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31. Kapitel

Wir halten zum kommenden Oktober im Syndikat eine Versammlung ab, um Ausschau zu halten, wie wir die Entschlüsse der Hauptversammlung ausführen könnten. Der Wind weht auf – Taten, auf unmittelbare Taten! Die Mehrzahl der anwesenden Abgesandten zeigt sich entschlossen und kampflustig. Trotzdem ich protestiere unter der Behauptung, daß wir doch keine Kinder mehr sind, die ein Spielzeug brauchen, stimmt man für den Kauf einer roten Fahne, man entscheidet sich, Anschlagzettel aufkleben zu lassen und Aufrufe zu verbreiten, um auf die Zögernden einen Druck auszuüben, sich uns anzuschließen, und damit das gemeinsame Vorgehen mehr Aussicht hat, erfolgreich zu sein. Ich bin, nebenbei gesagt, noch aufgefordert, eine neue Vortragstournee einzurichten. Denn, mußte man sich nicht aller Mittel bedienen, um in bezug auf den bedeutsamen Tag Begeisterung anzufachen?

Aber sie werden wenig besucht, diese Vorträge. Die anfängliche Neugierde ist dahingeschwunden: Man bemüht sich nicht mehr hin, um das schon allzu gut bekannte Lied zu hören. Und mit der Ankündigung des berühmten Kampftages wächst das Mißtrauen in bezug auf die Feiglinge und Ängstlichen, auf alle, die sich fürchten sollten, den Herren die Stirn zu bieten und sich dadurch unliebsame Geschichten zuzuziehen.

† Ich geißele voll Erbitterung und Schärfe die Abwesenden; ich werfe ihnen Trägheit vor, und versuche zu beweisen, daß, wenn die Menschen unglücklich wären, so sei das ihre eigene Schuld. Ich versuche die Anwesenden anzufeuern und mit fortzureißen.

Ihr wenigstens, Kameraden, ihr werdet nicht zögern, euch uns anzuschließen; ihr werdet die Zahl der Wagemutigen Und der Klugen vergrößern, die entschlossen sind, die nötigen Kräfte aufzubringen, um unsere Lage aufzubessern!

Aber in dem kurzen Augenblick, während dem ich sie mir kalten Blutes ansehe, habe ich die Erkenntnis der völligen Nutzlosigkeit meiner Auseinandersetzungen; ich fühle, daß meine Worte an dem dreifachen Panzer ihrer Unwissenheit, ihres Mißtrauens und ihrer Gleichgültigkeit abprallen.

Nein, ganz sicher, sie werden nicht mitgehen, … im Grunde sind sie – und das nicht allein, die Abwesenden – ganz und gar nicht aufgelegt, den bedeutungsvollen Gang zu wagen, und das für einen recht ungewissen Erfolg. Und wenn ich ihnen hierauf versichere, daß viele bereit wären diesen Gang zu wagen, dann spiegele ich mir jetzt selbst etwas vor, um sie mitfortzureißen. Eine vergebliche Mühe im übrigen …

Überhaupt, vielleicht ist es viel besser, wenn sie sich ruhig verhalten! Würden sie mit Ruhe und Würde die entschlossene Handlung, die man ihnen rät, ausführen können, so wie ich es empfinde? In dem notwendigen Kampf um ihr tägliches Brot liefern sie den Beweis einer Tatkraft und Klarheit, die sie adelt. Aber davon abgesehen, sind sie eigensüchtig veranlagt, schwach und plump in ihrem Wesen …, vereinigt sind sie wiederum lärmig und zur Wildheit geneigt; es fehlt ihnen jedes innere Eigenleben.

