türen und das Poltern des Abwaschgeschirres, der Schüsseln und der Töpfe, – dabei das Kind, das schreit, die Frauen, die schwatzen, der Hahn, der auf der Diele kräht, und ganz in der Nähe auf dem Hof das Grunzen der Schweine und das Brüllen der Kühe; dazu die Sonne, die voll durch das Fenster und die gegenüberliegende Tür mir gerade ins Gesicht scheint … Ich versuche wohl mich zu schützen, indem ich die dünne Wand der Gardinen dazwischen schiebe und indem ich die Augen fest schließe. Alles umsonst! Ich bleibe mit der gesamten Geschäftigkeit des Hauses eng verbunden, und wenn es auch nur mit den Sinnen ist …

Der Geist wird wieder wach: zahllose Gedanken bewegen ihn, und nicht alle sind gerade fröhlicher Art, das ist sicher! Ein sorgenvoller Gedanke besonders taucht ungelegen und quälend immer wieder auf. Genügt nicht manchmal eine kleine unbedeutende Wunde, um das Blut eines gesunden Menschen zu vergiften und die schrecklichsten, unerbittlichen Starrkrämpfe hervorzurufen? Der Stahl der Heugabel scheint rein gewesen zu sein, der Stahl der Heugabeln glänzt gereinigt, wie er doch immer ist, durch die fortwährende Reibung mit dem Stroh und dem Grünfutter. Er glänzt, kann an ihm nicht aber doch allerlei Giftiges haften? Bedient man sich nicht oft dieses bequemen Geräts, um die Reptilien zu töten, denen man etwa bei der Arbeit begegnet, und benutzen es nicht auch die Liebhaber allerhand grausamer Spiele, um gelegentlich einen harmlosen scheußlichen Frosch aufzuspießen?

Jetzt werde ich gewahr, wie sich in meinem Knie eine vorher nicht gefühlte Zerrung bemerkbar macht. Vielleicht sind das die ersten Anzeichen … Morgen werden die Schmerzen schon in den Schenkeln sein, und darauf in der Schulter, in den Ellenbogen, in den Handgelenken, und schließlich werden sie sich des Gehirns bemächtigen … Ich werde mich in meinem Bett in gräßlichen Zuckungen winden, fünf Männer werden nötig sein, mich zu überwältigen. Ich werde nichts mehr sein als ein scheußliches Tier mit verzerrter Fratze und verrenkten Gliedern, ohne einen Schimmer von Bewußtsein. Einige Tage werden dahingehen, lang wie Jahrhunderte, und der Tod wird mich endlich befreien … Aber die Verwandten und die Nächststehenden, die mir beigestanden haben, werden das furchtbare Bild meiner Agonie noch lange wie einen Alp mit sich herumtragen.

Ich durchstreife mein Leben, wie ein Soldat, der schon dicht bei seinem Nachtlager ist, und sich die Begebnisse des Weges noch einmal ins Gedächtnis ruft. Hier sind Geschehnisse aus der Zeit, da ich noch Schüler war, und jetzt ein Wort des Lehrers:

»Was dich anbetrifft, so könntest du schon deinen Weg machen, wenn deine Eltern dir vorwärtshelfen könnten …«

Und sicher hatte er auch dasselbe meinem Vater gesagt, denn dieser machte einmal eine Anspielung auf eine solche Möglichkeit, aber nur ein einziges Mal, an einem Frühlingssonntag, in der Dämmerung, es war da gerade im Jahre meines Schulaustrittes:

»Wenn du daran hängst, werd ich es auf mich nehmen, für dich weiter zu zahlen, um dir für ein, zwei Jahre eine Möglichkeit zum Lernen zu geben. Vielleicht kannst du danach irgendwelche gute Anstellung in der Stadt finden …«

Meine Mutter war nicht dafür:

