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Vierunddreißigstes Kapitel.
Bernhard

»So träumte mir. Oder war es vielleicht kein Traum – hatte ich die Stimmen wirklich gehört, die draußen an der Hüttenwand geheimnisvoll flüsterten? Die Thoren! Sie fürchteten jedes lauschende Ohr und dachten doch nicht an die Spalten und Risse der roh zusammengefügten Bretter. Sie sprachen von großen Schätzen Goldes, die sie auf dem Wege durch die Schlucht in einer Höhle entdeckt hatten, aber ich achtete in jener Stunde wenig auf ihre Worte; ich horchte nur auf die regelmäßigen Atemzüge meines kleinen Sohnes, der, um mich zu erwärmen, am Fußende meines Lagers eingeschlummert war, und bald umfing der Traum mich wieder.

»Plötzlich schreckte ich empor. Laute, zornige Worte klangen durch den Hüttenraum und dazwischen ein kläglicher Schrei aus Bernhards Munde.

»Noch tags zuvor hatte ich mich kaum rühren können auf dem Lager, jetzt sprang ich in die Höhe und sah, wie jene beiden Wüteriche um ein Stück Brot rangen, das der Hand des Knaben entfallen war. Sie hatten ihn überrascht, als er es aus dem Versteck im Winkel aufgrub. Dem Verhungern nahe, aber wahnsinnig vor Angst um ihr Leben, dem der gefundene Schatz goldenen Glanz verlieh, hatten sie sich auf ihn geworfen und ihn zu Boden geschlagen.

»›Er hat es gestohlen!‹ brüllte der eine, ›den gemeinsamen Vorrat hat er beraubt,‹ kreischte der andere. Aber die zitternde Kinderstimme tönte schwach dazwischen: ›Nein, ich habe es für meinen Vater aufgespart. Es ist mein Brot; ich habe es nicht gegessen!‹

»Großer Gott – es waren seine letzten Worte. Die Bösewichte hatten den Knaben umgebracht. Wenige Minuten später starb er vor meinen Augen. Umsonst warf ich mich über den zarten, kleinen Körper und schrie zum Himmel, mir das geliebte Leben zu lassen. Er war tot, seine freundlichen Augen auf immer erloschen. Ich mußte sie ihm zudrücken – jene Elenden sahen es und töteten sich nicht auf der Stelle aus Entsetzen vor ihrer Unthat, die solchen grenzenlosen Jammer über mich gebracht hatte.

»Zwei Stunden später kam der Entsatz; alle erhielten Brot zu essen, soviel sie begehrten. Ich aber saß Tag und Nacht neben meinem erschlagenen Liebling und verlangte nach keiner Speise. Ich wartete mit Ungeduld, daß den Mördern ihre Strafe würde.

»Ich versammelte das ganze Lager um den Leichnam meines Sohnes – mit der Schar, die uns Hilfe gebracht hatte, waren es dreiundzwanzig Männer – und verlangte, daß man Gericht halten und den Missethätern ihr Urteil sprechen solle. Zwar war kein Richter zugegen, aber zwölf ehrenhafte Männer wurden erwählt; ich trug meine Klage vor und der Spruch lautete: die Mörder hätten den Tod verdient. So wollte es das Gesetz im Lager, das jeder Gerichtshof anerkannte, sonst wären Leben und Besitz völlig schutzlos gewesen, und Mord und Todschlag an der Tagesordnung.

»Die Männer vernahmen ihr Urteil in hoffnungslosem Schweigen, sie wußten, es geschah ihnen nur nach Verdienst. Man lieferte sie mir aus, denn es war beschlossen, daß sie sich mit eigener Hand den Tod geben sollten, und mir ward aufgetragen, Zeuge zu sein bei diesem Akt der Wiedervergeltung.

»Mit einbrechender Nacht begaben wir uns an einen einsamen Ort, wo die letzte Scene des Trauerspiels vor sich gehen sollte. Als wir den Pfad betraten, der in die Schlucht führte, wo ihr Goldschatz verborgen lag, erwachte ihr Wunsch zu leben noch einmal mit voller Stärke. ›Gewähre uns eine Frist, Deering,‹ flehten sie, ›wir haben große Reichtümer entdeckt in einer Felsenhöhle und wollen den Fund mit dir teilen.‹

»›Ich kenne den Ort,‹ lautete meine ruhige Antwort, ›und nicht für alles Gold der Welt lasse ich die Mörder meines Sohnes ihrer Strafe entrinnen.‹

»Aber während ich so sprach, fühlte ich den giftigen Stachel im Herzen, der sich immer tiefer und schmerzhafter eingrub. Ich fragte mich, welchen Ersatz für meinen lebenslangen Verlust mir denn der Tod dieser Männer bieten könne! Sie wurden rasch aller Qual entrückt, allem Mangel und Elend, mit dem wir ringen und kämpfen mußten, um vielleicht endlich doch zu erliegen. War denn ihr Tod überhaupt eine Strafe und nicht vielmehr eine Wohlthat, eine Erlösung von furchtbaren Leiden?

»Während ich mich Tag und Nacht in Sehnen und Jammer verzehrte nach einem liebevollen Blick, einem Händedruck meines Knaben, würden sie friedlich, wie er, unter der Schneedecke im Grabe ruhen.

