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33. Kapitel

Siebenundzwanzig Monate sind seitdem vorübergegangen, während deren mein Leben ganz werkeltagmäßig geflossen ist, ein wenig egoistisch, ein wenig flach, an Mühen reich und fast ganz still.

Eine zweite Schwangerschaft hat, wie mir scheint, zuwege gebracht, daß Jeanne ihre lästige Neurasthenie losgeworden ist. Sie hat Kraft und Lebensmut wiedergewonnen, und sie ist jetzt ebenso regsam, wie sie vorher träge war, nicht nur ihre Gesundheit, sondern auch ihr Charakter haben sich gebessert.

Maurice ist nahezu vier Jahre schon, er schließt sich scheinbar körperlich und geistig seiner Großmutter Salembier an, was sehr gut für ihn selbst und für seine Nächsten sein wird.

Sein jüngerer Bruder, Henri, der zu Weihnachten in sein zweites Lebensjahr getreten ist, fängt an zu laufen und kann gerade schon einige Worte reden, die auch die anderen verstehen.

Ganz gewiß machen unsere beiden Jungen uns viel Mühe, aber sie bereiten uns auch viel Freude, und ihre Zärtlichkeiten sind uns unendlich teuer.

Auf meinen seltenen Ausgängen, sei es nach Baugignoux oder Cremery, vermeide ich möglichst die Gespräche allgemeinen Charakters. Ich ziehe eine Partie l'hombre vor. Das macht mir gerade keinen großen Spaß, aber es ist eben ein Mittel, mich reserviert zu halten.

Wir können, d. h. Jeanne und ich, uns kaum unseres Viehes wegen gleichzeitig vom Haus entfernen. An den Sonntagabenden, wenn ich zu Hause bleibe, geht sie häufig, einen kleinen Gang mit den Kindern nach Amouraux zu machen. Auch ich gehe selber verschiedentlich hin, damit es nicht den Anschein hat, daß ich etwa meinen Schwiegereltern etwas nachtrage. Ich gehe auch so oft wie möglich nach der Waldhütte. Hier wie da bin ich bestrebt, keine anderen Gedanken aufzuweisen, als diejenigen, die mit dem Gedeihen meiner Ernte zusammenhängen oder mit dem Wachstum meiner Tiere. Ich habe mich jetzt gut allen Interessen des Standes anbequemt, der ja auch der meine ist. Das scheint mir manchmal etwas schwer zu ertragen, aber wer könnte schließlich nach reiflicher Überlegung sagen, daß er immer ohne Falsch und Hehl ganz er selber ist.

Das Syndikat von Baugignoux lebt noch immer. Seine Zweigabteilungen in den weiterabliegenden Gemeinden sind nach und nach immer mehr eingeschrumpft, um endlich ganz zu verlöschen. Aber die Anhänger des Hauptsyndikats in Baugignoux und in den Nachbargemeinden La Clayette und Cremery sind fast alle dabei geblieben – einige neue sind selbst hinzugekommen. Sie schätzen die Vorteile, die ihnen der Genossenschaftsladen bringt, ebenso die Vorzüge, die sie durch die Darlehnskasse genießen, deren Nutzen sie endlich eingesehen haben.

Die praktische Hilfstätigkeit ist die einzige, die durchschlagend gewesen ist. Man läßt die großen Träume von ehemals ruhen. Man wiederholt oft den alten Satz von Perotte: »Später, wenn die Leute alles besser begreifen, aber jetzt ist nichts zu machen!« Guillemet hat trotz allem durchgesetzt, daß ihm im letzten Jahr eine Summe von 100 Franken für den Ankauf von Büchern zur Verfügung gestellt wurde. Das Syndikat besitzt jetzt also eine kleine Bücherei, wenn man auch erst in den Anfangsstadien ist, die sich aus einigen sozialen Werken, aus ein paar Romanen und aus einer gewissen Anzahl landwirtschaftlicher Abhandlungen und gesetzlicher Bestimmungen zusammensetzt, die uns vom Ministerium zugesandt wurden. Nur daß von den achtzig Genossen, die sich in die Gruppe haben eintragen lassen, zweiundsiebzig bis jetzt noch nicht geruht haben, auch nur ein einziges Buch zu entleihen: das ist, leider, so!

