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Zweiunddreißigstes Kapitel.
Auge in Auge

Es war schon Spätherbst, aber an jenem Tage lag eine drückende Schwüle in der Lust. Ein Gewitter mußte im Anzug sein, das verkündete auch das dumpfe Grollen am Himmel und die düstere Beleuchtung, die bereits in Stefan Huses Werkstatt herrschte. Seine abgezehrte Gestalt hob sich nur wie ein gespenstischer Schatten von dem Dämmerlicht der Umgebung ab.

Das Rad am Fenster drehte sich heute nicht, aber doch vernahm man ein lautes Schwirren in dem Raum, denn Thomas Daltons Maschine stand in vollem Gange auf einem Seitentisch.

Mit dem Schlage drei Uhr trat Deering in das Zimmer, finster und entschlossen. Der jahrelang gefürchtete Augenblick war da.

»Ich bin pünktlich zur Stelle, wie Sie sehen,« sagte er, »vielleicht hätte ich noch gezögert, wenn Sie nicht trotz Ihres Eides jede nur erdenkliche List angewendet hätten, um mir zu entfliehen.«

Bei diesen Worten schien Stefan Huse – oder sollen wir ihn Thomas Dalton nennen – plötzlich alle Furcht zu vergessen. Mutig erwiderte er:

»Als vor fünfzehn Jahren Ihr Ruf an mich erging, Robert Deering, war ich zur festgesetzten Stunde an dem bestimmten Orte. Der Betrug, den Sie damals für gut fanden auszuüben, hat mich jeder Verpflichtung enthoben, Ihrem Wink auch ferner zu gehorchen. Sie ließen uns sagen, daß Sie im Sterben lägen. Die Toten haben kein Recht mehr an die Lebenden. Auch gaben Sie uns durch Ihre damalige Botschaft deutlich zu verstehen, daß wir ungehindert von dannen ziehen dürften.«

»Ihr Gefährte hat meine Worte anders ausgelegt. Sobald er sah, daß ich noch am Leben sei, gehorchte er dem Befehl und zahlte die schuldige Buße ohne Widerrede – obendrein an seinem Hochzeitstage.«

»Samuel Whites Begriffe von Mut und Ehre sind nicht die meinen. Ich bin nur ein schwacher, alter Mann, der sein Leben liebt und fest daran hängt.«

»Auch Sie selbst haben den Sinn jener Botschaft wohl begriffen,« fuhr der Oberst unbeirrt fort. »Sie hätten sich sonst nicht in der ganzen Zwischenzeit die jämmerlichsten Ausflüchte erdacht, um der Strafe zu entgehen, die Ihnen, wie Sie selbst anerkannt haben, von Rechts wegen gebührte.«

»Ich that das, weil ich Ihren verruchten Plan durchschaute, weil ich Sie in Ihrem Versteck erspäht hatte und wußte, Sie waren heil und gesund. Wenn sie uns an jenem Tage gestatteten, das Haus lebendig zu verlassen, so war es, weil Sie sich noch ferner an unserm Jammer weiden und ihr Spiel treiben wollten mit unserm Elend. Sie bereiteten Ihrer Rache nur einen volleren, glänzenderen Triumph, wenn die Zeit Ihnen gekommen schien und Sie des Wartens müde wurden. Es war ein höllischer Gedanke, der mich mit Abscheu erfüllte. Einem ehrlichen Widersacher hätte ich mein Leben hingegeben mit allem was ihm Reiz verlieh; einem Teufel in Menschengestalt, der sich mühte, neue Hoffnung in unser Herz zu pflanzen, damit er uns desto grausamer zerschmettern könne, wollte ich Trotz bieten bis zum Aeußersten. White ahnte nichts von Ihrer Hinterlist und freute sich des neugeschenkten Lebens, das ich ihm nicht verbittern wollte. So ließ ich ihn bei dem Glauben, daß Sie tot seien; ich selbst aber dachte auf Mittel und Wege zu meiner Rettung. Zum zweitenmal veränderte ich meinen Namen und suchte mir einen neuen Wohnort in neuen Verhältnissen, wo ich hoffen durfte, mit meinem Kinde einsam und abgeschlossen von aller Welt leben zu können. Aber Sie haben mich dennoch aufgespürt und jetzt frohlocken Sie über meine Niederlage; denn Sie sind ein boshafter, unbarmherziger Mensch – das wußte ich längst.«

Die Arme über der Brust gekreuzt stand der Oberst unbeweglich da.

»Ist es Ihnen gelungen, die Narbe in Ihrer Hand zu zerstören oder sind die Linien noch erkennbar?« fragte er mit eiserner Ruhe. »Sie wissen, was Sie gelobt haben, und elende Feigheit ist es, wenn Sie auch nur einen Augenblick zögern, den Schwur zu erfüllen, sobald ich Ihnen sage, daß Ihre letzte Stunde gekommen ist. Reichen Sie mir Ihre Hand, ob ich das Zeichen noch sehe.« Allein Thomas Daltons Linke blieb fest geschlossen.

