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11. Kapitel

»Morgen willst du auch wieder fort, Marcel? Nein, das ist aber doch zu langweilig … Jeden Sonntag ist das jetzt dieselbe Geschichte, du hast jetzt immer hierhin oder dahin zu rennen.«

»Oh, morgen geh ich nur nach Baugignoux. Ich bleib nicht lange weg. Ich hab den Kameraden zugesagt wegen einer Versammlung; Falsches will ich ihnen nicht versprochen haben … Ich will auf alle Fälle versuchen, zeitig wieder heim zu sein.«

»Du wirst schon wie gewöhnlich um elf oder zwölf Uhr nachts nach Hause kommen, versuch nur nicht, mir noch was vorzumachen … Du zeigst schon deutlich genug, daß du mich nicht mehr lieb hast: wenn du mich noch gern haben würdest, ließest du mich nicht immer hier allein.«

Die Vorwürfe, die mir Jeanne an diesem Sonnabend machte, waren mir nichts Neues mehr. Seit zwei Monaten war ich fast regelmäßig jeden Sonntag abwesend. Die syndikalistischen Absichten kamen ihrem Ziel immer näher. Aus jedem Dorf des Umkreises schrieben mir Kameraden, sei es persönlich, um mich um eine Unterredung zu bitten, oder es handelte sich um eine Zusammenkunft. Meistens diente ein solches Zusammentreffen als Einleitung zu einer Beratung. Außer La Clayette hatte ich schon bei uns in Cremery, in Pericourt und Firmelière öffentlich gesprochen. Verpflichtet war ich außerdem noch, abgesehen von Baugignoux, in Saint-Savarin, Le Fresnois und Anlezey zu sprechen. Und selbst Teilleville und Verneuil hatten mich vorgemerkt … Ich sah mich, ungeachtet meiner Abwehr, viel tiefer in das Treiben hineingezogen als ich je hätte voraussehen können.

Das kam mir sehr ungelegen. Jeanne, die schwanger war, fühlte sich aufgeregt und leidend, sie war allerlei sonderbaren Abneigungen, unklugen Wünschen, Sehnsüchten und Traurigkeiten ausgesetzt. Lechzend nach Liebe und stürmischer Zärtlichkeit hätte sie gewünscht, ihren Mann jeden Abend und natürlich auch für den ganzen Sonntag für sich zu haben. Wenn ich mich des Abends absonderte, um zu schreiben, beklagte sie sich mit mehr Schärfe, als sie es früher getan hätte. Und wenn ich ihr dann am Sonnabend meine Absichten für den Sonntag mitteilte, die meist ein frühzeitiges Weggehen mit sich brachten und auf eine späte Rückkehr schließen ließen, fing sie also an zu jammern und überhäufte mich mit Klagen und Vorwürfen.

Ich entschuldigte mich:

»Was ist da zu machen? Wenn ich gehe, so ist das aus Pflicht und nicht zum Vergnügen, du weißt das selbst am besten …«

Und durch sanftes Zureden versuchte ich sie zu trösten, aber sie konnte nun einmal nicht diese Pflicht ernst nehmen, zu der nur ich verpflichtet sein sollte, diese Pflicht, die sonst niemand anging …

In Familiengesprächen erwähnte ich meine Propagandatätigkeit nie. Die Schatten von Vorwürfen, die ich manchmal in den Bemerkungen und Anspielungen meiner Eltern wahrnahm, ließen mich ihnen gegenüber etwas wie Beschämung über die Rolle fühlen, die ich spielte.

