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Timur

Ermar hatte das Geschlecht von Parimor vom Thron gestossen. Parimor selber, sein Weib und seine Freunde waren gefallen unter dem Schwerte des Überwinders. Nur Timur, sein einziger Sohn, fiel lebend in Ermars Hände. Ungern unterwarf sich das Land dem Sieger, der die Burg des unglücklichen Parimor an der Nordküste der Insel bezog, und die höchste Gewalt mit seinem Bruder, dem wilden Konnar, teilte.

Keiner von allen Freunden des gestürzten Königshauses wusste, wo Timur sei und ob er lebe; nur die Prophetin wusste es, die verschwiegene Seherin, die in einer Höhle am Eingange der Erde wohnte; sie sah die kommenden Schicksale, die Tiefen der menschlichen Brust und des unglücklichen Timurs Ketten. Einsam lebte die Prophetin und verrichtete geheimnisvolle Werke, und von allen Sterblichen wusste nur Thia, die schöne Tochter von Ermar, ihre Wohnung. Die Seherin liebte das Mädchen, sie lehrte sie mancherlei Geheimnisse, und enthüllte ihr oft die Begebenheiten der Zukunft.

Einst sprach die Prophetin zu der Tochter von Ermar: Mädchen, fürchte das Geschick deines Vaters, seine Untat hat den Geist der Rache erweckt; sieh hierher! Und sie zeigte dem erschrockenen Mädchen in einem Spiegel ein tiefes Gefängnis der Burg, und in dem Gefängnis lag auf moderndem Stroh ein Jüngling mit brennenden Augen und dichten braunen Locken. Thia konnte ihre Augen nicht sättigen an dem Anblick des Gefangenen, aber die Seherin sprach: dies ist der König dieses Landes, er schmachtet in Ketten und dein Vater trägt die Krone, die ihm gebührt.

Gedankenvoll eilte Thia zurück zu der väterlichen Burg und suchte allenthalben nach einer Türe, die zu Timurs Kerker führen möchte. Im Norden war die Burg von rauhen Felsen umgeben, die bis zum Meere hinabreichten. In diesen Felsen entdeckte Thia, zwischen Gesträuch und Nesseln versteckt, ein Gitter, das eine dunkle Tiefe verschloss; dies Gitter hatte sie in dem Zauberspiegel gesehen; und jeden Morgen, ehe die Bewohner des Schlosses erwachten, und jeden Abend, wenn die milde Dämmerung die Taten der Liebe in ihre Schleier verbarg, ging sie dahin, setzte sich trauernd neben das Gitter und seufzte: Timur! Timur! und ihr war, als kämen liebe unsichtbare Arme aus dem Gitter herauf und hielten sie umschlungen, dass sie die Stelle nicht verlassen konnte und es nicht achtete, dass der rauhe Nachtwind sie umwehte und der Tau des Himmels sie benetzte.

Zwei Jahre hatte Timur in dem Kerker geschmachtet, schon waren der Rache wilde Gedanken bleich und ohnmächtig geworden und die Träume von Erlösung und Befreiung waren verträumt; schon glaubte er sich von allen Menschen vergessen, als ihm deuchte, er höre mit süsser Stimme seinen Namen flüstern, und jeden Morgen und jeden Abend hörte er dieselbe Stimme: Timur! Timur! rufen, und wenn er auf seinem Lager schlummerte, deuchte ihm, ein Engel mit glänzenden Locken und rosigten Wangen beuge sich über ihn her, drücke leise Küsse auf seine Lippen und seufze: Timur! Aber wenn er erwachte, vergingen die rosigten Wangen in Kerkernacht, die hellen Locken erbleichten, die Küsse verglühten, doch die süsse Stimme flüsterte fort, und er wusste nicht, ob der Traum wirklich oder das wirklich Scheinende Traum sei.

Tage und Wochen waren so vergangen, als das Mädchen zu Ermar sprach: ›Vater! der Mund der Prophetin verkündet dir Unheil und Verderben wegen des Sohnes von Parimor, der unschuldig in deinen Ketten schmachtet, deine Ungerechtigkeit wird den Geist der Rache erwecken, fürchte ihn!‹ ›Timurs Kraft ist gefesselt‹, erwiderte Ermar; ›wo ist der Arm, der sich der Rache leiht?‹ ›Fürchte‹, sprach Thia, ›die Zukunft und der Seherin untrügliche Worte, ich habe Timur gesehen, ich liebe ihn, gib ihm die Freiheit, gib ihn mir, fessle ihn durch ein heiliges Band an dich, oder fürchte auch deine Tochter.‹ Aber Ermar blieb unerbittlich, bis sich die einzige Tochter ihm zu Füssen warf und ihm schwur, den Geliebten zu seinem treuen Sohne und Freund zu machen, oder ihn zu verraten, wenn er undankbar sei, und ihm den Dolch mitten in seinen Umarmungen in die Brust zu stossen.