»Man hat nur ein Kind, willst du es so wegschicken! Geh doch … Das wäre doch gerade, als ob wir Feind mehr hätten … Es hat doch viel mehr auf sich, wenn er bei uns bleibt … Und überhaupt, hat man denn das Geld, ihn Notar werden zu lassen?«

Ich hatte mich der Ansicht meiner Mutter gefügt, halb aus Furcht vor dem Unbekannten, halb um zu verhindern, daß sich meine armen Eltern um meinetwegen gleich aus allen vier Adern das Blut abzapfen sollten …

Zehn Jahre später, im Regiment, wollte mein Bataillonschef mich zum Eintritt ins Militär bewegen. Ich schlug es aus, wegen der Abneigung für das Kasernenleben mit seinem Drum und Dran, und weil meine Eltern auf mich warteten.

Auf diese Weise hatte sich mir also zweimal die Gelegenheit geboten, meine Laufbahn zu ändern. Ich hatte sie nicht ergriffen: Meine Bestimmung war, daß ich Bauer blieb und mich an die Spitze der Landarbeiter stellte, um für die Verbündeten Gerechtigkeit zu erlangen – und darauf mit 29 Jahren an dem Stich einer dummen Heugabel zu sterben …

Mein kurzes Leben, weder besser noch schlechter als dasjenige meiner Mitgefährten, würde diese Besonderheit für sich haben, daß es an eine soziale Aufgabe geknüpft gewesen ist. Wenn man sich vom Tode bedrängt fühlt, dann beurteilt man die Folgen seiner Handlungen viel klarer. Sicher, daß meine Absichten lauter gewesen sind, aber wie wenige meiner Kameraden schienen sie verstanden zu haben! Und ich hätte vielleicht besser daran getan, armselig wie ich war, mich nicht den Dingen in den Weg zu stellen, die da sind, um zu versuchen, sie einen anderen Gang gehen zu lassen!

Es geschieht, daß ich im Grübeln über alles dieses sanft und fest einschlafe, ohne mir dessen bewußt zu werden: Und der Schreckenstraum, in den ich versinke, kann in gewisser Art als die natürliche Folge meiner letzten hellen Gedanken sein.

Haufen zusammengerotteter Bauern wollen sich an ihren Herren rächen, indem sie in den Kampf gegen die Herrenhöfe ziehen. Roh und gewalttätig, beherrscht von niedrigen Instinkten, wirken sie wie ein Ausbruch eines grausigen Elementarereignisses. Das bekannte Schloß, für das die Steuerzahler von La Clayette die Immobiliensteuer zahlen müssen, ist eine einzige gewaltige Feuersbrunst: da haben sie das schöne neue Haus des Pächters Duranton in Flammen aufgehen lassen, danach den Wohnsitz des Herrn Trochère, das Gartenhaus des Herrn Réalmont, und jetzt flammt in der Ferne ebenso das Schloß des Landwirtes Duvernay auf …

Man bemächtigt sich der Bewohner selbst: Auburtin, Duranton und noch andere werden mit Knütteln geschlagen, geohrfeigt, unter die Füße getreten und zuletzt gesteinigt, durch die tollwütigen Horden, die diese ersten Missetaten in Raserei versetzen. Ein einziger Aufruhr ist alles – es ist die wahre Revolution!

Da kommen die Gendarmen und jetzt das Militär …

Die Haufen haben sich von selbst verzogen, vorüber ist der blutrünstige Tag. Aber die Wiederhersteller der Ordnung haben den Befehl erhalten, ein Exempel festzustellen. Sie forschen, verhaften, prügeln, werfen ins Gefängnis und töten …

Der Rückschlag ist furchtbar und macht blind. Alle Welt bewirft jetzt Marcel Salembier mit Flüchen, als den verantwortlichen Urheber der Ereignisse. Ich bin es, ich der richtige, einzige Schuldige; die aufheulende Menge droht mich zu zerfleischen. Die Gendarmen, die mich ins Gefängnis abführen, sehen sich genötigt, mich gegen die wütende Masse zu schützen.

