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Vorwort

Die Absicht dieser Neuveröffentlichung der Dichtungen Karoline von Günderrodes war nicht die, in antiquarischer und bibliophiler Lust Zerstreutes zu sammeln, auch nicht die, das Erinnern an einen halbvergessenen, nur durch sein besonderes Lebensschicksal dämmerhaft über die Zeiten hinweg lebenden Menschen wieder aufzufrischen. Solches Streben dürfte der Gegenwartsforderung unserer Tage nicht standhalten, wäre nichts als ein gedanken- und verantwortungsloser Tribut an ein launenhaftes Schmecker- und Liebhabertum oder eine eigenbrötlerische Wissenschaft, deren Wurzel nicht mehr in den Strom nährenden Lebens hinabreichen. Die Absicht war vielmehr die: durch sorgfältiges Abscheiden des Belanglosen und bloss Zufälligen, Zusammenrücken des Wesenhaften und auch zeitlich Nahen, den Kern eines dichterischen Werkes zu enthüllen, von dem sich das Wunder einer einzig überzeugenden und bezwingenden seelischen Gestalt ausblühen mag, der wir Bedeutung und Gewicht für das besondere Wollen des Zeitaugenblicks, unserer unmittelbarsten Gegenwart, zuerkennen müssen. Nicht Lebendige allein, auch Tote stehen als Kämpfer auf dem zornigen Felde des Zeitalters und sie nicht weniger als die Lebendig-Atmenden helfen die Entscheidung herbeiführen.

Historisch begriffen ist Karoline von Günderrode Angehörige der Generation, die den alternden Goethe umrankt und die im eigentlichsten Sinne die ›klassische‹ Epoche unseres Schrifttums ablöst. Die Menschen, die wir als ›Romantiker‹ zu bezeichnen pflegen, treten uns als ihre – freilich oft nur ungern gelittenen – Freunde entgegen, und die Prophetin dieses Kreises, Bettina, war es ja auch, die durch ihre bekannten Bücher (Goethes Briefwechsel mit einem Kinde 1835, Die Günderode 1840) Karolinens Gedächtnis bis auf unsere Tage herüber rettete; ohne Bettina's Buch wäre Günderrode heute vielleicht schon ganz vergessen. Romantisch gestimmte Menschen haben denn auch in der Folge bis zur jüngsten Gegenwart herab ihr Andenken gepflegt, sich wohl auch in einem Kultus ihres dunklen Geschickes (›mystischen Liebestodes‹) verloren. So sehr diese Liebe das Witterungsvermögen der so gestimmten Menschen ehrt und gewiss auch manches sonst dem Untergang Anheimgefallene hat retten helfen, so muss sie im ganzen für Günderrode selbst doch ein Verhängnis genannt werden. Kein Zweifel: die Liebe der Romantiker vor allem war es, die jenen Dunst vor ihre Erscheinung wirbelte, dass sie fortan – dem Schicksal Hölderlins nicht unähnlich – wie in einer Dämmerung dahinwandelte, darin sie denn bald von den ›Wirklichkeits‹-Menschen erhascht und gänzlich in Luft zerblasen wurde.

Aber Günderrode ist keine unwirkliche, dunsthafte Gestalt, und wir dürfen sie – trotz allen verführenden Scheins – überhaupt keinen romantischen Menschen nennen. Bei aller Zaghaftigkeit, ja Ängstlichkeit der Gebärden in den Augenblicksbeziehungen des notgebundenen Bürgerlebens, davon uns Bettina einiges zu berichten weiss, bei aller frauenhaften Weichheit und dem besonderen Schmelz der Oberfläche ihrer Dichtungsformen, ist sie ein Wesen starker, unverrückbarer Struktur, von strengern Strömen des Blutes. Wie einen unübersteigbaren Wall hat sie ihr in grosser Entscheidung ergriffenes Schicksal gegen die ihr Kernhaftes gefährdende romantische Welt aufgeschüttet:

Erde, du meine Mutter, und du mein Ernährer der Lufthauch Heiliges Feuer mir Freund und du, o Bruder, der Bergstrom, Und mein Vater, der Äther, ich sage euch allen mit Ehrfurcht Freundlichen Dank; mit euch hab ich hienieden gelebt Und ich gehe zur andern Welt, euch gerne verlassend, Lebtwohl denn Bruder und Freund, Vater und Mutter lebt wohl!

Das ist die Signatur antiken Menschentums. Erd- und leibgesättigt will solches Wesen nur in tragischer Verbundenheit und Gebundenheit im Naturschicksal sich begreifen und erfüllen. Der romantisch-christliche Freiheitsbegriff ist ihm fremd und Frevel gilt ihm in jedem Falle der Geistesüberschwang und zuchtlose Phantasierausch einer erdenflüchtigen Gottseligkeit.

Dem antiken Bewusstsein ist die Welt eine Harmonie wirkender, lebenerschaffender Kräfte. Sie ist sich selbst Prinzip, das unendliche All-Eins, daher alle Ströme des Lebens hervorquellen, dahin sie zurückrauschen (Heraklit: Κόσμον τόνδε τὸν αὐτὸν ἁπάντων οὔτε τις θεῶν οὔτ' ἀνθρώπων ἐποίησεν, ἀλλ' ἣν ἀεὶ καὶ ἔστι καὶ ἔσται πῦρ ἀείζωον ἁπτόμενον μέτρα καὶ ἀποσβεννύμενον μέτρα). In diesem Gesamtzusammenhange des Kosmos ist jedes Ding in geheimer Beziehung aufs Nachbarliche, ja Fernste, gerichtet keines kann jenseits dieser Beziehung auf das Andere, Grössere betrachtet und begriffen werden.

Doch ist mit dieser allgemeinen Formel – das Bekenntnis zu ihr befindet sich unzweideutig und in zusammenhängender Darlegung in der ›Geschichte eines Braminen‹, entschiedener noch in den ›Briefen zweier Freunde‹ – Günderrode's Weltbegriff noch nicht mit genügender Deutlichkeit von ganz ähnlich gerichteten Tendenzen ihres romantischen Umkreises unterschieden. Ihre besondere, antikische Gebärde wird erst fühlbar, wenn wir sie von der Bedeutung des Individuellen innerhalb der grossen Harmonie des Lebendigen reden hören. Man vernehme diese Stelle aus der ›Geschichte eines Braminen‹:

›Verhasst ist mir nun die Philosophie geworden, die jeden Einzelnen als Mittel für das Ganze betrachtet, das doch nur aus Einzelnen besteht, die immer fragt, was dies und jenes nütze für die andern? und die jeden als eine Frucht betrachtet, die geblüht habe und gereift sei, um von dem Ganzen verzehrt zu werden; die die verschiedensten Naturen in einen Garten pflanzen und den Eichbaum und die Rose nach einer Regel ziehen will. Mir ist jeder Einzelne heilig, er ist Gottes Werk, er ist sich selbst Zweck. Wird er, was er seiner Natur nach werden kann, so hat er genug getan, und was er andern genützt, ist Nebensache‹.