Timur lag in schweren Träumen, der, Geist seines Vaters erschien ihm, in blutige Grabtücher gehüllt und sprach: räche mich! die Zeit ist gekommen! Timur erwachte, aber immer hörte er noch die Worte: die Zeit ist gekommen! Er dachte noch darüber nach, als das Gitter sich öffnete; ein Krieger trat herein und hiess ihn folgen. Schweigend, voll seltsamer Empfindungen ging Timur hinter seinem Führer her. Jetzt waren sie auf den Felsen angekommen, der Krieger entfernte sich und Ermar kam dem Jüngling entgegen. ›Die Zeit ist gekommen, räche mich!‹ flüsterte eine Stimme in Timurs Seele; eine unsichtbare Gewalt trieb ihn. Ehe Ermar noch gesprochen hatte, ergriff ihn der Jüngling und schleuderte ihn die Felsen hinab, dass sein Blut hinunter rauchte bis zur See.

Die Bewohner des Schlosses versammelten sich, sie erkannten den Sohn ihrer Könige und nannten ihn freudig Herr und Gebieter. Als es aber Nacht wurde und der König allein war, trat Thia zu ihm und sprach: ›Ich habe dich geliebt, ich habe an der Türe deines Kerkers gewacht und deinen Namen der Nacht und den Sternen vertraut; deine Freiheit ist mein Werk, aber du hast meinen Vater ermordet, du hast die schwere Blutschuld auf meine Seele gewälzt, darum hinweg von dir!‹

Und das Mädchen ging und kehrte nicht wieder. Da ward der König sehr traurig, die lärmende Jagd erfreute ihn nicht, und nicht der Becher; einsam stand er auf seinen Felsen und sah und vernahm nichts, als die Schrecken des nahenden Winters. Der Himmel war mit schweren Wolken bedeckt, eisigte Regen fielen herab, der Nordwind zerwühlte den Wald und trieb die falben Blätter in wilden Wirbeln umher, die Brandung brauste an der Küste und der krächzende Rabe unterredete sich mit dem Widerhall. Monde vergingen so und immer fielen kalte Regen und Schnee, und der Himmel blieb dunkel wie die Seele von Timur; da versammelten sich die Freunde um ihn und sprachen: es ist nicht gut, o König! dass du so einsam trauerst, komm, lass uns Taten tun. Konnar herrscht noch jenseits der Berge mit eisernem Zepter über das Volk, komm! erobere dein Erbe, überwinde die Verräter! Der Jüngling gehorchte, er riss sich empor aus seinen Träumereien und stürzte sich in das Gewühl der Schlachten zu Taten und Ruhm.

Ungewiss schwankte das Glück zwischen Konnar und Timur; Timur war tapfer, Konnar fest und klug. Eine Schlacht entschied für Konnar, Timur musste sich zurückziehen in die Gebirge. Der Tag verfloss im Getümmel der Gefechte, in Angriff und Verteidigung, aber wenn die Nacht herniedersank und den Kriegsgott in Schlummer einlullte, versammelten sich die Gefährten um Timur, und in den Schluchten einsamer Gebirge, in der Nacht dichter Wälder, wo der spähende Feind sie nicht ahndete, errichteten sie ein lustiges Zelt, hundert Fackeln erleuchteten die Wildnis, der Freudenbecher ging umher, eine süsse Musik erscholl, begleitet von den Stimmen braunlockigter Mädchen, und Timur schwelgte in Ruhm und Lust und Liebe und seine Gefährten jauchzten in wilden Freuden.