Eine gräßliche Angst hält mich gepackt! Wurde ich denn so furchtbar mißverstanden? Wurden meine Absichten so wenig begriffen? Ist es denn ein Verbrechen, den Enterbten von ihren Rechten zu sprechen, für sie Gerechtigkeit zu fordern? Habe ich Gewalttätigkeiten nicht genügend verdammt, nicht genügend zu ihrem gesunden Verstand gesprochen, an ihre Vernunft, an ihr Gerechtigkeitsgefühl, an die höheren Regungen, an den Gedanken der Pflicht appelliert?

Immer ist das Erwachen die Folge eines solchen Anfalls von Angst. Man kommt verstört zur Besinnung, aber man empfindet eine wahre Erleichterung, das wirkliche Bewußtsein der Dinge wieder in sich erwachen zu fühlen. Und ich fühle mich um so mehr glücklich, da ich das Schwinden des mich so beängstigenden Schmerzes am Knie bemerke …

Jetzt starre ich mit halboffenen Augen auf eine Stelle der roten Kattungardinen, wo die Sonne in ihrem Spiel weiße Kreise, funkelnde Flecke und absonderliche Zeichen tanzen und aufhüpfen läßt.

Und jetzt ist es Maurice, der die Bettgardinen auseinander schiebt und mit ganz dünner, mitleidiger Stimme ruft:

»Bo-bo, Papa, lieb … Bo-bo …«

Ich hebe ihn hoch und lege ihn neben mich. Wir spielen, wir reden ganz sanft und kindlich, das tut so wohl. Aber er wird zu lebendig, er zwingt mich, mich zu bewegen, er bearbeitet mit seinen kleinen Füßen mein krankes Bein. Und ich sehe mich genötigt, ihn seiner Mutter zurückzugeben.

Nach zwei oder drei Tagen, in denen ich einen freien Kopf behalte und keine Verschlimmerung durch Versteifung der Gelenke eingetreten ist, fangen meine Befürchtungen über das Hinzukommen einer Komplikation an zu weichen, die Stunden, die ich wachend verbringe, werden ruhiger, der Schlummer wird friedlich.

Vater Duplessis handelt wie ein guter Nachbar. Er verpaßt es nie, am Morgen einen Blick auf mein Vieh zu werfen und Jeanne seine Dienste anzubieten. Er läßt auch keinen Nachmittag vorübergehen, ohne auf ein kurzes Plauderstündchen vorzusprechen.

»Na also, schön, der Herr Verwundete, wird er denn bald wieder laufen können?«

Es ist jetzt an mir, zu versichern, daß es mir immer besser geht. Darauf macht er sich eilig daran, mir eine solche Anzahl von Fällen zu erzählen, in denen gestochen, geschnitten und selbst gemordet wurde, daß man sie schon gar nicht mehr alle zählen kann, wovon die einen zum Guten ausliefen und die anderen zum Schlechten. Jeden Tag fängt er von neuem seine Aufzählungen an. Dann folgen die frischen Tagesneuigkeiten:

»Was sagst du dazu? Stell dir das vor, ich bin ganz mitgenommen! Weißt du, der Belhomme von dem neunten Staatsgut soll über ein Jahr zu Martini weggehen … Daran muß was Wahres sein: der mir das gesagt hat, ist keiner von der Sorte, die hin und her reden.

»Man erzählt auch so allerlei, daß Herr Trochère im Gange sein soll, seinen Laden abzugeben, aber das glaub ich nicht: So was hat man schon öfter geredet. Ah! Na ja, wenn das wahr sein sollte, würde man das ja bedauern, deswegen, mein ich, weil man doch ganz sicher keinen solchen Weinhändler wiederbekommt.

