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Sechstes Kapitel.
Die junge Witwe

Auf Stanhopes ängstliche Fragen, mit denen er den Freund empfing, konnte dieser ihm keine tröstliche Antwort geben.

»Ich habe nichts gefunden, was deine Zweifel bestätigt«, sagte er, »aber es ist, als hätte deine Furcht auch mich angesteckt, ich kann ein gewisses, unbestimmtes Gefühl von Sorge und Angst nicht mehr los werden.«

Stanhope seufzte und versank in trübes Sinnen, aus dem ihn jedoch ein Klopfen an der Thür aufschreckte.

Ein Kammermädchen brachte die Botschaft, daß Frau White den jungen Herrn sobald wie möglich zu sprechen wünsche, da sie ihm etwas Wichtiges zu sagen habe.

Stanhope erwiderte ruhig, er stehe sogleich zu Diensten. Kaum aber war das Mädchen fort, so wandte er sich in heftiger Gemütsbewegung an seinen Freund.

»Hilf mir, Jack«, flehte er, »ich weiß nicht, was ich thun soll. Ich kann ihr die Bitte nicht abschlagen und bin doch außer stande, sie zu sehen – wenigstens nicht allein. Willst du mit mir kommen?«

»Ich? Wo denkst du hin? Es würde sehr zudringlich erscheinen, wollte ich unaufgefordert –« Jack bemühte sich vergebens, seiner Stimme die nötige Festigkeit zu geben.

»Du begleitest mich als mein Freund.«

»Unmöglich.«

»Aber weshalb nicht?«

»Habe ich mich denn getäuscht, Stanhope?« rief Jack, bleich vor Erregung. »Ich glaubte, du kennst mein Geheimnis und dies sei der Grund deiner Befürchtungen in betreff deines Vaters. Ich habe versucht, mich zu bezwingen und dir zu helfen, so gut es in meinen Kräften stand. Aber mehr zu thun vermag ich nicht. Ich kann nicht mit dir gehen, denn – muß ich es aussprechen – ich liebe Frau White – schon seit lange – noch ehe dein Vater mit ihr bekannt wurde.«

»Du – Jack!«

»Hast du wirklich keine Ahnung davon gehabt? Das hätte ich nicht für möglich gehalten; es gelang mir so schlecht, meine Gefühle zu verbergen. Sobald dein Vater ein Mitbewerber wurde, mußte ich mich freilich zurückziehen. Auch jetzt hätte ich schweigen sollen, aber dies Trauerspiel hat mir alle Selbstbeherrschung geraubt, und sogar um deinetwillen –«

»Sprich nicht weiter,« unterbrach ihn Stanhope, »ich werde allein gehen.« Sein Ton klang gezwungen und der seltsame Ausdruck seines Gesichts hätte dem Freunde wohl auffallen müssen, aber Jack lagen jetzt andere Dinge am Herzen.

»Was ich dir eben gesagt habe, wird unserer Freundschaft keinen Eintrag thun – nicht wahr, Stanhope?« rief er heftig bewegt. »Glaube mir, ich werde nie vergessen, daß sie deines Vaters Witwe ist.«

Der andere reichte ihm stumm die Hand, vermied jedoch, seinem Blicke zu begegnen. »Denke nicht mehr daran, Jack,« sagte er hastig, »wir sind beide in eine stürmische See geraten und müssen uns als wackere Schwimmer erweisen.«

In dem Zimmer des unteren Stockes, das Stanhope betrat, waren die Fenster dicht verhangen, nur der matte Schein des Feuers im Kamin erhellte das Dunkel und gespensterhaft starrten ihm die reichen Möbel und Kunstgegenstände von allen Seiten entgegen. Dies Gemach, für ihn geheiligt durch die Erinnerung an seine verstorbene Mutter, erschien ihm fremdartig, als hätte er es nie zuvor gesehen; auch der süße Blumenduft, der es durchzog, betäubte seine Sinne.

»Tausend Dank, daß Sie gekommen sind,« sagte jetzt eine leise Stimme; »ich hätte Sie nicht bemüht, wenn ich nicht dringend wünschte, Sie etwas zu fragen, ehe Mama wieder hier ist; ich erwarte sie jeden Augenblick.«

Stanhope trat auf die Witwe seines Vaters zu, deren Gestalt er nur in schattenhaften Umrissen, in die Kissen des Sophas zurückgelehnt, sehen konnte.

