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Fünftes Buch.
Oberst Deering.

Einunddreißigstes Kapitel.
In Angst und Sorgen

Bei seiner Heimkehr war es Stanhopes erste Sorge, der Witwe seines Vaters Mitteilung zu machen über alles was sein Herz in den letzten Stunden so heftig bewegt hatte. Flora stimmte ihm vollkommen bei, daß es der unerwartete Anblick seines Todfeindes gewesen sein müsse, der ihrem Gatten die Besonnenheit geraubt, seine Hand, welche die Pistole hielt, unsicher gemacht und so mittelbar den unglücklichen Schuß veranlaßt habe.

»Ich werde Ihnen später alles noch genauer berichten,« versicherte Stanhope, »aber jetzt muß ich Mary wiedersehen.«

»Sie haben recht, gehen Sie schnell zu ihr,« rief Flora eifrig. »Das arme Mädchen befindet sich in schrecklicher Aufregung – aus welcher Ursache ahne ich nicht. Sie ist bleich wie die Wand und schreckt bei jedem Geräusch zusammen. Was sie quält, will sie mir nicht anvertrauen, vielleicht vermögen Sie ihr Gemüt zu beruhigen.«

Aufs heftigste erschrocken eilte Stanhope ins Bibliothekzimmer, wo er Mary in unerklärlicher Angst seiner harrend fand.

»Welche Nachricht bringst du?« rief sie ihm entgegen, »war jener Mann ein Mörder oder nicht?«

»Er war meines Vaters Feind. Der Schrecken, den er bei seinem plötzlichen Anblick empfand, hat ihn heftig erschüttert und so das Unglück verursacht. Aber erschossen hat Oberst Deering meinen Vater nicht.«

»Und war es das Zeugnis des armen alten Mannes, zu dem ich dich rief, welches Licht in das Dunkel brachte? Hat es den Obersten aus dem Gefängnis befreit?«

»Ja, einzig und allein; es war von der höchsten Wichtigkeit.«

Sie schwieg einen Augenblick, dann nahm sie alle Kraft zusammen. »Hat sich der Oberst seinem Retter dankbar erzeigt für den ihm geleisteten Dienst?«

Stanhope schüttelte den Kopf. »Nein,« sagte er, »bei einer früheren Gelegenheit hat sich der Oberst mit dem alten Handwerker verfeindet, und die beiden sind einander durchaus nicht gewogen. Wir suchten ihr Zusammentreffen zu verhindern, aber es ist uns nicht gelungen – Mary, Mary, um Gotteswillen, was fehlt dir? Du bist bleich – einer Ohnmacht nahe – Flora, Flora!« –

»Still, still,« flehte Mary, sich zusammenraffend. »Rufe niemand – du allein kannst mir beistehen – du mußt ihn retten. Länger darf ich mein Geheimnis nicht bewahren. Der alte Handwerker – Stefan Huse – ist mein Vater. Er schwebt in furchtbarer Gefahr, denn Oberst Deering ist sein Todfeind.«

»Ist das möglich! Stefan Huse – dein Vater! So völlig unkenntlich hat er sich gemacht! O, nun weiß ich auch, Geliebte, warum ich bei aller Freude so oft den Ausdruck stummen Entsetzens in deinen Blicken las.«

Sie richtete sich mühsam auf und holte mechanisch Hut und Mantel herbei.

»Wir müssen rasch hin zu ihm,« rief sie. »Er mag einwenden was er will, aber ich lasse ihn nicht mehr allein, nun ihn sein Feind gesehen hat und weiß, wer er ist. Nicht wahr, er hat ihn wiedererkannt?«

»Ich fürchte es, Mary. Die Bedeutung seiner Blicke und Worte war mir nicht klar, aber jetzt verstehe ich sie. Komm, Geliebte, laß uns zum Markham-Platz eilen. Oberst Deering soll deinem Vater kein Leid anthun, so lange mein Arm ihn beschützen kann.«

*


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