Gewiß fuhr mein Vater fort in diesen Fragen im Grunde meiner Ansicht zu sein, und theoretisch genommen dachte Denis Salembier, ein alter Demokrat, der im Gegensatz zu vielen anderen nie seine Ansichten verheimlicht hatte, gerade so wie Marcel, sein Sohn, dessen erster Anleiter er gewesen war. Jetzt aber ging ihm sein Schüler zu weit … Es ist gut, von der Möglichkeit einer Aufbesserung überzeugt zu sein: Man kann selbst in den Gesprächen mit den zu fügsamen und bescheidenen Kameraden einmal ein paar Pfeile gegen die Machthaber und Ausbeuter abschießen, aber diese geradezu regelrechte Propaganda, die Versammlungen, Zusammenkünfte, alltäglich einkommenden Briefe, das wurde zu viel, wurde gefährlich, brachte unsere Existenz in Unordnung … Das Wichtigste ist doch erst einmal, ein ruhiges und vernunftgemäßes Leben zu leben … Jeder für sich! Es gibt doch wahrlich genug eigenes und unabwendbares Elend, als daß man dabei noch gerade nötig hätte, sich das Elend, die Widerwärtigkeiten und Mißhelligkeiten für andere aufzuladen!

Diese Gedanken, die er unaufhörlich in sich wiederkäute, fühlte ich mit Macht in seinen heimlichen Verweisen und in seinen vorsichtigen Bemerkungen – z. B., wenn er mir halb lachend und doch schon verärgert sagte: »Und ich kann für die entzwei geschmissenen Töpfe aufkommen und muß zahlen für deine verfluchte Propaganda; ich bin jetzt am Sonntag immer allein für die Arbeit da und hab schon gar nicht mehr die Möglichkeit abzukommen.«

Was meine Mutter anbetraf, so war sie eine so gründliche Optimistin, daß ihre Vorwürfe mich nicht einmal betrübten noch überhaupt verletzten.

Sie war von mittlerer Statur, dazu robust und etwas rundlich, und hatte, trotzdem sie schon in die Fünfzig gekommen war, eine wunderbare Frische der Haut und einen so frohen Ausdruck im Gesicht, daß es Freude machte, sie daraufhin anzusehen. Sie kannte keine Krankheit, und die Arbeit, die sie nie erschöpfte noch abschreckte, war ihr etwas so Selbstverständliches wie ein natürliches Tun. Sie fühlte sich immer über alle kleinen und größeren Verdrüsse erhaben; sie bemächtigte sich ihrer kurzerhand, bewältigte sie allsogleich, und belächelte nachträglich den geringen Widerstand, den sie ihr entgegensetzten. Man bewunderte es an ihr, daß sie so war, daß sie immer guten Mutes, alles was das tägliche Leben an Sorgen mit sich bringt, heiter aufnahm, worum sich sonst so viele andere über alle Maßen aufzuregen gewohnt waren. Sie hatte genug Geschmack behalten, sich gut zu kleiden, eine Art jungmädchenhafter Eitelkeit tat sich in ihrer sehr einfachen, aber immer sauberen und adretten Kleidung kund, die jedoch mit der Mode nichts zu tun hatte. Sie vervollständigte sie sich auf den Messen und Märkten von Baugignoux, bei den guten Basen auf dem Marktplatz zwischen den Körben voll Eßwaren und dem zur Schau gestellten Geflügel, das mit zusammengebundenen Füßen an den Ständern hing. Aber sie ist auch nicht eine von diesen Frauen, die sich nach außen hin in liebenswürdigen Worten ergehen, während sie sich dann durch und durch zänkisch im näheren Zusammenleben zeigen. Nein! Sie ist immer von einer gleichmäßigen heiteren und ursprünglichen Laune, immer bereit, jedermann eine Freude zu machen und sich hilfreich zu erweisen, und ihre Fehler? Gott – vielleicht ein leiser Hang zur Geschwätzigkeit, eine kleine Vorliebe für Klatsch, sowie etwas Mangel an Taktgefühl, der ihrer unentwegten Offenheit entspringt. Alles belanglose Nachteile, die gar nicht gegen eine solche Ansammlung von guten Eigenschaften aufkommen.