Man mag im einzelnen auf die hier gebrachte Formulierung mehr oder weniger Gewicht legen, der bis zur ausfallenden Heftigkeit erregte Ton, der leidenschaftliche Eifer, der sich hier einem hemmungslosen Alleins-Rausche, einer blinden Vermischung der Dinge, entgegenwirft, bleibt auffällig und verrät dem hierfür Empfindlichen ein Wesenhaftes. Günderrode tritt hier mit klarer Entschiedenheit für das Eigenrecht, die Unverletzlichkeit und Heiligkeit der Dinge ein, die sie gegen die zerstörende Gier eines bloss in elementarer Allgemeinheit erfassten Lebens- Ganzen schützen möchte.

Doch wäre diese Haltung belanglos, wenn es beim bloss Gedanklichen dieses Eifers bliebe; dass dies bei Günderrode – im Gegensatz zu vielen ihres geselligen Umkreises – nicht der Fall ist, verrät sich an jedem Punkte ihres Werkes.

In den klarabgewogenen Produkten ihres dichterischen Schaffens ist Karoline von Günderrode in reiner von unsern Klassikern her führenden Linie zu begreifen. Die bisweilen offenbare Anlehnung an ihre nächste Umgebung (Novalis, Tiek, Brentano) in den stofflichen Motiven darf nicht verwirren. Entscheidend ist hier einzig der formende Wille. Dieser kann bei Günderrode nur aus der keusch-gestaltenden Kraft antiker Wallung, aus der Achtung für gegliederte Organisation heraus verstanden werden. Der Bau des Gedichtes ist klar gesetzt, Anfang, Mitte, Ende in dem Grade bestimmt, dass Clemens Brentano gelegentlich einer Beurteilung ihres ersten Gedichtbandes spotten konnte: Einiges gleiche mehr ›aufgegebenen Exerzitien oder Ausarbeitungen‹ als ›Gedichten‹. Gebilde wie diese: ›Bande der Liebe‹, ›Wanderers Niederfahrt‹, ›Ägypten‹, ›Nil‹, ›Kaukasus‹, ›Brutus‹ sind bei aller Einfachheit des Baues von bedeutendem Wurf, und es offenbart die Stumpfheit landläufiger Betrachtungsweise von Dichtungswerken, wenn gerade Günderrodes Gebilde ›verworren‹, ›unplastisch‹, ›phantastisch‹, ›mystisch‹ genannt wurden und bis heute in ihrer Einschätzung diese Marke tragen Dass diese Gedichte in manchem noch den sehr jungen Menschen verraten, schädigt ihren Wert nicht; wem Tadellosigkeit des Metrums und Korrektheit des Reims vornehmster Gesichtspunkt der ästhetischen Beurteilung ist, der lege sie getrost beiseite. Günderrode ist da – in der Folge zu reicher ursprünglicher Melodie – von einer erstaunlichen (fast Goetheschen) Unbefangenheit..

Auch was die grösseren dramatischen Dichtwerke (Nikator, Mahomed, Udohla, Magie und Schicksal) betrifft, so ist es durchaus verfehlt, einfach von mangelnder Gestaltungskraft zu sprechen. Trotz der leichten, nicht eben angestrengten Fügung der Szenen unter sich – sie sind mehr bildhaft als gedanklich gebunden – ist die Anlage des Ganzen klar und überzeugend, die Dialogführung dramatisch bestimmt und keineswegs schweifend. Soweit die stofflichen Motive im einzelnen auch gegriffen sind – Karoline schöpft mit gleicher Lust aus dem Schatze hellenischer, römischer, mohammedanischer, ägyptischer, indischer, nordischer, ja mongolischer Welt und Mythe – immer wird der gewählte Lebenskreis in seiner besonderen Bedingtheit beachtet, niemals durch Vermengung mit Elementen fremder Sphäre verwirrt und getrübt. Was Bettina immer neu und eindringlichst von Karolinens Hang zur Geschichte zu sagen weiss, ist einzig auf jener ursprünglichen, auf die Individualität jedes Lebens gerichtete Anlage und der antiken Gerechtigkeit ihres Wesens heraus zu begreifen. Nicht Sucht nach dem Fernen, sondern natürliche Freude an dem Reichtum vielgestaltigen Lebens ist es, was sie Umschau halten lässt in der Mythenwelt aller Räume und Zeiten, ihr Besonderstes zu haschen und – soweit möglich – in Freundschaft sich einander anzunähern. (Man nenne die Dichtung der Jahrhundertswende, darin so der besondere Schauer der Edda-Lieder zu spüren, wie in den ›Skandinavischen Weissagungen‹, besonders in den Woles Prophetie behandelnden Stellen, darin andererseits so die Nähe der antiken Göttersage geahnt würde).

Die zarte Scheu individuellen Lebens als passive, der bestimmte Wille zur Gestaltung und Form als aktive Reaktion einer Natur der Welt gegenüber kann nur aus der starken, leibhaften Gebundenheit aller Seelenkräfte heraus verstanden werden. Sie setzt eine im Anfang starke Individualität voraus, die in dem Gesetz ihres Baues das Organ für alle Bildung und Form besitzt. Auch die Form eines Gedichtes ist von hierher gesehen irgendwie die Projektion, das nach Aussenwirken einer ursprünglich nur vital zu verstehenden Organisation.

Karoline von Günderrode ist ein Wesen stärkster persönlicher Bindung. Was uns an unmittelbaren Zeugnissen ihres Lebens überliefert ist, bestätigt völlig und mit nicht zu widerlegender Klarheit das, was a priori schon aus den Dichtungen zu erschliessen war.