Einst aber, da Timur allein war auf seinem Lager und der Schlummer ihn floh, deuchte ihm, er höre das Geräusch leiser Tritte, und da er noch lauschte, fühlte er sich plötzlich umschlungen von zarten Armen, und heisse sehnsuchtsvolle Küsse bedeckten seine Lippen; als er aber morgens erwachte, war sein Lager verlassen. Drei Nächte hatte schon die unbekannte Geliebte des Königs Lager besucht, als sie aber zum vierten Male kam, schloss er sie in seine Arme und schwur, sie nicht zu lassen, bis sie sich ihm entdeckt habe, damit er seinen Thron und seine Hoheit mit ihr teilen könne. ›Lass mich nur noch diesmal unerkannt von dir‹ sprach das Mädchen, ›wenn die Nacht wiederkehrt und die Sterne wieder glänzen, wird ein schwarzes Ross vor dir stehen, dem vertraue dich, es wird dich dahin tragen, wo dir alles offenbar wird.‹ Der König liess das Mädchen von sich gehen. Da es aber Nacht wurde, fand er das Ross. Ein sonderbarer Schauer durchlief sein Gebein; aber er schwang sich auf des Tieres Rücken, und es trug ihn durch unbekannte, verworrene Pfade, durch Klüfte und Wälder und blieb stehen vor einem prächtigen erleuchteten Palast. Die Tore öffneten sich, zwei Knaben traten heraus, hielten ihm den Zügel und führten ihn in einen Saal. Eine milde Dämmerung herrschte, denn nur ein Halbmond über einem Becken, in das sich duftendes, balsamisches Wasser stürzte, erleuchtete das Zimmer mit wechselndem Schimmer, bald glänzte der Mond in dunklem Purpur, dann in blassem Rosenrot, dann wieder blau wie der Bogen des Himmels, dann endlich wie der grüne Schmelz der Wiesen.

Staunend sah Timur eine Weile dem wechselnden Farbenspiel zu; da tat sich eine Tür auf und viel schöne Mädchen kamen herein in allerlei fremden und sonderbaren Trachten; ein Blumenkranz wand sich um die blonden Haare der einen, ein zierliches weisses Kleid umfloss sie. Eine andere hauchte Arabiens Balsam, des Morgenlands köstlicher Tau umgab in glänzenden Reihen die dunklen Locken, und Gold, gewirkt in persische Seide; verhüllte die runden üppigen Glieder. Eine dritte, in leichtem Silberflor, glich der Luft ätherischen Schönen; und das holdeste aller Zonen schien versammelt um den Jüngling. Plötzlich glänzte das Wasser wie die Sonne und goss breite Lichtströme durch den Saal; eine Musik, wie Orgeltöne, liess sich hören, eine liebliche Stimme begleitete die rauschenden Harmonien und schwebte über ihnen, wie eine leichte Frühlingsluft schwebt über dem brausenden Meer; aber die Töne wurden stärker und stärker und verschlangen die Stimme in Wogen von Wohllaut. Die Mädchen umgaben den Jüngling, sprachen ihm freundlich zu, und jede sandte ihm heisse Blicke, als sei jede die Geliebte der Nacht gewesen. Forschend betrachtete sie der König; jede dünkte ihm hold und lieblich, aber sein Herz bewegte sich zu keiner; sie ist nicht hier, die ich suche, sprach seine innerste Seele.

Jetzt rauschten zwei Flügeltüren auf, ein prächtiger Saal zeigte sich, von vielen Fackeln erleuchtet, die von den Marmorwänden widerstrahlten; in der Mitte stand eine Tafel. Man setzte sich, der Wein perlte im Gold, die Mädchen nippten mit Rosenlippen an den Bechern und reichten sie dann dem König; aber Timurs Seele war traurig, er senkte den Blick, und all die Herrlichkeit und all die Schönheit ging verloren an ihm. Da er aber die Augen aufschlug, sah er eine Gestalt an der Ecke des Saals ihm gegenüber, an eine Säule gelehnt, stehen; sie war ganz schwarz und dicht verhüllt und blieb immer unbeweglich. Timur betrachtete sie lange und oft, eine tiefe Sehnsucht zog ihn zu ihr; das Mahl deuchte ihm unendlich lange, und es ward ihm erst wohl, als man sich erhob.

Die Mädchen verliessen den Saal, aber jede sandte ihm noch einladende Blicke; er folgte keiner und sah sich endlich allein mit der schwarzen Gestalt. Die Fackeln erloschen, nur ein einziges bleiches Licht durchdämmerte den Saal. Die schwarze Gestalt nahte sich ihm und sprach: ›Folge mir!‹ Er gehorchte, und sie führte ihn durch seltsame unterirdische Gänge auf einen Fels. Der Mond glänzte eben im vollen Lichte, und Timur erkannte schaudernd den Fels und das Meer, in welches er Ermar hinabgeschleudert hatte. Seine Führerin schlug den Schleier zurück. Es war Thia. ›Geist meines Vaters!‹ rief sie, ›lass dich dieses Opfer entsühnen.‹ Sie schlang ihren Arm um den König und stürzte sich mit ihm die Felsen hinunter, dass ihr Blut sich mischte und hinab rauschte zur wogenden See.


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