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Zweites Kapitel.
Am 14. Juli 1863

Es war sieben Uhr abends und in den Straßen noch hell; trotzdem sah man schon viele Häuser in New-York fest geschlossen wie zur Nacht. In der Amity-Straße war dies besonders auffallend; der Stadtteil, in welchem sie liegt, und hauptsächlich die alten Häuser zwischen dem Broadway und der sechsten Avenue beherbergten damals viele Neger, und überall wo ein Schwarzer im Dienst stand, herrschte große Furcht. Nur eines dieser Häuser war, wenn auch gleichfalls verschlossen, doch glänzend erleuchtet, was in der Nachbarschaft nicht geringes Aufsehen erregte. Bis vor kurzem hatte es noch leer gestanden und man wußte nichts von seinen Insassen, außer, daß ein großer Neger das Gas angesteckt und die Fensterläden geschlossen hatte. Es war ein altes Gebäude, wie sie in jener Stadtgegend häufig zu finden sind; die niederen Stufen, welche zur Hausthür führten, waren von seltsam geformten gußeisernen Säulen eingefaßt, die Wohnzimmerfenster gingen auf einen Balkon hinaus, und durch die halbrunde Glasscheibe über der Eingangsthür sah man den einladenden Schein der Flurlampe.

Alle Vermutungen aber in Betreff der Bewohner des früher leeren Hauses, ja sogar andere noch weit wichtigere Dinge gerieten in Vergessenheit, als sich in der Amity-Straße die Schreckensnachricht verbreitete, daß ein Pöbelhaufe im Anzug sei. Schon vernahm man von weitem die unheilvollen Vorboten: zahllose Fußtritte, ein wildes Stimmengewirre und das Gebrüll einer rasenden Menschenmenge, das weit furchtbarer ist als das Tosen der aufgeregten See oder das Geheul wilder Bestien. Bis jetzt klang es nur aus der Ferne, die Straße selbst war verödet und menschenleer. Da sah man plötzlich zwei Männer um die Ecke biegen und auf das Haus Nr. 31 zuschreiten. Der eine, von schönem wohlgefälligem Aeußern mit blondem Schnurrbart und schwermütigen Augen, sah starr vor sich hin, während er hastig vorwärts eilte. Des andern Gestalt war schmächtig, sein Rücken gebeugt und der Ausdruck seiner Miene so unergründlich, daß jeder, der dies Gesicht einmal gesehen hatte, es schwerlich wieder vergaß. Beide beschleunigten ihre Schritte, wie von einem stärkeren Willen getrieben; erst als sie vor der Hausthür stillstanden, schienen sie einander gewahr zu werden. Ein furchtbarer Schrecken durchzuckte sie; beide öffneten die Lippen um zu sprechen, brachten aber keinen Laut hervor. Sie grüßten einander nur stumm, wie zwei Menschen, die von einem starken gemeinsamen Gefühl bewegt werden; dann stiegen sie, noch einen Blick auf die Hausnummer werfend, die wenigen Treppenstufen hinan, wobei der stattlichere Mann dem kleineren, offenbar älteren, den Vortritt ließ.

Zögernd streckten sie die Hand nach dem Klingelzug. »Sie haben sich sehr verändert,« stieß der Jüngere mit leiser Stimme heraus.

Sein Gefährte schwieg, er bebte am ganzen Körper.

»Ich habe weniger Mut als Sie«, murmelte er endlich.

Der andere fuhr zusammen und zog heftig an der Klingel. »Nur schnell, daß es vorbei ist«, rief er und fügte hastig hinzu, als drinnen Schritte laut wurden: »Thaten Sie auch alles, um das Geheimnis zu wahren?«

»Treten Sie ein, meine Herren«, ertönte jetzt eine süßliche Stimme. »Sie kommen aus Washington, nicht wahr, und Sie aus Buffalo? Es ist schon recht; mein Herr erwartet Sie.«

In der geöffneten Thür stand ein großer Neger mit höflich lächelnder Miene, derselbe, über dessen Persönlichkeit man sich seit vierundzwanzig Stunden in der Nachbarschaft den Kopf zerbrach.