Nur als solche Bestätigung, nicht aus anderem Interesse heraus, kümmern uns diese Zeugnisse, die im letzten Abschnitt dieses Buches zum Teil gesammelt sind. Als solche Bestätigung aber mögen wir sie nicht entbehren. Denn es ist das eigentlichste Zeichen gebundenen Menschentums, dass es sich grundsätzlich behauptet, dass es auch in der scheinbar gleichgültigsten Gebärde des Alltags Zeugnis von sich ablegt und bis ins kleinste Element hinein durchsichtig ist. Leben und Werk ist beim klassischen Menschen ein untrennbares Eins.

Es kam bisher nur darauf an, den Typus Günderrodes im allgemeinsten Umrisse zu zeichnen, an das Besonderste ihrer Art wurde noch nicht gerührt. Es sei im folgenden andeutend versucht; denn es wird nötig sein, damit uns ihr Bild halte.

Alle Dichtungen Karolinens (wie auch die zufällig überlieferten Äusserungen menschlicher Beziehung) scheinen um einen geheimen Punkt zu schwingen, so frei gewählt und zauberhaft beweglich sie im einzelnen sich auch geben mögen. Rein zu erfassen, aber in Worten kaum ausdrückbar, ist diese geheime Mitte vielleicht bloss rhythmisch in den wenigen Stellen, wo ihr Melos zum Thränos wird, wie in den fast verlöschenden Zeilen in ›Adonis Totenfeier‹. Auf die besonderen stofflichen Motive bezogen und auf eine mehr gedankliche Formel gebracht ist es dieses:

Alles Leben der sichtbaren Erscheinung leidet an seiner Zeitlichkeit. Ein Unendliches ausdrückend ist es in endlichen, vergänglichen Formen und Bedingungen gefangen und immer gefährdet von der hohen Idee, die es verleiblicht, abzufallen. Im Tode rückkehrend zum schaffenden tragenden Elemente rettet es seine unendliche Idee und stattet den untern Mächten zugleich die zu ihrer Verwirklichung geliehene Kraft zurück, auf dass sie weiterschaffe an der Vollendung der Welt. Weiche Trauer finden wir in solcher Betrachtung des Weltzusammenhanges sehr nahe gepaart mit süssem Vertrauen und keimender Freude. Die ›Welt der Toten‹ ist eigentlich die ewig lebendigen Lebens. Freilich bloss elementaren Lebens. Licht ist in ihr noch nicht von der Finsternis geschieden, das Individuelle noch nicht aus dem Mutterschoss des grossen Allgemeinen herausgetreten, das Bewusstsein noch nicht vom Traum getrennt. Sie – keine jenseitige, übernatürliche – ist gemeint mit der ›andern Welt‹, von der die eingangs mitgeteilte Grabschrift spricht. Die Welt der Unterirdischen ist die grössere; von ihr ist ja die obere, wir Lebenden und Handelnden, nur ein flüchtiges Spiel. Diese Welt ist dem Leben im Grunde nimmer feindlich, ist sie doch Schoss und Träger jeden Lebens, Quelle und Urkraft. Nach ihr als dem Ursprung und dem ewig verjüngenden Bade ist das durch die Not der Zeitlichkeit bedingte individuelle Dasein immer wie in Sehnsucht zurückgestimmt, mit ihr möchte es sich wieder vereinen nach des trennenden Bewusstseins Verlöschen. Sie sucht der Wanderer auf seinem Gange ins Innere der Erde.

Nicht jenes Licht, das auf der Erde gastet
Und trügerisch dem Forscher nur entflieht,
Nein, jenes Ursein, das hier unten rastet
Und rein nur in der Lebensquelle glüht,
Die unvermischten Schätze wollt' ich heben,
Die nicht der Schein der Oberwelt berührt,
Die Urkraft, die, der Perle gleich vom Leben
Des Daseins Meer in seinen Tiefen führt,
Das Leben in dem Schoss des Lebens schauen,
Wie es sich kindlich an die Mutter schlingt,
In ihrer Werkstatt die Natur erschauen,
Sehn, wie die Schöpfung ihr am Busen liegt.

Und die Erdgeister, die unholdenhaft das Gold der Tiefe verwalten, stehen Rede seiner Frage:

So wiss'! es ruht die ew'ge Lebensfülle,
Gebunden hier noch in des Schlafes Hülle
Und lebt und regt sich kaum;
Sie hat nicht Lippen, um sich auszusprechen,
Noch kann sie nicht des Schweigens Siegel brechen,
Ihr Dasein ist noch Traum;
Und wir, wir sorgen, dass noch Schlaf sie decke
Dass sie nicht wache, eh die Zeit sie wecke.

Sie weisen des Schwärmers unzeitiges Begehren ab, sie stossen den frechen Eindringling zurück ins ungewisse Menschenlos, auf die Oberfläche des Lebens, unter die, die – hierin ein wenig eitel – allein sich die Lebendigen zu nennen pflegen. Hier herrscht Kampf und Missverstehen, steht Bruder feindlich gegen den Bruder auf, tobt der Kampf wilder Leidenschaften, wo Verblendung und Not das Liebste verletzt, wo Leben das Leben tötet, um – wenn es edel – die Schuld erkennend, selbst sich dann zum Sühnopfer den Unteren zu weihen (›Brutus‹), oder lang getäuscht im Augenblicke erfüllten Wunsches vom Element verschlungen zu werden.

Hier haben wir den Keim fast aller erzählenden und dramatischen Entwürfe Günderrodes.

Unwissend – nur dem blinden Gefühl der Rache nachgebend, – hat Timur (vergl. gleichnamige Skizze) den Zeuger Thias, der Geliebten, seiner Retterin, getötet. Sie lockt ihn an die Stelle des Verbrechens, und den Geliebten umschlingend, reisst sie ihn in die Tiefe. – Unwissend tötet Ligares (in ›Magie und Schicksal‹) den Bruder der Geliebten wegen, um im Wahn das erhoffte Ziel zu verfehlen und im kaum geschenkten Bild der Mutter alles zu verlieren. Diese Andeutungen mögen genügen.

Ich sehe die Schrifttums-Kundigen bei alledem lächeln und meinen: Was Neues? Lösen sich nicht alle diese vorgebrachten Motive und Gedanken restlos auf im zeitgenössischen Denken und Empfinden? Waren sie nicht gerade Gemeingut eben des romantischen Kreises?