Guillemet waltet pflichtgetreu und klug seines Amtes. Aber seit zwei Monaten ist sein Vater kränklich geworden, es verhält sich nun so, daß er aus diesem Grunde weniger Muße und weniger Ruhe zum Arbeiten hat, und das Amt beginnt ihm drückend zu werden; er spricht davon, Pintraud Platz zu machen, sowie dieser vom Militärdienst zurückgekehrt ist. Eines Tages im Laufe des Winters, der nach meinem Austritt folgte, begegnete ich auf dem Marktplatz von Verneuil Herrn Paul Doulon-Meuget.

»Ich habe gehört, daß Sie ausgetreten sind, und ich bedaure das,« sagte er mir. »Ich bedaure es, obgleich der heftige Ton, den Sie in ihren roten Anschlägen und in Ihren Zirkularen im letzten Herbst anstimmten, mich geradezu verletzt hat. Und die neue Sachlage, die Sie vorbereiten sollten, mußte ja in sich zusammenfallen, das war von vornherein zu erwarten.«

»Ich habe es auch bezweifelt … Die soziale Tätigkeit ist an sich undankbar und schwer, aber es ist immerhin gut, die Bauern aus ihrem Schlaf aufzurütteln, die in ihrer Sklaverei versunken sind wie die Bürger in ihrem Egoismus. Im Grunde glaube ich, daß überhaupt keine Bemühung jemals ganz verloren geht …«

»Das ist auch meine Ansicht,« pflichtete er mir bei. »Aber es müssen dennoch keine solchen Bemühungen sein, die nur Schaden mit sich bringen … Und im übrigen, wie Sie ja wissen, bin ich ein Feind jeglicher aufreizenden Predigten …«

»Man tut eben alles, so gut man es kann, für die rechte Sache … Man ist aber nicht immer der alleinige Herr, der zu entscheiden hat … Und die Ergebnisse sind immer geringer als das, was man erwartet hat.«

»Die soziale Arbeit ist auch unter den Bürgerklassen ebenso schwer auszuüben wie im Volk. Das können Sie mir glauben; ich habe schon meine peinlichen Erfahrungen darin gemacht.«

»Das kann ich mir denken …«

Wir gingen hierüber auseinander, nachdem wir noch einen freundlichen Händedruck ausgetauscht hatten. Ich habe ihn darauf nicht wieder gesehen.

In derselben Zeit hatte ich Gelegenheit, mich mit Henri Salmon zu unterhalten …

»Du hast Glück, daß du in der Lage bist, dich ausruhen zu können,« sagt er mir. »Ich wollt, ich könnte es dir nachmachen. Aber ich sehe regelrecht niemand, rein niemand, der imstande wäre, mich zu ersetzen. Wenn ich zurücktrete, verfällt die Gruppe, das ist so sicher, wie zwei mal zwei vier ist.«

»Könnte nicht vielleicht doch einer von den jungen Leuten? …«

»Nicht einer von ihnen, sag ich dir, nicht ein einziger! Sie wollen wohl, daß das Syndikat ihnen Vorteile besorgt, aber ja nicht, daß ihnen Arbeit daraus entsteht oder gar Verantwortlichkeiten. Sie sind nicht genug gebildet dazu, sagen sie. Nicht ganz mit Unrecht, übrigens: Ich kenne gerade drei, die fähig sind, einen regelrechten Brief zu schreiben und vielleicht noch außerdem eine Aufstellung zu machen und Rechnung zu führen, die anderen können kaum ihren eigenen Namen unterzeichnen. Na also, und diese drei haben schon ihr Amt. Sie sind: der Sekretär, der zweite Schriftführer und der Schatzmeister. Aber das sind keine Männer, die Verstand genug hätten, einer solchen Sache vorzustehen. Keiner von ihnen wird mit Holzkäufern und mit den Unternehmern, die die Steinbrüche ausbeuten, unterhandeln können, dann zwischen den Kameraden die Arbeit und das verdiente Geld austeilen, geschweige denn unsere Versammlungen leiten …

»Du kannst daraus selbst sehen, wie ich dran bin. Ich bin wahrhaftig auf Lebenszeit der Vorsitzende und der Generalverwalter in einer Person! Alle sagen sie kurzweg: das Syndikat von Salmon, und damit treffen sie so ungefähr die Wahrheit.«

»Traurige Zustände sind das!« sagte ich nur. »Denn solange eine Organisation die Sache eines einzelnen Mannes sein wird, bleibt sie nur ein flüchtiger Machtfaktor und kann vom allgemeinen Standpunkt aus nicht viel bedeuten.«

»Wann bloß, möchte ich wissen, wann«, seufzte Salmon, »wird es uns gelingen, daß wir tatkräftige Männer aufweisen können?«

»Ja, wann,« wiederholte ich für mich hin. Ich versuchte dennoch den Geist meines Kameraden zu heben, indem ich seinen Mut lobte, um ihn seine Aufgabe weiter erfüllen zu lassen, von der er keine Möglichkeit sah, sich zu befreien.

