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Neunzehntes Kapitel.
Eine Krisis

Am Nachmittag desselben Tages führte Flora ihren Plan aus, Frau Delapaine aufzusuchen, in der Hoffnung, von ihr eine Erklärung der seltsamen Umstände zu erhalten, welche zu Marys Aufnahme in ihrem Hause geführt hatten. Allein sie erreichte diesen Zweck nicht. Frau Delapaine, eine würdige Dame und langjährige Freundin von Stanhopes verstorbener Mutter, schwieg beharrlich auf alle an sie gestellten Fragen. Als sie jedoch aus Floras Bericht ersah, daß Stanhope, den sie wie ihren eigenen Sohn liebte, ein wärmeres Interesse für das junge Mädchen gefaßt hatte, sprach sie ihre große Befriedigung darüber aus, und meinte, sie könne ihm zu einer solchen Wahl nur Glück wünschen, es schiene ihr eine in jeder Hinsicht passende Verbindung.

Durch diesen Ausspruch ward Flora in hohem Grade beruhigt, obgleich sie unverrichteter Sache heimkehren mußte.

Drei Tage vergingen. In dem stattlichen Hause der Fünften Avenue herrschten nicht mehr Trübsinn und Niedergeschlagenheit; Hoffnung und Frohsinn waren dort eingekehrt. Selbst die Dienstleute empfanden die Veränderung und warfen einander bedeutsame Blicke zu. Stanhope kam zu Tisch nach Hause, heitere Gespräche würzten das Mahl, und Mary, von schwerem Drucke erlöst, entfaltete ihre ganze natürliche Liebenswürdigkeit. Sie sah des Geliebten glückstrahlende, zufriedene Miene und bevor sie abends ihr Haupt auf das Kissen legte, flüsterte sie dankbaren Herzens: »Wieder ein Tag vorüber und keine Wolke des Zweifels hat seine Stirn getrübt.«

In Stanhopes Innern sah es jedoch bei weitem nicht so friedlich aus wie sie glaubte. Solange Mary zugegen war, übte freilich ihr Zauber nach wie vor seinen Einfluß auf ihn aus, sah er sich aber allein, so ergriff ihn eine innere Unruhe, deren er nicht Herr zu werden vermochte. Bald wünschte er, die Woche wäre vorüber und sein Geschick entschieden, bald standen ihm wieder die Worte jenes verhängnisvollen Briefes seines Vaters in Flammenschrift vor der Seele. Wie dringend war darin der letzte Wunsch ausgedrückt – wie streng der Befehl! Und er, der Sohn, durfte es wagen einem solchen Verlangen zuwider zu handeln! Der Gedanke quälte ihn stets von neuem.

Nur wenn er überlegte, daß sein Vater, der sonst so ruhige und verständige Mann, zu jenem tyrannischen Beschluß durch eine, ihm gegenüber völlig unbegründete Eifersucht getrieben worden war – ja, dann wurde ihm klar, daß er kein Unrecht thue, da ja das Ganze aus einem unglückseligen Irrtum entstanden sei. Es ließ sich keine Nathalie Yelverton sehen und das bestärkte ihn noch in diesem Glauben; trotzdem mischte sich ein bitterer Tropfen in seinen Freudenbecher und er konnte die Furcht vor kommendem Unheil nicht los werden.

Ein an sich unbedeutender Vorfall sollte ihm dies bald deutlich zum Bewußtsein bringen und auch Mary darüber aufklären. Am Sonntag Morgen trafen sie auf dem Rückweg von der Kirche mit einigen Bekannten zusammen, in deren Begleitung sich ein fremdes junges Mädchen befand. Plötzlich sah Mary, daß Stanhope erbleichte; mit aschfahlem Gesicht und bebenden Lippen fragte er den Herrn neben ihm: »Fräulein Yelverton? ... Nannten Sie die junge Dame nicht so?«

»Bewahre, lieber White,« lautete die Antwort, »es ist Fräulein Antonie Silverstone aus St. Louis.«

Stanhope atmete erleichtert auf; allein auf Marys Brust lagerte es sich wie ein drückender Alp. War seine Furcht, jene Unbekannte auftauchen zu sehen, so groß, dann würde sie stets als drohende Wolke am Himmel ihres Glückes stehen und ihnen Ruhe und Frieden rauben.

Ihre trüben Blicke verrieten Stanhope nur zu deutlich, was in ihr vorging.

»Mary,« rief er, sobald sie wieder daheim waren, »verzeih mir und nimm dir eine solche Kleinigkeit nicht so sehr zu Herzen.«

»Das ist keine Kleinigkeit,« erwiderte sie bekümmert. »Ein unsichtbares Band fesselt Sie an jenes Weib, ohne daß Sie es vielleicht selber wissen. Sie fürchten ihr Erscheinen und auch ich würde in beständiger Angst davor schweben müssen, wenn ich einwilligte, Ihre Gattin zu werden.«

»Kein Band auf der Welt kann mich so fest binden, als meine Liebe zu dir. O Mary, wie könnten wir ohne einander leben? Nie, niemals würde ich einem andern Weibe Treue schwören. Willst du den schönen Bund unserer Seelen zerreißen? Nein, du vermagst es nicht – du kannst mich nicht verlassen.«

Der Wunsch, alle ihre Zweifel zu besiegen und zugleich die Qual seiner eigenen Brust zu betäuben, ergriff ihn mit solcher Gewalt, daß er alles andere darüber vergaß. Stürmisch schloß er sie in seine Arme. »Du bist mein,« rief er, »und keine Macht der Erde soll dich mir rauben.«

Sie hob wie flehend die Hand empor; er aber, von heftiger Leidenschaft erregt, überhäufte sie mit Küssen und Liebkosungen. Da sie noch immer keinen Laut von sich gab, beugte er sich besorgt über sie. Liebe strahlte in ihrem Gesicht, aber es war totenbleich.

»Mary,« rief er verzweifelnd, »sprich zu mir, sage, daß du mich hörst.«

Doch ihre Lippen blieben geschlossen, ihre Gestalt lag schwer und regungslos in seinen Armen. Sie hatte das Bewußtsein verloren.

*


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