Wann werden wir es endlich lernen, über die bloss geistig formale Seite hinaus Worte und Gedanken als den Ausdruck eines organischen Willens und Gesamtlebens zu nehmen? Bloss auf dieser Basis ist es möglich, im Menschentum die grossen Scheidungen vorzunehmen, nach denen eine zu Recht bestehende Forderung verlangt. Es ist ein anderes, eine Wahrheit im Begriffe zu erfassen und zu verstehen, ein anderes, sie als Schicksal, über sich und in sich zu wissen und darzuleben. Das erste ist immer irgendwie Spiel – bedeutsames Spiel vielleicht – niemals ein ganz Gültiges, das zweite Ernst und Adel, eigentlicher Beruf des strenge Schaffenden.

Karoline von Günderrode hat sich in ihren Dichtungen naturschwer ausgewirkt, nicht geistig allbeweglich, im Spiel der Phantasie und der gehaschten Ideen, so überraschend weit gegriffen und vom Bewusstseinskreis der Romantiker vielleicht bedingt und farbenprächtig die von ihr behandelten Stoffe auch sein mögen. Ihr Wort ist streng und nüchtern, von der Sachlichkeit dessen, der vom Wehe des Schicksal-beladenen und Leib-geborenen Wortes weiss.

Mit tiefem Rechte – aber wohl kaum im vollen Bewusstsein seiner Deutung – hat sie ein Zeitgenosse in einem zufällig erhaltenen Ausspruche die deutsche Sappho genannt. Auf diesen in der hellenischen Welt gross dargelegten Typus springt Karoline in der Tat in der Gesamtstruktur ihres Wesens ein; ihn lernen wir von ihr aus gleichsam neu begreifen, wenn wir nämlich Sappho nicht als ein entartetes, genialisch-schweifendes, mehr zufälliges. Wesen (wie sie auch heutzutage noch vielfach dem Bewusstsein gegenwärtig ist), sondern als das Endprodukt lang anhaltenden züchtenden Willens eines ganzen Volkes erfassen, so wie sie vom gesamten griechisch-römischen Altertum erfasst worden ist, wie sie uns aus dem platonischen Phädrus und in der verwechselbaren Gestalt Diotimas aus dem Gastmahl entgegenschreitet.

Solcher Typus darf nur aus sich selbst heraus verstanden werden und erträgt kein ihm fremdes Mass. Er ist aus seinen besonderen Kräften heraus begriffen ein Letztes und vielleicht Höchstes innerhalb der Grenzen und Möglichkeiten menschlicher Vitalität, seine Schönheit und Kraft ist nur sich selber gleich.

In zweifache, sich widerstreitende Richtung fühlen wir uns bei der Begegnung mit Sapphischem Wesen gedrängt, und wir sind notwendig im Anfange schwankend, welcher wir uns überlassen dürfen, ohne in Irrtum zu gleiten.

Es ist dieses: die Klänge Sapphischer Lyrik fallen wie Musik und süss verwirrend auf unsere Sinne, ein Spiel buntgemischter farbiger Bilder, die Einbildungskraft überflutend, entzückt uns und raubt uns die Kraft des Widerstandes; ein zauberhafter Finger greift verklärend um die irdischen Dinge und will uns – mühelos gleichsam – zum Glauben an die göttliche Harmonie alles Lebens überreden. Wir zögern. Sind diese Klänge nicht Sirenenmusik, lockt uns nicht der Finger der grossen Zauberin Circe? Aber da trifft uns der keusche und strenge Blick der Priesterin und schlägt unsern nieder. Er stellt an uns höchste sittliche Forderung, verlangt Klarheit. Die hohe faltenlose Stirn erscheint uns ein Tempel der hellen Gottheit und wir beginnen zu ahnen, dass das unendliche rauschende, doch immer geheim beherrschte Spiel der Sinne vielleicht der Ausdruck einer höheren, göttlicheren Zucht des Menschentums ist, als eine gespanntere, vielleicht geistigere, wenn Eros Flamme erloschen.

Immer von neuem wird es uns überraschen: ein durch aus weibliches Grundempfinden (bisweilen fast verwechselbar mit kindhafter Stoffbefangenheit) scheint hier in unbegreifbarer Art gepaart mit einem Streben nach geistiger Existenz und männlich entschiedener Haltung und ethischer Gewalt.

Es ist das Verdienst des grossen Altertumsforschers und Seelenkundigen J. J. Bachofen (in seinem ›Mutterrecht‹), uns Sappho's Apollo-Wille mit einer in neuerer Zeit jedenfalls nicht gekannter Entschiedenheit gelehrt zu haben. Der Eros, der sie immer neu zu den Genossinnen ihres Geschlechtes treibt, ist nicht aus einer entarteten Natur heraus zu begreifen, sondern – ähnlich dem männlichen Eros in der Zeit des ungebrochenen Hellenentums – aus dem Willen nach Läuterung und Höherzüchtung eines im Anfang dumpfen und blinden Triebs. Sappho ist auch hier ganz Priesterin und Lehrerin ihres äolischen Stammes, dessen spätere Entartung in asiatisches Hetärentum ihr ebensowenig zur Last gelegt werden darf, als die spätere Zersetzung der arrenes Erotes, nachdem der reine Strom ursprünglichen Lebens einmal getrübt war, der anfänglichen lauteren und sittlichen Tendenz. Wenn Sappho eifersüchtig jeder Leibesschönheit nachjagt, so gilt ihre Leidenschaft nicht dem Einzelnen, vergänglichen Schönen, sondern der Idee, die sich in ihm ausspricht, und die im Gedichte beschwörend, sie eben jenes Vergängliche ins Bereich des Unvergänglichen heben möchte. Denn gestaltlos wird im Hades wohnen unter zerstörten Schatten, was nicht Teil hat an den Rosen Pierias.

Es ist nicht leeres Nachreden ähnlich lautender Bekenntnisse unserer Klassiker, sondern Ausdruck ihres Sapphisch-Apollinischen Wesens, wenn Karoline von Günderrode immer neu ihrem Drange nach bleibender Form Worte schenkt, nach einer gültigen Gestalt ›die würdig sei, zu den Vortrefflichsten hinzuzutreten, sie zu grüssen und Gemeinschaft mit ihnen zu haben‹, und wenn sie es als den eigentlichsten Sinn des Künstlertums verkündet, das Schöne in Formen ewiger Dauer darzustellen:

Alle! sie wollen Unsterbliches tun die sterblichen Menschen. Leben im Himmel die Frommen, in guten Taten die Guten, Bleibend will sein der Künstler im Reiche der Schönheit, Drum in dauernder Form stellt den Gedanken er dar.