Wenn sie es war, die mir alles zum Ausgang zurecht machte, bekam ich immer eine kleine Predigt:

»Alles was recht ist, aber soll denn das mit diesen Geschichten nun nicht bald aufhören? Das ist ja kein Leben, auf diese Art immerzu unterwegs zu sein. Deine Frau macht sich nur böses Blut dabei, und dein Vater, der sagt schon gar nicht, was er davon denkt …«

Aber, wenn es nur irgendwie den Anschein hat, als ob ich vielleicht verdrießlich werde oder gar trübselig, hat sie nichts Eiligeres zu tun, als mich wieder zu trösten:

»Na, was denn, kehr dich nicht um uns. Wenn du es nun einmal auf dich genommen hast, geh nur mutig ran!«

Häufig kam es vor, daß Jeanne im letzten Augenblick zu weinen anfing, und ich hörte dann das schwere Schluchzen, das ihr in der Kehle würgte und sie fast zu ersticken drohte.

Die Luft von draußen verdrängte diese traurigen Eindrücke bald. Nach fünf Minuten schon hatte das klare, logisch denkende Gehirn das etwas zu empfindsame Herz übertrumpft. Ich war wieder der starke Mann. Kein sozialer Fortschritt kann ohne Opfer und Leiden erlangt werden. Wenn man das Bewußtsein hat, der richtige Mann dafür zu sein, muß man, koste es was es wolle, den Weg gehen, den man sich zugewiesen hat, ohne sich durch die Familie und die unzähligen Widerwärtigkeiten abhalten zu lassen, die sich gegen alle bahnbrechenden Handlungen verbünden. Es ist besser, sich selber Gewalt anzutun, anstatt sich von Mitleid gegen diejenigen rühren zu lassen, die durch ein solches Apostelamt zermalmt werden. Ich fühlte das ganz klar.

Und ich fühlte es stärker noch, wenn ich mit Kameraden in Berührung kam. Sie umringten mich, feierten mich; ihr Vertrauen machte mich stolz. Und mit einer sich steigernden Energie betrieb ich weiter die Propaganda.

Die Resultate der Versammlungen in der einen oder anderen Gemeinde wichen wenig voneinander ab. Die Neugierde führte eine Menge Menschen herbei; die Anwesenden hörten mit Aufmerksamkeit zu, bekundeten eine gewisse Begeisterung, aber wenn es dazu kam, den Beitritt zu erklären, zogen sie sich fast alle zurück.

Bei uns, in Cremery, waren der Herr Réalmont und Herr Lacaze unter den Teilnehmern. Die Anwesenheit des Besitzers und des Hauptpächters und vielleicht auch die Tatsache, vor eigenen Landsleuten zu sprechen, die ich nur allzu gut kannte, und die mich ebensogut kannten, brachte mich etwas in Verwirrung; ich war meiner selbst weniger sicher als sonst und verwirrte mich häufiger.

Die beiden Bourgeois hielten sich im übrigen davon ab, mich zu unterbrechen. Kaum, daß Réalmont ein paar Bewegungen machte, die auf Widerspruch deuteten, oder sich hin und wieder zu seinen Gefährten neigte, um ihnen sicherlich eine empörte Bemerkung zuzuflüstern.

Als ich aber geendet hatte, erbat Herr Lacaze das Wort und entwickelte nun seinerseits eine ziemlich geschickte Widerlegung, indem er über den gegenwärtigen Wohlstand der Bauern sprach im Vergleich zu der Stellung, die sie vor vierzig Jahren einnahmen. Er verteidigte dabei die Hauptpächter im allgemeinen, denen so viele landwirtschaftliche Fortschritte zu verdanken waren. In dem wenig schmeichelhaften Bilde, das ich von ihnen zu entwerfen beliebt hätte, könnte er sich nicht wiedererkennen. Er glaubte auch, den Pachtbauern ebenso günstige Bedingungen zu machen, wie die Mehrzahl der Besitzer, und er könnte den Sinn eines Syndikats nicht begreifen, das ich zu gründen beabsichtigte. – Jeder Pachtvertrag bestände doch aus einem Übereinkommen zweier freier Entscheidungen.