Bei seiner Anrede schreckten die beiden Ankömmlinge unwillkürlich zurück und warfen noch einen langen Blick auf den Himmel über ihnen und die Straße zu ihren Füßen, als wollten sie für immer Abschied nehmen von der Welt und allem was sie bietet.

Das Toben und Lärmen des nahenden Pöbelhaufens schienen sie nicht zu hören; eine schlimmere Furcht ängstigte ihre Seele und nicht draußen, sondern drinnen im Hause lauerte die Gefahr, vor welcher ihnen graute.

Jetzt waren sie beide eingetreten und der Neger verschloß die Thüre hinter ihnen. Er erwies sich als ein gefälliger, wohlerzogener Diener. »Mein Herr wird bald hier sein«, versicherte er, nachdem er ihnen die Hüte aus der Hand genommen und sie in das große Vorderzimmer rechts geführt hatte; dann zog er sich geräuschlos zurück.

Die Männer waren an der Stubenthür stehen geblieben und sahen sich mit ängstlichen Blicken um. Ein reich gedeckter Tisch fiel ihnen zuerst in die Augen. Der größere der beiden Männer, in dem wir bereits Herrn White erkannt haben, trat einen Schritt näher. »Drei!« sagte er mit seltsamem Nachdruck, auf die Stühle am Tische deutend.

Sein Gefährte, welcher Herrn Philipps aus Buffalo auffallend glich, näherte sich jetzt gleichfalls und begann die einzelnen Geräte auf dem Tisch mit verwunderten und zweifelnden Blicken zu mustern.

»Er will, daß wir mit ihm speisen«, murmelte er.

Der andere starrte die Weingläser an, die bei jedem Gedecke standen.

»Ein Mahl von mehreren Gängen«, bemerkte er.

»Dies Possenspiel widert mich an«, rief Philipps, »weit lieber wäre es mir gewesen, hier nichts zu finden als zwei –«

Er stockte, und rasch die Hand ausstreckend hob er den Deckel von der Schüssel, die gerade vor einem der Teller stand. »Ich dachte es mir wohl«, stammelte er, erbleichend.

White hob nun seinerseits den Deckel von einer zweiten Schüssel und ließ ihn nach einem raschen Blick leise zurückfallen. »Der Mann hat sich eine förmliche Komödie ausgedacht«, sagte er und fügte nach einer Pause hinzu: »Sehen Sie, es sind nur zwei bedeckte Schüsseln.«

»Machen wir ein Ende«, sagte Philipps wild um sich blickend und nahm mit kräftigem Griff aus der ersten Schüssel eine kleine, geladene Pistole heraus. Sein Gefährte erhob jedoch Einspruch. »Nein«, sagte er »acht Uhr stand auf dem Zettel, den ich erhielt; es fehlen noch 15 Minuten bis dahin.« Er zeigte nach der Stutzuhr auf dem Kaminsims.

»Fünfzehn Minuten? – Eine Ewigkeit!« stöhnte der andere, doch legte er die Pistole wieder an ihren Platz und White deckte sogleich die Schüssel zu.

Die unheimliche Stille, welche jetzt entstand, wurde durch die Rückkehr des Negers unterbrochen, der mehrere Champagnerflaschen brachte. Sein ehrerbietiges Wesen, seine unerschütterliche Ruhe noch länger still anzusehen, schien White unerträglich.

»Haben Sie den Tisch hier gedeckt?« fragte er in rauhem Ton.

»Jawohl. Herr.«

»Ganz allein?«

»Gewiß, Herr.«

White forschte nicht weiter. Die Miene des Schwarzen blieb unbeweglich und er hielt dem scharfen Blick, der auf ihn gerichtet war, gelassen Stand.

»Mein Herr muß jetzt gleich hier sein«, wiederholte er auf die Uhr schauend und entfernte sich abermals.

Philipps hatte sich während dieses kurzen Zwiegesprächs an den Kamin gestellt.