»Dachten Sie etwa mich zu erweichen und Ihrer gerechten Strafe zu entgehen, als Sie mich durch Ihr Zeugnis aus dem Gefängnis befreiten?« fuhr Deering fort. »Wie kamen Sie gerade damals in die Nähe des Whiteschen Hauses?«

»Ich hatte Sie tags zuvor unter der Menge gesehen; ich ahnte Ihre Absicht und wollte meinen Schicksalsgefährten warnen. Es war jedoch zu spät – der Rächer hatte sein Opfer bereits gefunden.«

»Glaubten Sie, ich würde aus Dankbarkeit für Ihre Hilfe vergessen, Gerechtigkeit zu üben?«

»Nein; ich folgte nur der Stimme meines Gewissens.«

»Ihres Gewissens?« hohnlachte Deering. »Sind Sie im Lauf der Jahre so tugendhaft geworden?«

Sein Spott stachelte Dalton zu grimmiger Wut.

»Glauben Sie, in meiner Brust sei jeder bessere Funke erloschen, weil ich einmal, von Hunger und Verzweiflung getrieben, eine unselige That beging? Auf Ihrer Seele lastet kein Verbrechen, und doch würde ich schwören, im Angesichte Gottes, dessen Donner über uns grollt, daß heute in meiner Brust mehr Liebe für alles Gute und Heilige wohnt, als in der Ihrigen. Wer 25 Jahre lang nur fürchterliche Rachegedanken im Herzen hegt, weiß nichts mehr von Tugend und Edelmut.«

»Sie sollten die Milde preisen, mit der ich Sie die langen Jahre hindurch straflos ausgehen ließ für das Verbrechen, durch das Sie mir alles raubten, was ich auf Erden geliebt habe.«

»Hätte ich auf der Stelle dafür gebüßt, es wäre tausendmal besser gewesen.«

»Möglich; aber ich ließ Ihnen die Wahl, und Sie wollten leben, um Ihre Reichtümer zu genießen.«

»Das ist mir nie gelungen.«

»Es lag auch nicht in meiner Absicht.«

»Aber meiner Tochter sollen sie zu Gute kommen. Samuel Whites Sohn und Mary lieben einander. Hierin hat sich mir die Vorsehung gnädig erwiesen. Werden Sie ihr Glück ungestört lassen, wenn ich in mein Verhängnis gehe – oder erstreckt sich Ihre Rache auch auf mein Kind?«

»Mit Weibern fechte ich nicht. – Doch nun zur Sache: Sie haben Zeit gehabt, Ihre Waffe zu wählen. Wollen Sie auch zur Pistole greifen?«

»Wie gerne hätte ich Mary noch einmal wiedergesehen,« flüsterte er mit einem schmerzlichen Seufzer.

Da tönte ein Schrei hinter dem Obersten und Mary erschien atemlos auf der Schwelle ihres frühern Zimmers, die Hände flehend zu ihrem Vater erhoben. Sie eilte an Deering vorbei und stellte sich kühn zwischen die beiden Männer.

»Meinem Vater darf kein Leid geschehen, das nicht zuvor mich trifft, Oberst Deering,« rief sie. »Lange genug hat er Haß und Verfolgung durch Sie erdulden müssen.«

»Sie irren,« entgegnete Deering. »Von meiner Hand droht Ihrem Vater keine Gefahr. Geschieht ihm ein Schaden, so hat er ganz allein –«

»Ebenso wie mein Vater in seiner Todesstunde,« unterbrach ihn eine andere Stimme.

Der Oberst wandte sich rasch und sah Stanhope mit drohender Miene ihm gegenüber stehen. »Man hat mich in eine Falle gelockt, meinethalben – ich fürchte nichts,« rief Deering unerschüttert. »Aber Sie, junger Mann, fragen Sie zuvor, welches Verbrechen Ihr Vater begangen hatte und welche Schuld auf der Seele dieses Mannes hier lastet, bevor Sie ferner meine Wege kreuzen und mich hindern, unschuldig vergossenes Blut zu rächen.«

»Ein Verbrechen!« riefen Mary und Stanhope wie aus einem Munde.

»Ja, ein todwürdiges Verbrechen,« wiederholte der Oberst, unerbittlich wie das Schicksal.

»Ich habe dich getäuscht, Mary,« stammelte jetzt Thomas Dalton in bangem Weh. »Ich bin nicht der schuldlose Mann, für den du mich hältst. Der Gedanke an die Missethat, die ich beging – in alter Zeit, vor deiner Geburt – hat mir all mein Lebtag Schrecken und Grauen bereitet. In blinder Wut tötete ich –«

»Halt,« rief der Oberst mit furchtbarem Ernst. »Laßt mich die Geschichte erzählen. Ich hege keinen Groll gegen euch, ihr Kinder der beiden Schuldigen. Hättet ihr nicht selbst gesucht, den Schleier zu lüften, ich würde das Geheimnis langer Jahre nicht enthüllen, um euch Dinge zu berichten, deren Kenntnis euer Glück nicht fördern wird. Ihr beharrt jedoch darauf, weiter zu forschen und zwingt mich, mein Schweigen zu brechen. So will ich denn reden im Namen der Gerechtigkeit, die ich vertrete, und euch nichts vorenthalten.«

Verwirrt und bestürzt starrte Mary ihren Vater an; Stanhope war einen Schritt näher getreten und blickte dem Obersten fest ins Auge, während dieser seine Erzählung begann.

*


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