(Aus ›Tendenz des Künstlers‹.)

Wir müssen es dankbar anerkennen, dass uns Bettinas Bücher gerade diesen apollinischen Grundzug Günderrodes ziemlich unverfälscht überliefert haben und dass die Vorkämpferin der Romantik gerade in ihrem, an seinem Ort unverhohlen ausbrechenden Horror von Karolinens überweiblicher Gebärde und erhabenen Sachlichkeit gleichsam ohne Willen Zeugnis ablegt, von dieser ihr im Grunde fremden Art, die sich – neben der unwiderlegbaren Haltung des Gesamtmenschen – auf der geistigen Stufe vorzüglich ausdrückt in jenem oben schon gestreiften Hange zur denkerischen Versenkung (= Erkenntnis eines vom Subjekt deutlich geschiedenen Objekts) und zur geschichtlichen Betrachtung (= Begreifen des Objekts, des Unendlich-Einigen in der tausendfältigen Form des Individuellen unter den besonderen Bedingungen von Raum und Zeit.)

Es sind kaum grössere menschliche Gegensätze möglich, als sie uns in dem Menschtum Günderrodes und Bettinas auftreten; diesen Gegensatz zu sehen, ist sehr wichtig für die Beurteilung Günderrodes. Es ist ein überzeugend offenes Bekenntnis, wenn die Empfängerin des ›Apokalyptischen Fragments‹ über den Stolz des Heraklitischen Pathos erschrickt und gesteht: ›Mit all dem ist mein Urteil gesprochen, mich quält Eifersucht, mir scheint Dein Denken ausserhalb den Kreisen zu schweifen, wo ich Dir begegne. Du bist herablassend, dass Du von mir solche Dinge aussprichst, die ich nicht nachempfinden kann und auch nicht mag, weil sie unsern engen Lebenskreis überschreiten, in dem allein mir nur lieb zu denken ist.‹

Aber mit alldem ist nur eine Tendenz – freilich eine entscheidende – Sapphischen Wesens erkannt. Es ist dieselbe, die in breiterer geschichtlicher Einstellung sich begreifen lässt als das Streben des äolisch-lesbischen Stammes (der irgendwie die Mitte hält zwischen dem attisch-jonischen Griechentum und Asien) nach einer reineren Stufe der Kultur und religiöser Gesittung, auf dass sie sich deutlich abhübe von der ihn umgebenden asiatischen und nordisch-skythischen Welt, und der der Mythus diesen einzig schönen Ausdruck verleiht, dass er das von den thrakischen Weibern geschändete Orpheushaupt, nachdem es die Wellen an den Strand der heiligen Insel getragen, von der Hand der lesbischen Frauen begraben lässt.

In der Tat haben wir in Sappho die orphische Stufe des Griechentums in der allerreinsten Form dargestellt. Orpheus ist von ihrem Dichtertume her erfasst, nicht der Gegensatz schlechthin zu Apoll, wie wir uns nachgerade gewöhnt haben, ihn zu sehen, sondern er erscheint uns mit feiernd erhobenen Armen, betend gleichsam, dem Lichtgotte zugekehrt. Nie vielleicht ist dieses Verhältnis des geweihten Sängers zum Pythontöter zarter und gültiger ausgesprochen worden, als es Günderrode in ihrem ›Orphischen Lied‹ (›Höre mich Phoibos Apoll ...‹) gelingt. Als siegender Helios, als der der dunklen (›wolkenerzeugenden‹) Erde seine Helle spendende Gott, vor dem Unreines nicht gilt, als der Anführer der Musen und Verwalter des ›sinnebeherrschenden Wohllauts‹ ist Apollo diesem Gedichte gegenwärtig. Aber – so sehr sich der Flehende der Hilfe des starken Gottes gewiss ist – am Ende zittert das Gedicht doch in Klage aus. Denn ist diese ewig getäuschte Bitte um Wiederkehr der Geliebten aus des Orkus Reichen, auf dass ihr wiederscheine des ›Tages sonnige Klarheit‹ nicht Klage? Ihm, dessen Gesänge die Genien der pflanzlichen Welt lauschen, dem die Wasser und reissenden Tiere besänftigt nachfolgen, wird das geliebte Mädchen immer neu, kurz vor dem Siege, nachdem er sogar Persephonas und Ais rauhes Gemüt mit seinem Liede bezwungen, durch ein unbezwingbar Geschick entrissen.

Hier wird uns mit einemmale der tiefere Grund des Sapphischen Menschentums offenbar. Seine Idee ist nicht in der Apollonidee auflösbar. In stilleren Augenblicken hält es das Haupt abgewendet von den treffenden Pfeilen des Lichtgottes und zur dunklen Erde gekehrt. Immer ist ihm eine Trauer inhärent und die Orpheusklage um Euridikens Verlust, der Geliebten, die unter Blumen wandelnd das tückisch verborgene Gift der Schlange traf, will nicht verstummen.

Die Orpheusklage ist eine ewige, notwendige; drückt sie doch nichts anderes aus als die Anerkennung des strengen Gesetzes, in dem alles Irdische, ja das Göttliche selbst, soweit es als erscheinend im Irdischen begriffen wird, gebunden ist. Dem Rhythmus vom Werden und Vergehen, der als Zirkellauf tyrannisch das nur-stoffliche Leben beherrscht, ist auch das Göttlich-Schöne notwendig unterworfen; es kann sich zeithaft und leibhaft nicht anders als in diesem Rhythmus zur Darstellung bringen. Der Mensch von dieser Selbstvergessenheit und Demut des seine Majestät verleugnenden Gottes gerührt und erschüttert, weiss ihm keinen kindlicheren Dank als die Klage, die den Tod des Gottes begleitet und den leisen Jubel, der mit dem wiederkehrenden Jahre seine Neuerstehung (die aber nimmer von ewiger Dauer sein kann) feiert. Diese Klage ist auf dieser Stufe begriffen reine Frömmigkeit und Gottesdienst, nicht aber – wie oft behauptet – bloss der Ausdruck eines im Stoffe befangenen Menschentums. Diesem Kulte um den sterbenden Gott mit der leise anklingenden Hoffnung seines Wiedererstehens waren im Altertum in jahreszeitlicher Bindung die Adonis-Feiern gesetzt, die sich durch das Motiv der Klage ebenso sehr von den mehr auf die Verkündung des wiedergeborenen Lebens gestellten Dionysien als den das mütterlich demetrische Geheimnis des Samenkornes hütenden Eleusinien unterschieden.