   

Herr Trochère und seine Stadträte sind im vergangenen Jahr von den Sozialisten geschlagen worden. Verschiedene Leute behaupten, daß das Syndikat der Landarbeiter ihnen diese Niederlage gebracht hat, weil der syndikalistische Feldzug den Verstand der Bauern geklärt hat und in den Seelen der Leute, die ihr Elend um so drückender empfanden, ein Gefühl des gehässigen Mißtrauens gegen die gesellschaftlich Höherstehenden und besonders gegen Trochère selbst geweckt hat.

Darin liegt vielleicht ein Teil Wahrheit, aber sicher nicht die ganze. Der Grund ist, daß der Bauer, der lange im gedeihlichen Zustand lebte, jetzt nur mehr vegetieren kann, wenn er nicht gar noch mehr herunterkommt … Das Leben auf dem Lande wird immer schwerer. Und weil es so ist, daß man immer einem die Schuld an den lästigen Tatsachen zuschiebt, selbst wenn es in keines Menschen Möglichkeit gewesen wäre, die Lage zu ändern, mußten der Bürgermeister und die Stadträte das büßen … Trochère ist darüber sehr betroffen gewesen, er kann nicht begreifen, daß man seine ehemaligen Verdienste vergessen haben soll, er wird sauer und verdrießlich, vielleicht täte er gut daran, sich auch aus seinen Geschäften zurückzuziehen, wenn er nicht den neuen großen Ärger erleben will, zu sehen, wie sein Haus in die Brüche geht … Es bleibt ihm immerhin die Möglichkeit übrig, als ganzer Millionär zu leben. Wir hätten also unrecht, wenn wir ihn bemitleiden wollten.

Wir werden in diesem Frühjahr die Parlamentswahlen haben. Die sozialistischen Komitees werden, scheint es, Gibon, den Bürgermeister von La Clayette, vorschlagen, der seit drei Jahren im Provinzialrat ist. Seine Freunde glauben an die Möglichkeit seines Erfolges auf Grund der Bewegung, die sich in der ganzen Gegend von Wahl zu Wahl bemerkbar macht.

Man spricht auch über die wahrscheinliche Kandidatur des Agronomen, des Herrn Duvernoy aus Bellefeuille: er würde zum mindesten liberal sein, wenn nicht sogar Fortschrittler.

Anderseits hat der frühere Abgeordnete, ein etwas blasser Radikaler, der aber alle kleinen Aufträge seiner Freunde und selbst der Freunde seiner Freunde prompt erledigt, noch eine ziemlich zahlreiche Anhängerschaft.

Das alles verspricht einen recht lebhaften Wahlkampf. Aber meine Seelenruhe soll mir dadurch sicherlich nicht gestört werden … Ich hoffe wenig von den Wahlergebnissen. Sie machen zu viel Lärm und wirbeln zu viel Staub auf, ohne von den sauberen Machenschaften zu reden, von denen das große Publikum nichts weiß. Sie sind unheilvoll für die persönliche Bildung, die die Grundbasis aller sozialen Verbesserungen ist. Ich werde keiner Versammlung beiwohnen.

Und hier noch ein Brief von Marthe André, der mich etwas besorgt macht, er lautet:

 

Buy-le-Château, den … März 19..

»Mein lieber Marcel, ich habe Dir eine große Neuigkeit mitzuteilen. Als Du im Monat November hier gewesen bist, habe ich Dir, Du mußt Dich wohl darauf besinnen, von einem Magistratsbeamten, Herrn Loudière, gesprochen, der jeden Tag in den Laden kam und da so lange wie möglich verblieb und sich immer um mich zu schaffen machte.

»Er hat das so immer weiter getrieben, obgleich ich alles getan habe, um ihn zu entmutigen, und er hat mir denn nun vorgeschlagen, ihn zu heiraten …

»Ich habe mir Bedenkzeit ausgebeten, wohlverstanden … Ich habe einen ganzen Monat ausbedungen, ehe ich ihm meinen endgültigen Entschluß mitteilen werde. Aber je mehr ich nachdenke, um so mehr bin ich bedrängt.