Ich erwiderte darauf mit Nachdruck, daß das bißchen Wohlstand in keinem Verhältnis zu der Steigerung der Arbeitsleistungen stände, die durch die neuen Methoden des Landbaus erforderlich geworden wären. Ich sprach von den erbärmlichen Wegen, von den alten, wie mit Aussatz behafteten ungesunden und unbequemen Häusern, worin zehn Generationen von Leibeigenen einander abgelöst hatten, und von der Ernährung, die viel zu wünschen übrig ließ. Und ich sagte noch, wenn man auch unter den Hauptpächtern, im allgemeinen genommen, ehrenwerte Ausnahmen finden könnte, so verdiente die Mehrzahl von ihnen doch, daß sie gezeichnet würden, wie ich das vorhin getan hatte.

Mein Gegenredner widersprach aufs neue, und unser friedlicher Wortstreit dauerte noch eine gute Weile fort. Man hörte Lacaze wohlwollend zu, aber er beachtete die Beifallsbezeugungen gar nicht, mit denen man gegen mich recht freigiebig war. Im großen ganzen ging wohlverstanden alles mit Bravorufen vorüber. Zur knappen Not geruhten etwa ein halb Dutzend Teilnehmer zu bleiben, um sich zum Beitritt bereit zu erklären.

Descombes von der Rifarderie, der furchtbare Descombes, der so wortreich im vergangenen Winter gewesen war, hatte sich wohlweislich dicht an der Tür gehalten während der ganzen Zeit und schlüpfte schon als einer der ersten mit hinaus. Mein Vater ging am Schluß der Sitzung in der Gesellschaft von Signoret auch fort, aber er sagte mir am nächstfolgenden Morgen:

»Wenn ihr eine Gruppe gründet, schreibst du mich ein, verstehst du … Ich wollte nur nicht den Anschein geben, in der ersten Reihe bei dieser Sache zu sein: es ist schon genug, wenn du es bist …«

Was Signoret anbetrifft, so vermied er es bedachtsam, überhaupt wieder auf die Sache zurückzukommen. In Baugignoux gab es an diesem Januar-Sonntag einen Zwischenfall anderer Art.

Unter den dreißig Mutigen, die entschlossen schienen, eine vorläufige Verpflichtung einzugehen, war auch ein gewisser Cadet Breton aus Sivrière, ein Nachbar meiner Schwiegereltern, der, wie sie, Pachtbauer des Herrn Trochère war. Von Natur aus ein schlauer Fuchs von bescheidenem Aussehen, dabei etwas den Rührmichnichtan spielend und obendrauf noch klein von Statur, nahm Cadet Breton wenig Platz ein, und es konnte ihm leicht gelingen, unbemerkt zu bleiben.

Mein Schwager, Joseph Girard, der in der Versammlung zugegen ist, schleicht dicht an mich heran und flüstert mir heimlich zu:

»Siehst du den da, den kleinen Cadet dahinten, das ist ein Schnüffler von der besten Sorte … Der wartet nur, um zu sehen, was jetzt vor sich geht. Sei auf der Hut!«

Ein Zeichen der Zustimmung, und ich verkünde alsobald mit gebieterischer Stimme:

»Vorwärts denn! An die Unterschriften. Heda, Ihr, Breton, geht als Erster vor. Es macht sich besser, daß wir die Liste nach dem Alphabet machen …«

Der Mann begann sich ganz außerordentlich verlegen auf eine ganz komische Art und Weise zu erregen:

»Ich? Was denn ich? Ich bin hier zum Sehen – aber ich bin doch nicht so, daß ich entschieden bin … Ein Syndikat, sicher, na ja, das wär recht fein … Wenn Ihr sie alle erst drin hättet: Nur daß sich nicht ein jeder drin tut … Nee …«

»Ihr weigert Euch? Dann weiter, ein anderer, Ihr zum Beispiel, Désormières. Aber ich wiederhole, daß diejenigen, die sich nicht einschreiben wollen, sich verziehen können, wir bedürfen ihrer nicht länger.«

Darauf macht sich Cadet Breton, mit den Armen fuchtelnd und vor sich hinredend, eiligst aus dem Staube …


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