»Cadet Breton hat mehr wie 12 000 Maß Korn bei kaum dreitausend Garben, das ist ein Ertrag, was? …«

Er hatte immer für eine gute halbe Stunde Ähnliches auf Lager. Es interessierte mich gar nicht so sehr, aber er, er hatte seine rechte Freude dran.

Herr Doulon-Meuget, der Kenntnis von meinem Unfall bekommen hat, schrieb mir einen netten Brief und wünschte mir eine baldige Genesung. Es war der 28. August, als ich den Brief erhielt; mir geht es ersichtlich besser, mein Arzt aber besteht darauf, mich noch mehrere Tage liegen zu lassen. In dieser Zeit ist mir der Brief des menschenfreundlichen, klugen und ehrenwerten Bürgers Doulon behilflich, eine recht angenehme Beschäftigung für meinen Geist zu finden.

Hier folgt sie: Ich bin im Alter meines Briefschreibers, ich bin außerdem ebenso reich wie sein Großvater war, das heißt, daß ich in allen Rechten und Ehren in einem Stück 600 Hektar besitze und dazu noch ein kleines Schloß, das in der Art des Trianons im Grün mächtiger Eichen, Lärchenbäume und Tannen eines dichten Parkes verloren liegt. Ich habe weitgreifende Gedanken – oder vielmehr, ich habe noch die Gedanken des Bauern Salembier. Ich fasse also den Entschluß, mein Besitztum den Ackerbauern zuzuwenden, mit dem Vorbehalt, daß es immer ihr gemeinsames Gut bleiben soll. Ich gebe es nicht an Hinz und Kunz, ich trete es an eine Landarbeitergesellschaft ab, an eine Gesellschaft, bei der ich mir vorbehalte, Teilhaber zu sein, in der Rolle eines Landarbeiters wohlverstanden.

»Denk einer sich, ob ich da nicht Reichliches auszudenken habe über solch einen Gegenstand. Und es bleibt nicht allein nur geistiger Art, das versichere ich euch aufs Wort! Ich begnüge mich, mit einem Bleistift in einem alten Heft die wesentlichen Klauseln der Urkunde festzusetzen, die zur Grundlage der erträumten Organisation dienen soll. Jedoch warum eigentlich sollt ich hier nicht einiges davon mitanführen?

»Das Schloß de Fontvallée und die zwölf Pachthöfe des Besitztums von Marcel Salembier bilden ein Gesamtgut unter dem Namen: ›Ländereien von Fontvallée‹, von diesem Tage ab Gemeingut der landbestellenden Pächter und des gegenwärtigen Besitzers.

»Jeder Pachthof bleibt selbständig, und der Ertrag bleibt denjenigen bestehen, die ihn bewirtschaften, unter der Bedingung, daß sie wiederum jährlich der gemeinsamen Kasse der Gesellschaft eine Summe zuführen, die gleichsteht mit ? des allgemein üblichen Pachtzinses im Kreise Verneuil, was sich auf 40 Franken pro Hektar stellt. Diese Zuführungen dienen zum Zweck der gesamten Steuerzahlung, die auf dem Besitztum liegt, ebenso wie zur Zahlung der Versicherungsprämie, sodann um alle Kosten für nötig befundene Reparaturen und etwaige neue Bauten zu decken, um die allgemeine und berufliche Bildung des jungen Nachwuchses, der jungen Leute sowie der Mädchen zu bestreiten, um in den Besitz von ackerbaulichen Maschinen zu gelangen, die der ganzen Vereinigung gemeinsam zur Verfügung stehen sollen, um allen in der Genossenschaft aufkommenden Werken, die für nützlich befunden werden, zum Leben zu verhelfen, um außer ihrem Umkreis anderen Werken förderlich zu sein, die offenkundig einen Zusammenhang mit ihr aufweisen und die zur sittlichen Aufrichtung der arbeitenden Klasse und im besonderen des Bauernstandes mit beitragen, und zu guter Letzt noch, um eine Reservekasse zu gründen.