»Herr Loudière ist ein Witwer von annähernd vierzig Jahren, er lebt mit seiner Mutter und seinen beiden kleinen Mädchen von 10 und 12 Jahren zusammen. Er ist ein angenehmer Mann, der in dem Maße ruhig ist, in welchem mein armer Alfred überschwänglich war. Ich habe auch nur gute Auskünfte über ihn erhalten, wo ich auch gefragt habe. Er geht wenig aus, raucht nicht und spielt nicht.

»Sein Amt bringt ihm mit seinen zweitausend Franken Gehalt im ganzen etwa viertausend ein. Man hat ihm auch eine baldige Aufbesserung versprochen.

»Die Mutter, eine rüstige Frau noch, die auch ihre Einzelwohnung in einem Hause des anderen Viertels beibehalten hat, würde sich nach der Hochzeit in ihr Heim zurückziehen. Die beiden Mädchen sehen freundlich aus und scheinen wohlerzogen zu sein.

»Alles das ist ziemlich ermutigend. Dennoch zögere ich beständig … Es scheint mir so schwierig, auf mein trübes, eintöniges Leben zu verzichten, das aber in ruhigen Bahnen dahinfließt, um es gegen eine neue Verbindung einzutauschen, die mir sogleich die schweren Verantwortlichkeiten einer Familienmutter aufbürdet.

»Sagt Ihr mir denn, Du und Jeanne, einmal ganz offen, was Ihr denn davon denkt. Ich bedarf sehr eines Rates …«

   

Ich habe wohl ungefähr so etwas geantwortet:

»Meine arme Marthe, Du bist kein Kind mehr, Du besitzt Dein gutes Teil Vernunft, mein ich, um selbst einen weisen Entschluß zu fassen ohne alle sentimentalen Nebengedanken … Es wäre zum mindesten unbedacht unsererseits, wo wir doch den Herrn Loudière nie gesehen haben und nichts von ihm wissen, Dir anzuraten, seinen Antrag abzuweisen oder anzunehmen …«

Wozu das alles überhaupt? War denn ihr Entschluß nicht schon seit Stund und Tag gefaßt? Und wünschte sie etwa anderes, als ihn noch auf unsere Zustimmung zu stützen?

Ja, sie wird diesen Loudière heiraten, weil in ihr die Gefühle lauter reden, als die kalten und trockenen Vernunftgründe und auch, weil eine Frau mit 32 Jahren, Witwe ohne Kinder, nicht dazu geschaffen ist, ledig zu bleiben: sie hat noch zuviel Liebe und zuviel Hingabe in sich und auch zuviel Tatkraft; sie wird um neues Glück das Wagnis neuer Sorgen nicht scheuen …

   

Die Blicke der Öffentlichkeit haben sich schon lange von mir abgewandt, ich habe aufgehört, Briefe aus Paris zu empfangen. Der »Impartial« übergeht mich mit verächtlichem Stillschweigen, und sicherlich nehme ich in den Gesprächen der Bourgeois nicht mehr den geringsten Platz ein …

Meine Persönlichkeit ist ausgelöscht, ich bin nichts mehr als ein Bauer aus der Hochebene des schweren Bodens, der viel arbeitet, bedachtsam lebt und zum Schluß des Jahres die beiden Enden mühselig zusammenbringt. Ich bin nichts anderes mehr als ein Bauer, der sich unter das Gesetz der Allgemeinheit beugt.

Dennoch habe ich die Laune gehabt, aufs Geratewohl diese Erinnerungen niederzuschreiben. Ich habe sie im Winter geschrieben, in den Dämmerstunden, wenn die Kinder zu Bett gebracht worden waren.

Ich habe zuerst einige Vorwürfe von Jeanne über mich ergehen lassen müssen:

»Hör aber, da sitzt du wieder in deinem Papierkram. Du hattest doch versprochen das nachzulassen!«

Ich antwortete mit einem sanften Lächeln:

»Das ist jetzt aber ganz etwas anderes wie vorher. Ich schreibe, um mir die Zeit zu vertreiben, nichts weiter.«

Und da ich dann auch keine Eile an den Tag legte, meine Arbeit zu Ende zu führen, und immer bereit war, wenn sie aufhörte zu arbeiten, auch mit meinem Geschreibsel aufzuhören, ist sie dazu gelangt, mir wohlwollend diese ungefährliche Zerstreuung nachzusehen …

 

Titel- und Einbandzeichnung von F. H. Ehmcke / Gedruckt bei Oscar Brandstetter in Leipzig / Von diesem Buche wurden 20 Abzüge auf Büttenpapier gedruckt / in Ganzleder gebunden / und handschriftlich numeriert

 


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