Und die Männer, diese Bauern, die ich nicht kenne, warum sollten diese gerade anders sein, als diejenigen, die mir persönlich bekannt sind? Die Klugheit rät mir, sie auf gleiche Stufe zu stellen. Von denjenigen, die ich gut kenne, sind: Descombes – leichtlebig und aufbrausend, der unüberlegtesten Gewaltsamkeiten und unmöglichsten Plattheiten sowie jeder Unbeständigkeit fähig; sodann Hervaux, ein schöner Junge, etwas zu eingebildet auf seine eigne Person, ohne Zweifel fähig zu vorübergehenden Handlungen, aber noch stärker darin, die anderen anzufeuern, als selbst zu handeln; er ist dabei nicht mit raschem Auffassungsvermögen begabt, so daß er oft am folgenden Morgen das verwirft, was er am Vorabend bewundert hat. Dann ist da noch Courtial, auch ein Anhänger, der sehr treu zu sein scheint, aber er ist ohne Überlegung und zu oft der schädlichen Aufreizung des Alkohols bedürftig, um sich in dem Zustand der Waghalsigkeit zu erhalten, die er zu besitzen vorgibt. Dann Perrichon – ein Aufschneider, der sehr stolz darauf ist, als Spaßmacher zu gelten, dem aber alle sozialen Gedanken völlig fremd sind; dann Signoret, ein ausgezeichneter Mensch, aber matt und mutlos, Gobert – schweigsam und lästig in seiner Art, der noch an den Sitten einer anderen Zeit festhält und nicht recht am Platz zu sein scheint in einem Jahrhundert der Aufklärung. Es folgen noch Cadet Breton, der den Spitzel für seinen Herrn abgibt, die beiden Couturier, fleißige, sichere Arbeiter und fromme Menschen, der Vater Duplessis, unwissend und geschwätzig, Perotte und Roussel, zwei gottesfürchtige Menschen und sympathische Kameraden, die mich aber doch öfters enttäuscht haben, da sie den wesentlichen Sinn meiner Gedankengänge nicht verstehen konnten. Wenn also diese alle mich nur zur Hälfte verstanden haben, welche falsche Meinung müssen sich dann die anderen von mir machen! Wie viele Male verkannte man den wahren Sinn meiner Propaganda! Wie viele sahen in ihm nur die Gebärde eines Aufwieglers oder die eines eigensinnigen Kopfes, ohne den erzieherischen und moralischen Wert meiner Worte herauszufühlen. Es ist eigentümlich, wie fern man sich manchmal nicht nur seinen Arbeitsgenossen und Mithelfern im Kampfe, sondern auch seinen nächsten Freunden gegenüber fühlt! Es ist besser, man sagt, daß es komisch ist, um nicht gezwungen zu sein, festzustellen, wie traurig so etwas eigentlich genannt werden muß.

So war es denn, daß mich viele entmutigende Betrachtungen quälten, und meine Begeisterung war schon rein eine erdichtete. Seitdem sind mir noch andere Gewißheiten klar geworden, die mir zu der Zeit noch verhüllt waren. In der jetzigen Zeit frage ich mich, ob es nicht ein großes Unglück ist für einen Menschen des Volkes, den Geschmack zu sozialen Besserungen und zur geistigen Entwickelung in sich zu tragen; er kommt dazu, unter den Menschen seines Standes einsam dahinzuleben, weil seine Gedanken nicht mehr im Zusammenhang sind mit denjenigen seiner leidenden Brüder, an deren Unwissenheit er nicht mehr teilnimmt.

Währenddessen bestand das Elend meines häuslichen Lebens weiter fort und vertiefte sich immer mehr, Jeanne kam in einen immer ernsteren neurasthenischen Zustand und wurde ganz unerträglich. Es kam ihr in den Sinn, halbe Tage lang unter dem Vorwande einer unüberwindlichen Müdigkeit im Bett liegen zu bleiben und sich in bezug auf die Versorgung des Kindes ganz auf die unbrauchbare Bertha zu verlassen. Natürlich ging dabei alles drunter und drüber; oftmals, wenn ich zum Essen nach Hause kam, fand ich sozusagen die Suppe noch im Brunnen. Und was den Kleinen anbetraf, so machte ich mir darüber fortwährend Sorgen. Nach Martini, als unsere Magd gegangen war, wurde der Zustand für mich ein noch unhaltbarerer. Germaine konnte nicht kommen wie im Vorjahr; Mutter Couturier war nicht wohl, und der Großvater hatte eine Art Anfall gehabt, der ihn halb gelähmt hatte. Die Schwägerin bot sich dennoch an, mit ihrer Schwester Marie zu vereinbaren, sich meines Jungen anzunehmen, wenn wir ihnen diesen anvertrauen wollten. Ich mußte zustimmen, da mir keine andere Wahl übrigblieb in dieser schweren Zeit.