Ist es ein Zufall, dass gerade Sappho eine im Altertum berühmte Adonis-Klage gedichtet, deren Schauer wir aus diesen zwei auf uns gekommenen Versen ahnen mögen:

Κατθναίσκει, Κυθέρη' ἁβρὸς Αδωωις, τί κε θεῖμεν;
›Καττύπτεσθε, κόραι, καὶ κατερείκεσθε χιτῶνας.‹

und dass Günderrodes Lied in den Adoniszyklus ausklingt:

Wehe dass der Gott auf Erden
Sterblich musst geboren werden!
Alles Dasein, alles Leben
Ist mit ihm dem Tod gegeben.

Nur schüchtern, in himmlischer Zartheit, wagt sich die Hoffnung hervor, und wohl noch nie ist der blauen Trauer des Vorfrühlings solcher Ton geschenkt worden, wie in der zweiten Hälfte des Gedichtes. (›Brecht die dunkle Anemone‹.) Auch der Jubel über das endlich wiedererwachte Leben bleibt bei aller Innigkeit verhalten und gemessen, wie es der Totenfeier geziemt, aber er klingt uns wie Musik unnachahmlicher Zartheit ins Ohr:

Brechet Rosen; jede Blume
Sei verehrt im Heiligtume,
Forscht in ihren Kindermienen,
Denn es schläft der Gott in ihnen ...

Schon dem Altertume war es bewusst, dass Adonis über Osiris-Dionysos hinaus nur eine Maske des Gottes Eros bedeutete; der Mythus verrät es selbst, indem er dem Blumengotte Aphrodite zur Gattin und Geliebten gibt und ihn durch den von der Eros-feindlichen, jungfräulichen Göttin geschickten Eber verenden lässt (hierzu die beiden Sonette Günderrodes auf Adonis Tod). Eros aber (bisweilen in der Gestalt seiner Mutter Aphrodite) offenbart sich uns als der Gott, dem sich Sappho unter allen Gottheiten zumeist verbündet weiss und der als Macht selbst über Apollo hinaus ihr Wesen in der Mitte bewegt. Eros überfällt sie wie der Sturmwind die Eichbäume und schüttelt sie, er ist das bittersüsse Ungetüm, dem sie zittert. Seine Gewalt über ihre Physis schildert beredt eines der wenigen Gedichte, die ganz auf uns gekommen; da sie das geliebte Mädchen im Gespräch mit dem fremden Liebhaber erblickt, lässt er ihr Herz stocken, bricht er ihr die Zunge, läuft als Feuer über ihre Haut und überliefert die Nichtmehrsehende, Nichtmehrhörende, Zitternde, Erblasste, dem Wahnsinne. Wie er in Sappho als unmittelbar Erlebtes, als schicksalhafte Wirklichkeit, ja als Rausch des Blutes sich offenbart, so hat ihn Sokrates in den Platonischen Dialogen empfangen, nur dass er darin mehr vom Begriffe her nahe gebracht wird. Aber die Grundbestimmungen sind dieselben. Wenn Sokrates im Gastmahl jene ewigen Aussagen über den Eros macht, ihn einen Dämon, des Plutos und der Penia Kind nennt, so ist er dabei an Sappho orientiert und scheint sich nur über ihre unmittelbare Natur zu äussern.

In der Glut des Eros aber fliesst das Wesen Günderrodes wenn wir es in seinem ursprünglichsten Impulse haschen, bis zur Verleugnung des Individuellen mit Sappho zusammen:

O reiche Armut! Gebend, seliges Empfangen!
In Zagheit Mut! in Freiheit doch gefangen.
In Stummheit Sprache,
Schüchtern bei Tage,
Siegend mit zaghaftem Bangen.
Lebendiger Tod, im Einen sel'ges Leben
Schwelgend in Not, in Widerstand ergeben,
Geniessend schmachten,
Nie satt betrachten
Leben im Traum und doppelt Leben.

So schildert die kaum zwanzigjährige Dichterin des Eros Wesen – seine Urgebärde gleichsam – in einem ›Liebe‹ überschriebenen Gedichte, dessen aphoristisch andeutende Zeilen uns sofort ein Unendliches ahnen lassen; sie fallen wie schwere Tropfen – zusammenhanglos zwar, ja ihr Gleiches bis zum Widerspruch verbergend – aber doch Tropfen aus demselben unendlichen Meere, von dessen Reichtum und grossartiger Harmonie sie gerade in dem Disharmonischen ihres Fallens zeugen.

Der ewig ruhelose, ewig wandelbare und maskentolle Dämon, der zwischen der irdischen und himmlischen Welt schwankt, dessen Wesen und Kraft dem Weisesten der Menschen einst die geheimnisvolle Mantinäerin gelehrt hat, er hat in Günderrodes Seele seinen unsichtbaren Palast errichtet (nicht etwa ein rasches Zelt nur), darin er, der stets Flüchtige, wie einst in Sappho und Diotima ewig ein ›grosser Herrscher‹ thront und zu ruhen scheint. Das uralte Märchen von Amor und Psyche hat hier seine Auflösung erfahren, hat kein Recht mehr, denn Psyche hält Eros unlösbar umschlungen; das holde Wild wird der Jägerin nimmer entfliehen. Mehr noch: Eros ist mit dieser Seele zum völligen ununterscheidbaren Eins geworden; oder besser: von Anfang her unlösbar Eins, so dass gesagt werden kann: diese Seele sei substanzhaft, in ihrem Ursprünglichsten, Eros selbst.

Mit dieser Bestimmung erst sind wir in die Keimzelle von Günderrode eingedrungen und es muss begriffen sein, wie diese Bestimmung nur zum Scheine im Widerspruche steht mit der früheren, die vom Apollo-Wille der Dichterin sprach. Der Widerspruch löst sich auf in der Erkenntnis, dass Eros mehr der geheime Grund, Apollo das erstrebte Ziel, dieser mehr die schöne Haltung, jener der dunklere Traum ist; beide finden, wie schon angedeutet, ihre organisch-sinnvolle Bindung in der Orpheusidee der Alten.