»Sie wollten wissen«, bemerkte er jetzt hastig, »ob ich Familie hätte? Ich besitze ein Kind, ein kleines, mutterloses Mädchen. Um seinetwillen –«

Der andere winkte ihm mit der Hand, nicht weiter zu sprechen. Dann zog er eine Photographie aus der Brusttasche: »Ich habe eine kränkliche Frau und –«

Er hielt Philipps das Bild hin, das dieser ergriff.

»Ein Knabe!« rief er mit bebender Stimme. Wie von einem elektrischen Schlag getroffen zuckten beide zusammen. White flüsterte kaum hörbar:

»Er ist erst zehn Jahre alt. O, – ich verstehe es jetzt und deßhalb ergebe ich mich in mein Schicksal.«

Mit unverwandten Blicken sah Philipps noch immer das Bild an, das einen mächtigen Reiz auf ihn auszuüben schien.

»Wie schön, was für edle Züge!« rief er, es entzückt betrachtend.

Der Vater stieß einen herzzerreißenden Seufzer aus. »Seinesgleichen gibt es nicht auf der ganzen Welt«, sagte er, sein Eigentum wieder an sich nehmend. Er getraute sich jedoch nicht, das Bild anzusehen, sondern barg es rasch wieder an seiner Brust.

Unterdessen war es auf der Straße lauter und lauter geworden; das Getöse hatte jetzt einen solchen Grad erreicht, daß es die Aufmerksamkeit der beiden erregen mußte, wie sehr sie auch mit andern Dingen beschäftigt waren.

»Was geht da vor?« fragte Philipps verwundert.

In diesem Augenblick trat der Neger wieder ins Zimmer. »Bitte, beunruhigen Sie sich nicht, meine Herren«, bemerkte er. »Draußen findet ein kleiner Aufruhr statt. Man ist augenblicklich nicht gut auf die Farbigen zu sprechen und der Pöbel hat wahrscheinlich erfahren, daß ich hier bin.«

Erstaunt über seine Gelassenheit angesichts der ihn bedrohenden Gefahr sahen White und Philipps einander an. »Kommen die Aufrührer hierher?« rief letzterer, »führen sie Böses im Schilde?«

»An der Ecke wohnen noch zwei Familien, welche schwarze Diener haben«, entgegnete der Neger mit unerschrockener Ruhe. »Da wird es noch zweimal zum Kampfe kommen, der, wenn die Polizei rechtzeitig einschreitet, lange genug dauern kann, um Ihnen, meine Herren, Zeit zu lassen – Ihre Mahlzeit zu halten.«

Seine letzten Worte brachten die Röte des Zornes in Whites Antlitz; Philipps aber schien von neuer Hoffnung beseelt.

»Fürchten Sie sich denn nicht?« fragte er, »man sagt, die Aufrührer schrecken vor keiner Unthat zurück.«

»Nur eins macht mir Sorge«, lautete des Dieners Antwort, »mein Herr wollte durch die sechste Avenue nach Hause kommen; leicht könnte er dem Pöbelhaufen in die Hände fallen und nicht zur verabredeten Stunde hier sein.«

Anscheinend ohne darauf zu achten, in welche heftige Erregung diese Mitteilung die beiden Männer versetzte, fuhr der Neger fort:

»Hier unten kann ich keinen Fensterladen öffnen, aber wenn Sie es wünschen, will ich einmal im obern Stockwerk hinaussehen.«

Er verließ das Zimmer.

»Das ist kein gewöhnlicher Diener«, sagte White mit dumpfem Ton, als die beiden wieder allein waren. »Das Werkzeug ist ebenso gefährlich als die Hand, die es führt. Sollte er, den wir fürchten, nicht kommen, so ist immer noch ein Zeuge da.«

»Der Pöbel brüllt: Tod allen Negern! – Wenn ein Zwischenfall eintritt – es fehlen noch fünf Minuten – so kann es unsere Rettung werden.«

Neubelebte Hoffnung klang aus seinen Worten; der Mann schien wie umgewandelt.