»Da die Bewirtschafter unter diesen neuen Bedingungen in der Lage sein sollen, das Beispiel wünschenswerter Neuerungen zu geben, müßte die Zahl der Arbeiter auf solche Art erhöht werden, daß die Arbeitszeit nicht acht Stunden im Winter und 10 Stunden im Sommer übersteigt, ausgenommen die Erntezeit, wo sie sich bis auf zwölf Stunden ausdehnen dürfte.

»Die Familienmitglieder aus der Familie jedes Betriebsoberhauptes müßten nach diesen Grundsätzen der Verdienstanteile bedacht werden. Nach Möglichkeit soll es auch so mit den besoldeten Angestellten sein, die zu jedem Hof gehören.

»Zugunsten der Arbeiter, die Familienväter sind, wird eine Prämie ausgesetzt werden, die im Verhältnis zu der Zahl ihrer Kinder steht, und zwar in dieser Art, daß die Einkünfte sich mit den Ausgaben decken, so, daß die Bestrebung sich in dem Sinne verwirklicht: ›Ein jeder soll haben, was ihm nottut!‹

»Die Kinder sollen angehalten werden, die Schule bis zum vierzehnten Jahre zu besuchen. Sie sollen sodann auf Kosten des Verbandes, und zwar die Jungen die landwirtschaftliche und die Mädchen eine Hausstandsschule besuchen.

»Die Verbandsarbeiter würden sich einmal jedes Vierteljahr zu einer gemeinschaftlichen Zusammenkunft zusammenfinden, um über die Angelegenheiten des Betriebes zu beraten und über die auszuführenden Arbeiten zu entscheiden u. a. m.

»Andererseits wiederum soll eine Kommission jede Woche einmal zusammentreten, die sich aus den Abgesandten eines jeden Hofes zusammensetzt, wenn möglich, möge es immer der Familienvater sein, um die einzelnen Gesichtspunkte besonders auszuarbeiten. Die Kommission würde sich auch damit befassen, die Zwistigkeiten, die aufkommen könnten, zu untersuchen und zu schlichten, seien es solche, die in der Familie vorkommen, oder andere irgendwelcher Art zwischen den Betriebsführenden verschiedener Höfe untereinander.

»Das Schloß ist als Mittelpunkt und Zusammenkunftsort der Leute der ›Ländereien von Fontvallée‹ gedacht. Und zu geeigneter Zeit wird man dorthin Redner einladen. Ein besonderer Arzt wird dazu ausersehen, der regelmäßig seine Vorträge über Gesundheitspflege hält. Man wird auch eine Frau für mindestens drei Jahre verpflichten, die Kurse zur Ausbildung von Krankenwärterinnen besucht hat, die die verschiedenen Anwendungen der meisten Arzneien kennt und die Pflege in den Höfen übernehmen soll, in denen sich Kranke befinden, um dort so lange zu verweilen, als ihre Gegenwart für nötig erachtet wird. Sie wird auch dazu angehalten, den Frauen Unterricht zu erteilen.

»Im Schloß soll auch ein Lesesaal und ein Unterhaltungssaal sein.

»Der Park soll nach Möglichkeit in seinem gegenwärtigen Zustande erhalten werden. Man könnte dessen ungeachtet aber doch darin einige Häuschen errichten, in denen die Altenteiler der Genossenschaft die Erlaubnis hätten Wohnung zu nehmen; diese alten Leute würden damit beschäftigt werden, das Gelände zu unterhalten, mit Beihilfe von Arbeitskräften, die abwechselnd von jedem Hof gestellt werden müßten. An manchen Tagen würden dann auch die jungen Mädchen erscheinen müssen, um sich um die Blumen zu kümmern. Jeden Sonntag würde der Park und das Schloß für die verbündeten Arbeiter und ihre Freunde geöffnet sein: Man wird dann auch allerlei Spiele im Freien auf den Rasenplätzen einrichten, gemeinsam angeln und Kahnfahrten auf dem Teich unternehmen, und im Winter Belustigungen im Inneren des Schlosses abhalten …«