Eros – so als Substanz erfasst – verrät sich bei Günderrode schon in der leisesten Regung ihrer Vitalität und so wie im Goetheschen Gedichte (›Amor als Landschaftsmaler‹) scheint sich lebensvolle Röte und Farbe überall da sofort zu verbreiten, wo ihr lichtströmender Finger hinrührt. Weniges freilich verraten davon die paar Bildnisse, die Günderrodes leibhaftiges Wunder unbeholfen genug uns zu vermitteln suchen. Aber wir horchen auf, wenn Menschen, die im Leben sie kannten, von der Ätherbläue, ihres Augenpaares reden, wenn sie uns vom Überzarten, bei allem Geprägten doch Zitternden ihrer Erscheinung erzählen und ihren Gang mehr ein Schweben denn ein Gehen nennen. Ihr Lachen sei ein halblautes Girren wie von Tauben gewesen, ihr Organ von Silberschlage und bei aller Klarheit doch schmelzend.

Verrät sich nicht Eros Flammenmeer hinter jedem Satze ihrer Briefe, mögen diese nun in der Tiefglut offen ungehemmten Bekenntnisses sich einfach ausströmen, wie der aus hundert verlornen zufällig uns erhaltene an Friedrich Creuzer, mögen sie an der fremd empfundnen Natur sich bedeutend, an Geist und Witz sprühend, zur Entwicklung bringen, wie die an Clemens und Bettina Brentano, oder in rückhaltloser Geradheit überraschen, wo es gilt, auf den Mittels- und Vertrauensmann Einfluss zu nehmen (Briefe an Daub). Verrät sich dieses wogende gefährliche Element nicht auch in den wenigen Stellen überlieferter mündlicher Äusserung, so wenn sie der Freundin Bettine sagt, dass sie ihr das versprochene Märchen nicht vorlesen könne: ›es ist so traurig geworden, dass ich's nicht lesen kann; ich darf es nicht mehr weiter schreiben: ich werde krank davon‹.

Von diesem heissen, zuckenden, von den aus- und einströmenden Blutflüssen rauschenden inneren Lebensorgan gehen Wellenschläge tausendfältiger Richtung und Gewalt durch die Sphäre des dichterischen Wirkens hin, und es ist nicht Frevel an den in jedem Falle rein sachlich und abgestellt zu bewertenden Gebilden oder Missdeutung ihres klaren objektiven Gesetzes, sondern nur tieferes Begreifenwollen und letzter Zusammenschluss, wenn wir sie jetzt am Ende einmal einzig von der lebendigen Mitte des Menschen Günderrode zu begreifen suchen, von jenem persönlichsten Eros, der das Herz aller Funktionen gleicher Weise der Physis wie der Psyche ist; doch genüge ein flüchtiges Übergleiten.

Alle Grundmotive der Dichtungen wie ihre besondere wechselvolle Verschlingung ineinander lassen sich als ein Verwandlungsspiel ein und derselben, bei allem Trug und Widerspruch sich immer gleichen Urkraft begreifen, in allen steckt in stets neuer Maske derselbe Wille verborgen.

Dieser Wille ist derselbe, gleicher Weise mächtig, ob er sich lyrisch in der Zartheit und Zaghaftigkeit des liebenden Mädchens, der Wonne und dem Oberschwang des hingegebenen Weibes, der Verzweiflung getäuschter Liebe, oder – in der objektiven Form des Dramas – in der furchtbaren Gebärde des Brudermörders (›Magie und Schicksal‹) und im Übermut des König mordenden Feldherrn (›Nikator‹) offenbart. Er steigt in mütterlicher Gestalt ins Totenreich, um bei der unerbittlichen Hel für den zärtlich geliebten Sohn zu bitten (›Skandinavische Weissagungen‹); er streut, ein innig Trauernder, ganz dem toten Gotte Hingegebener, die ersten Blüten des Frühlings als Spende (Adonis Lieder) und lässt in süsser Gier der Hingabe und steten Gedenkens die Glieder und Lippen des toten Geliebten im Drang eigenen Bluts wieder erschwellen (›Bande der Liebe‹); er reisst endlich, einer dunklen Stimme gehorchend, eben diesen Geliebten, heimlich ihn lockend, zum Abgrund (›Timur‹). Er ist der grosse Entsagende und Schaffende, der Gründer und Gottsucher, er lebt selbst in der Gestalt des scheinbar ganz Figur gewordenen Mahomet (im gleichnamigen Drama), über dessen Verkündung und tragischen Beruf gesagt wird: ›dieses zarte Gewächs, das nur in einem durch Sittlichkeit und Kultur gereinigten Boden blühen und Früchte tragen kann‹ habe eine ›veränderte und fremdartige Gestalt und Natur angenommen‹ und die Umstände hätten ihn verführt ›unheilige Mittel und Zwecke mit Heiligem zu verbinden.‹

In seiner höchsten Potenz tritt uns der mächtige Dämon entgegen in der Gestalt heroischer Selbstopferung, und es scheint, als wolle er, der geheimnisvoller Weise die Mitte wie zwischen den Himmlischen und Irdischen so auch zwischen den Irdischen und Unterirdischen hält, erst in dieser antiken Gebärde des freierwählten Todes sein Wesen ganz aussprechen. Wie eine Ader dunkler Röte zieht sich dieses Todes-Eros-Motiv von Anfang an durch Günderrodes Dichtung; sämtliche Prosa-Erzählungen sind davon durchschimmert (ich nenne: ›Mora‹, ›Die Erscheinung‹, ›Timur‹; auch die leider nur als Fragment auf uns gekommene Erzählung › Walorich‹ deutet in diese Richtung); von den kleineren Gedichten vor allem diese drei, die zugleich eine Stufenfolge darstellen, insoferne im ersten mehr ein dunkler Trieb, im letzten eine höchste Idee sich zu erfüllen scheint: › Ariadne‹, › Brutus‹, › Die Malabarischen Witwen‹; die ethische Essenz dieses ursprünglichsten und leidenschaftlichsten Motivs des Günderrodeschen Werkes spricht die letzte Zeile des mittleren Gedichtes mit hinlänglicher Deutlichkeit aus:

›Doch wer ihm stirbt, der lebt in seinem Gotte.‹

Auf diesen sittlichen Punkt ist in Günderrodes Dichtung alles wie in letzter Entscheidung gestellt. Die Virtuosität im Todesgefühle scheint bei ihr der Probierstein allen menschlichen Wertes, aller Kraft, Schönheit, Lauterkeit zu sein, und wehmütig, dem Schüler des Empedokles (in Hölderlins Drama) ähnlich, möchte wohl mancher, der des Äussersten dieses Standpunkts inne wird, die Dichterin fragen: ›Ist Ehre nur im Tod?‹

Wir sind hier an der Stelle angelangt, wo sich die Kurve der Betrachtung jäh zum Anfang zurückbiegt und eine Gewalt zwingt, von dem zu reden, was – so oft auch missdeutet und abgeflacht – doch einzig die Ursache davon war, dass sich Günderrodes Name bis in unser Bewusstsein gerettet.