Whites Wesen dagegen hatte sich kaum verändert. »Würden wir nicht trotzdem durch unsern Eid gebunden sein?« sagte er kopfschüttelnd.

Der andere fuhr zurück und sah ihn mit entsetztem Blick an.

»Ist das Ihre Meinung?« fragte er. »Sollte jener Mensch verwundet – getötet werden – würden Sie dennoch – –«

Er hielt erschreckt inne. Der Neger kam mit unhörbarem Tritt wieder ins Zimmer geschlichen.

»Die Sachen stehen schlecht«, äußerte er bedenklich. »Deutlich sehen kann ich freilich nichts bei der Dunkelzeit, aber man hört von allen Seiten Steine fliegen und dazwischen Stöhnen und Schmerzensgeschrei. Die Aufrührer versuchen eben in einem der nächsten Häuser die Thüre einzurennen. Das wird sie noch einige Minuten hinhalten.«

Die Herren blickten schweigend nach der Uhr, welche die achte Stunde zeigte.

»Wenn dein Herr zur festgesetzten Stunde nicht hier ist«, rief Philipps in heftiger Aufwallung, »so halte ich mich für ermächtigt, dies Haus zu verlassen.«

»Er wird zur Stelle sein«, lautete die Antwort, »wenn er am Leben ist.«

»Aber«, rief der andere triumphierend, als der erste Schlag der Uhr ertönte, »es ist schon acht und – –«

Die Hausglocke klang scharf und schrill. Philipps stockte, das Haupt sank ihm auf die Brust; er sah wieder alt und verfallen aus.

»Sehen Sie«, sagte der Neger, sich ehrerbietig verbeugend, »mein Herr ist ein Mann von Wort.«

Während er ging, um das Haus zu öffnen, traten die Männer schweigend an den Tisch und blieben wie angewurzelt neben den für sie bestimmten Stühlen stehen; der eine mit bleicher aber entschlossener Miene, der andere mit gesenktem Haupte, ein Bild ohnmächtiger Verzweiflung. Sie waren der Außenwelt völlig entrückt; wäre die Decke eingestürzt, sie hätten es kaum beachtet. Der Aufruhr auf der Straße kümmerte sie nicht; in ihrem Innern tobte ein weit wilderer Sturm und die Todesgefahr, in der sie schwebten, kam nicht von jener entfesselten Menge. Jetzt ging die Thür hinter ihnen auf; sobald sie es hörten, streckten sie, ohne sich umzusehen, mechanisch die Hand nach der verdeckten Schüssel aus. Eine Weile blieb alles still, dann vernahmen sie Worte, die ihnen so unerwartet kamen, daß sie sich auf der Stelle umwandten. Vor ihnen stand der Neger.

»Mein Herr hat eben einen kleinen Knaben hergeschickt«, sagte er, »um Sie wissen zu lassen, daß er dem Pöbel in die Hände geraten ist; er bittet Sie, einige Minuten zu warten, bis er sich wieder los machen kann. Die Mahlzeit soll nicht darunter leiden, dafür werde ich Sorge tragen.«

»Das mag sein«, schrie Philipps zornglühend, »aber mir ist die Eßlust vergangen, seit die Stunde vorüber ist. Ich muß bitten, mich zu entschuldigen.«

»Sie können das Haus jetzt nicht verlassen«, versetzte der Neger kalt und bestimmt, »es fliegen zu viele Kugeln von allen Seiten umher.«

»Sind Sie selbst mit einer Waffe versehen?« fragte White, indem er sich rasch dem Tisch näherte.

Statt der Antwort nahm der Neger die Hände vom Rücken; in jeder blitzte eine Pistole.

»Das dachte ich«, bemerkte White; »wir thun besser, auf unsern Wirt zu warten«, fügte er dann, zu Philipps gewandt, seufzend hinzu.

Ueber die Züge des Negers flog ein Lächeln, das keiner von ihnen gewahrte. Vielleicht wäre es ein Glück für sie gewesen, hätten sie es gesehen.

*


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