Ah, der wunderschöne Traum! Wie hilft er mir gut meine Zeit totzuschlagen! Denkt euch, wie ich mir da gefalle, auf diesen unseren bäuerlichen Sonntagsabendfesten im Schutze der mächtigen, schattenspendenden Bäume, oder in den schönen Sälen der ehemaligen Bourgeoiswohnung! Wie glücklich man sich fühlt, sich frei in den Herrlichkeiten zu ergehen, die einem früher verboten waren und die man jetzt frischweg genießen kann!

Die Gebäude der Einzelfarmen beschäftigen mich auch stark. Ich durchdenke immer wieder die Pläne und verbessere sie immer von neuem, um endlich zum Maximum der Wohnlichkeit und Bequemlichkeit zu gelangen. Ich brauche ein halbes Dutzend Zimmer, die sich um die gemeinschaftliche Diele gruppieren, die gut instand gehalten werden muß, und ein Gelaß, in dem man bei der Rückkehr vom Feld die lehmbesudelten Pantinen gegen reines Schuhzeug umwechseln kann. Ich möchte auch einen Garten, ganz dicht vor der Haustür, der von einem festen Gitter umgeben ist, und einen gepflasterten Hof mit Rinnsteinen für die Abwässerung; ich brauche eine Jauchengrube und eine mit Beton ausgelegte ummauerte Ecke für den Mist, dann will ich noch eine richtig angelegte Tränke für das Vieh und dann … und dann …

Ich spinne und spinne immerzu; ich mache mir selber Vorschläge und beratschlage sie: das ist etwas sehr Angenehmes. Das ist gerade so, wie bei den Romanen, die den Frauen gefallen, und in denen alles ein gutes Ende haben muß. Das Leben ist herrlich auf den Ländereien von Fontvallée; die Bauern dieser Vereinigung dürfen sich einer freudigen Sorglosigkeit hingeben, und mißachten nicht mehr die Würde, die Feinheit des Gemüts und die höheren Gefühle. Und die Kameraden aus der Umgebung fangen an Vertrauen zu sich selbst zu fassen, durch das Beispiel der Kameraden der reservierten Ländereien angespornt, um sodann Aufbesserungen zu verlangen, die ihnen auch gewährt werden.

Überall wird Wohlstand den Mangel ablösen, Wohnlichkeit, die Mißstände verschiedener Art, der Geist der Zusammengehörigkeit wird den Geist des Mißtrauens verdrängen, die Liebe zum Wissen den Geschmack an niedrigen Belustigungen und die persönliche Bildung wird siegen über den allgemeinen Tiefstand. Und es wird ein Geschlecht stolzer, freier, aufgeklärter und besserer Menschen erstehen …

»Marcel,« ruft mir Jeanne mit einer unduldsamen Stimme zu, »ich kann heute morgen nichts mit dem Mädchen anstellen. Sie redet immer drauflos und macht nichts als Dummheiten; überhaupt verbringt sie die meiste Zeit damit, mit dem Jungen zu spielen … die Kühe sind von der Weide ausgebrochen, es ist nötig, daß das Loch da zugestopft wird, wo sie durchgekommen sind … Ich werde wohl Vater Duplessis sagen müssen, da mal einen Gang hin zu tun, wenn er Zeit haben wird. Ich habe so viel Arbeit, daß ich das Ende nicht mehr seh und dabei keinen Mut, etwas anzugreifen … Ich bin ganz hin … ich habe Stechen … mein Herz klopft mir rein wie ein Uhrpendel … Oh, du meine Güte! ich bin ganz krank!«

Auf diese Art kam es, daß ich aus den schönen Phantasien, in denen sich mein Geist erging, wieder rasch in die traurige Alltäglichkeit zurückfiel …


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