›Von Natur phantasiereich und zur Schwärmerei sich hinneigend, versank sie, als der berühmte Altertumsforscher Creuzer ein mit ihr angeknüpftes Liebesverhältnis rücksichtslos abbrach, in düstere Schwermut und machte 1806 in Winkl a. Rh. ihrem Leben freiwillig ein Ende. Sie schrieb unter dem Namen Tian: Gedichte und Phantasien (Hamburg 1804, ferner Poetische Fragmente (Frankfurt 1805) ...‹ mit solcher oder ähnlicher matter Notiz Vgl. auch K. Gödecke: »Ihre poetischen Versuche tragen das Gepräge der Schule, indem sie neben gestaltloser Phantastik eine Schwärmerei für die römisch-katholische Hierarchie offenbaren.« hat die deutsche Literaturgeschichte bisher Günderrodes Leben und Dichtung vermerkt. Mit Tadel oder Entschuldigung hat man verschiedentlich Stellung genommen zu der grellen Tat des ›schwärmerischen Mädchens‹, das männersüchtig und flatterhaft (unter Berufung auf ihre angeblichen zahlreichen Liebschaften und auf das Gedicht: ›Wandel und Treue‹) zu schelten man sich erdreistete.

Es gibt zu denken, dass es der griechischen Sappho ganz ähnlich erging, so oft sie der Beurteilung witziger und flacher Menschen ausgesetzt war. Das Altertum urteilte reiner und der Mythus konnte ihr Andenken nicht würdiger ehren, als indem er ihr Bild mit der Dionysosbraut Ariadne verschmolz und ihr ein dieser ähnliches Ende andichtete: Vom Geliebten verlassen stürzt sie sich vom Leukadischen Felsen nach rührendem Gesänge in die Meeresflut.

Günderrode scheint auch hier nur die Erfüllung der Prophetie des antiken Mythus zu sein. Ihr Tod trägt das Gepräge einer unverrückbaren Notwendigkeit. Er scheint auch in den Motiven ihrer Dichtung hundertfach geweissagt, das ganze Wesen der Dichterin neigt sich in einer unvergesslichen Gebärde ihm zu. Man hüte sich vor zu rascher Auslegung und befriedige sich nicht bei den Gemeinplätzen. Dieser Tod ist nur aus antiker Wallung heraus zu begreifen; die Sehnsucht nach dem Elemente, kindlicher Dank an die verehrten Gottheiten der Natur, tödlicher Schmerz des vereinsamten Menschen, letzte, kühnste Behauptung und Verwirklichung des Ideals – alles dies schwingt in diesem Untergange mit.

Es ist ein nicht gering anzuschlagendes Verdienst Bettinens, dass sie – trotz ihrer spezifisch christlichen Gesinnung – in ihrem Bericht die Ehrfurcht vor diesem Tode nicht verletzt und durch die psychologisch feine Motivierung die tieferen Zusammenhänge und das tiefere Gesetz ahnen lässt. ›Recht viel lernen‹ heisst es da einmal, ›recht viel fassen im Geist und dann früh sterben; ich mag es nicht erleben, dass mich die Jugend verlässt‹.

Freilich, solcher Sinnesart steht die Welt heute fremd und stumpf gegenüber und die Kinder nur, und unverbrauchte Jugend wird sie verstehen. Dass sich ein lebend Wesen – ein Weib zumal – der Idee opfern könne, wird nimmer begriffen und im Ernste geglaubt. Man fragt nach dem Anlasse, als sei er das Entscheidende, und ist zufrieden, wenn man ihn gefunden.

Dieser Anlass ist in unserem Falle der Entschluss des Freundes und Geliebten Creuzer, die Jahre hindurch schön genährten Beziehungen jäh abzubrechen. Es liegt mir ferne, die verhängnisvolle Bedeutung dieses Entschlusses für Karolinens Entscheidung abschwächen zu wollen. (Die nähere Erörterung bleibe der biographischen Skizze des Anhangs vorbehalten.) Bettina hat es in ihrem Berichte mit gutem Takt vermieden, Karolinens Beziehungen zu Creuzer in der Motivierung ihres Todes allzusehr in den Vordergrund zu rücken. Creuzer selbst hat die nach ihrem Tode vergöttlichte Geliebte durch Schweigen geehrt; in seiner umfangreichen Selbstbiographie ist ihr Name nicht genannt. Über seinem grossen, wirklich bedeutenden Werke aber (›Die Mythologie und Symbolik der Alten‹), das er in den auf Karolinens Tod folgenden Jahren in der Sklavenjacke des Philologen leistete, scheint Günderrode als geheimer Genius zu stehen, und es ist sicher, dass nur das immer gegenwärtige Bild der geliebten Griechin ihm die entscheidenden Aussagen über den hellenischen Mythus ermöglichte, und dass sich ihr Genius darin, indem er sich des Gehirns des Mannes wie eines neuen Organs bediente, noch irgendwie mit Gewalt zu verwirklichen strebte.

Günderrode ist ihr Tod zugereift nicht anders, als der Apfel dem Baume zureift, oder sein Los dem griechischen Achill. Sie hat mit ihrer Tat keine Feindschaft zwischen sich und dem Leben gesetzt und nichts Heiliges verletzt. Den Becher der letzten Traurigkeit leerend, zum Urquell alles Lebens zurückrauschend, feierte sie das Leben, blieb sie der Farbe treu, die sie schon früh, an der Grenze noch kindlichen Daseins, eine noch nicht Zwanzigjährige, als die ihre erkannte:

Hochrot

Du innig Rot,
Bis an den Tod,
Soll meine Lieb dir gleichen,
Soll nimmer bleichen,
Bis in den Tod
Du glühend Rot
Soll sie dir gleichen.


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