Aber von da an brachte Jeanne es fertig, sich fast jeden Tag nach Amouraux hinüberzubegeben. Sie ging gegen Mittag fort und kam erst bei sinkender Nacht nach Hause – und das Resultat war ein neues Durcheinander.

Die Wiederaufnahme meines Feldzuges in der Gestalt von Zusammenkünften, Anschlagzetteln, Aufrufen, die in einem eher heftigen Ton gehalten waren, und die Ankündigung eines demnächst zu erwartenden Versuches zu neuem Vorgehen brachten es mit sich, daß ich überall als Revolutionär bezeichnet wurde, was jedenfalls bei der Familie in Amouraux eine reichlich lebhafte Aufregung verursacht hatte. Mutter Couturier mußte davon fortwährend reden, und Jeanne, niedergedrückt und krank wie sie war, wird dadurch ständig aufgeregt, wie von einem unheilvollen Gift; sie quält mich mit trüben Prophezeiungen, indem sie sagt, daß ich noch einmal damit enden werde, ins Gefängnis zu kommen und daß sie dann hungern kann … Diese trostlose Aussicht wird ihr zuletzt zu einer Art Wahnvorstellung.

Welch Elend und welche Trübsal! Wir sind wie zwei Feinde; unsere Vertraulichkeit hat sich in ein Verhängnis verwandelt, das wir knirschend tragen. Ohne Zweifel haßt sie mich! … Und ich fühle von Tag zu Tag meine Abneigung gegen sie wachsen. Ich verübele es ihr, daß sie unangenehm und unerträglich ist, ich verübele ihr, daß sie ihren Platz im Hause nicht voll ausfüllen kann, ich verübele ihr, daß sie krank ist: diese Krankheit, die ich vielleicht hartherzig als Einbildung bezeichne, denn es scheint mir, daß sie sie mit etwas Willenskraft einschränken könnte …

Vater Duplessis wundert sich über meine regelmäßigen und lang ausgedehnten Abwesenheiten an jedem Sonntag.

»Du hast doch wohl Geschäftliches zu erledigen in der Zeit?« fragte er mich.

Ich antwortete etwas dunkel:

»Ja, ich befasse mich mit einer recht wichtigen Sache, aber das wird nicht lange Zeit so bleiben.«

Er sinnt angespannt nach, was es sein könnte, das ist wohl sicher, aber er wagt nicht, weiter auf mich einzudringen. Er weiß von alledem nichts, und was für einen Zweck hätte es, wenn ich es ihm sagte? Er ist gar nicht fähig, es zu verstehen …

Davon abgesehen, wacht er über meine Tiere und gibt ihnen Futter, wenn ich nicht zur rechten Zeit heimkomme.

Meine Eltern sind in tiefer Sorge über mein häusliches Leben und ratlos, ratlos mehr als je über mein Apostelamt.

»Das ist sicher,« sagt mir eines Tages mein Vater, »das ist ganz sicher, daß dieses noch eines Tages schlecht für dich ablaufen wird, Marcel. Du trittst zu viel hervor, dein berühmter Versuch scheint mir nicht viel wert zu sein. Keiner von ihnen wird mitgehen, das will ich dir im voraus sagen. Du wirst dir nur noch mehr Feinde machen, das ist alles. Und ich hab wirklich Angst, daß du nicht noch zuletzt das Land verlassen mußt … Ich hab darüber oft mit deiner Mutter geredet, das quält sie viel, das kannst du dir denken … wenn du dich ruhig verhalten hättest, anstatt dich in diese Geschichte hineinzustürzen, dann hätten sich deine Angelegenheiten dabei besser gestanden, und du auch mit ihnen …«

Ich täusche Zuversicht vor, die gar nicht im Zusammenhang steht mit meinen wahren Gefühlen. Zu hören, wie mein Vater jetzt ebenso redet wie meine Schwiegereltern oder wenigstens ähnlich, – das macht bei mir das Maß voll und legt sich als dunkler Schatten über meine Seele …


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