»Der Gedanke schien mir unerträglich. In öder Leere lag das Leben vor mir. Ich wollte ihm einen Inhalt geben, wollte Sorge tragen, daß die beiden grausamen Menschen, die mein unschuldiges Kind getötet hatten, auch einer wirklich gerechten Strafe verfielen. Sie liebten das Gold; der eine, weil es ihm Ehre und Ansehen versprach, der andere, weil es ihm Genuß und Behagen bot. Sie sollten ihren Willen haben, Besitz und Einfluß erwerben, sich an ihren Kindern erfreuen. Aber gerade auf dem Gipfel des Glückes, wenn ihnen das Dasein am köstlichsten erschien, wollte ich ihnen den Freudenbecher von den Lippen reißen und sie die Bitterkeit der Verzweiflung schmecken lassen, die auch mein Leben vergällt hatte.

»Bevor wir noch den Richtplatz erreichten, hatte ich alles wohl überlegt und mein Entschluß stand fest. Ich begann zuerst einen Holzstoß zu bauen und Feuer anzuzünden. Sie sahen mir verwundert zu, wagten jedoch keine Frage zu stellen, bis ich selbst das Schweigen brach.

»Als die Flamme prasselnd emporschlug, trat ich vor die Männer hin. ›Der Aufschub, um den ihr mich gebeten habt, soll euch werden,‹ sagte ich mit fester Stimme, ›doch nur, wenn ihr mir den Schwur leistet, welchen ich euch vorschreibe. Ihr müsset feierlich bekennen, daß ihr den Tod verdient habt, und geloben, die Strafe an euch selbst zu vollziehen, sobald der bestimmte Tag erscheint und ich euch auffordere, eures Eides zu gedenken. Thut ihr dies, so gewähre ich euch eine Frist von 12 Jahren weniger 4 Monaten – so alt war mein kleiner Knabe!‹

»Sie starrten mich an, als sei ihnen in dunkler Nacht plötzlich ein blendendes Licht aufgegangen, sie schwankten wie Trunkene und vermochten sich kaum zu fassen.

»›Zwölf Jahre!‹ schrie der Mann, der hier vor uns steht, ›das ist Zeit genug, um sein Leben zu genießen, wenn man Gold in Fülle besitzt!‹

»White hatte sich hoch aufgerichtet: ›Habe ich recht verstanden, Deering? Zwölf Jahre lang soll das Urteil, das heute über uns gesprochen ward, unvollzogen bleiben und an einem festgesetzten Tage sollen wir uns mit eigener Hand töten?‹

»›Ja, ich schenke euch ein Jahr für jedes Jahr von meines Sohnes Leben. Nehmt ihr es an?‹

»›Ja, ja – das thun wir,‹ erwiderten beide wie aus einem Munde.

»›So hört den Eid!‹ Ich sprach ihnen die Worte vor und sie schworen beide mit erhobener Hand, im Angesicht der ewigen Sterne.

»White war der erste: ›Ich, Samuel White,‹ sagte er, ›gelobe, am 13. Juli 1863, gerade 12 Jahre weniger vier Monate, vom heutigen Tage an gerechnet, Robert Deering an einem von ihm zu bestimmenden Ort zu treffen und daselbst mit eigener Hand an mir das Todesurteil zu vollziehen, das heute verdientermaßen über mich ausgesprochen worden ist.‹

»Als auch der andere Mann denselben Schwur geleistet hatte, ließ ich mir ihre Pistolen aushändigen und schoß sie in die Luft, daß der Klang in den Bergen wiederhallte. Dann hielt ich die beiden Waffen mit der Mündung ins Feuer und als diese rotglühend geworden war, reichte ich die Pistolen ihren Eigentümern und sagte:

›Zum Beweis, daß Ihr Mut genug besitzt, den Schwur zu erfüllen, nehmt dies glühende Eisen und brennt damit ein Kreuz in eure linke Hand als Zeichen künftiger Vergeltung.‹

Sie wichen schaudernd zurück, aber ich war taub gegen ihre Bitten und Widerreden. Nach kurzem Sträuben gehorchten sie dem Gebot und drückten als Siegel ihres Gelöbnisses das glühende Metall auf ihre zuckende Hand. – Meine Gefährten hatten die Schüsse in den Bergen gehört und sahen uns mit Verwunderung alle drei lebendig wiederkehren. Doch pflichteten sie mir bei, daß wir in dieser Zeit der Not die Hilfe von zwei starken, gesunden Männern nur schwer entbehren könnten und willigten ein, sie wieder in ihren Kreis aufzunehmen.

Die beiden Uebelthäter blieben von der Krankheit verschont, während nach und nach die redlichen, wackern Gefährten einer nach dem andern der Seuche zum Opfer fielen, bis wir drei die letzten Ueberlebenden waren. Ich fürchtete keinen Augenblick, auch jene erliegen zu sehen, denn die ewige Gerechtigkeit, der ich vertraute, konnte nicht dulden, daß die Buße unbezahlt bliebe, welche ich den beiden Männern auferlegt hatte. Das wußte ich damals so gut wie jetzt. Es hat lange gedauert, viel länger als ich erwartete, bis der Tag der Vergeltung kam.

»Samuel White hat die Schuld gebüßt, gerade als er auf der Höhe seines Ruhmes und Glückes stand, und jetzt soll auch dieser Mann hier, trotz aller seiner Hinterlist, nach 25 Jahren voll Seelenangst seine Strafe erleiden.«

*


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