»Es ist so dunkel hier,« sagte er; »soll ich nicht das Gas anzünden lassen?«

»O, nur kein Licht,« rief sie mit einer Geberde des Entsetzens, »es würde mich umbringen. Mir ist, als sollte ich mich in finsterer Nacht verbergen.«

»Gnädige Frau« – wie kalt und hart seine Stimme klang, er erschrack selbst davor – »sie haben mich etwas fragen wollen,« fuhr er sanfter fort, »wahrscheinlich in betreff der Begräbnisfeierlichkeit. Bitte, sagen Sie, was Ihre Wünsche sind, ich werde mich bemühen, sie nach besten Kräften zu erfüllen.«

Er vernahm wohl das leise Rauschen ihres Gewandes, aber keine Antwort.

»Ich kann verstehen, daß es Ihnen nicht leicht fällt, Worte zu finden,« begann er von neuem, »wir haben einen so plötzlichen, so furchtbar schweren Verlust erlitten –«

Erschreckt hielt er inne; sie war aufgesprungen und stand dicht vor ihm.

»Zünden Sie das Gas an,« bat sie, »ich muß Ihnen ins Antlitz sehen. Ihre Stimme klingt so fremd, so seltsam. Ist denn auch Ihnen der Gedanke gekommen, daß er auf irgend eine Weise erfahren hat –«

»Still – nicht weiter –« rief Stanhope in strengerem Ton als er vielleicht selbst wußte. »Lassen wir weder Zweifel noch Befürchtungen laut werden. Die Geschworenen haben erkannt, daß es sich um einen unglücklichen Zufall handelt. Verhüte der Himmel –« Ihm war die Kehle wie zugeschnürt vor innerer Bewegung.

»O, wäre es nur ein unglücklicher Zufall gewesen!« stammelte sie in gebrochenen Lauten. »Sie sollen wissen, was mich quält – ich ertrage das Entsetzliche nicht länger: Er war völlig verändert während der Trauung, bei der Gratulation, bei unserer Ankunft hier im Hause. Wie sehr er sich auch bemühte, liebenswürdig, rücksichtsvoll und besorgt für mich zu erscheinen, ich konnte mich keinen Augenblick darüber täuschen. Aber wie hätte ich denken oder annehmen können, daß er –«

»Halt,« unterbrach er sie kurz, »dieser Augenblick ist grauenvoll genug auch ohne künstliches Dunkel.«

Als er das Gas entzündet hatte, senkte die junge Frau wie geblendet das Haupt.

»Es ist schrecklich,« murmelte sie, »frei zu sein und doch ganz ohne Hoffnung für die Zukunft.«

Er hätte ihr sein Mitgefühl aussprechen mögen, aber es war, als ob Geisterhände ihm Schweigen zuwinkten. Sie sah schön aus in diesem Augenblick schmerzlicher Erregung, die ihren sonst so stolzen Zügen den Ausdruck echt weiblicher Sanftmut verlieh und sie schüchtern und zaghaft erscheinen ließ. Ueber den kostbaren Reiseanzug hatte sie einen langen schwarzen Shawl geworfen, von dem ihr bleiches Gesicht und die aschblonden Locken wunderbar abstachen, was ihren Reiz noch erhöhte.

»Sie hätten mir Ihre Befürchtungen verschweigen sollen,« sagte er langsam und mit Anstrengung. »Ein wirklicher Grund für dieselben liegt nicht vor und durch unsere Aussprache wird der Kummer völlig unerträglich für uns beide.«

»Aber ich kann nicht stumm bleiben und das Entsetzen in meinem Innern verschließen. Reden Sie mit mir, Stanhope, lassen Sie mich nicht ganz allein mit meiner Furcht, meiner Reue. Sie sind der einzige, der mir helfen kann, kein anderer Mensch würde verstehen –« Er schüttelte abweisend den Kopf.

»Ach, Sie begehren mein Vertrauen nicht,« rief sie, »und wünschen nicht, mich anzuhören. So wissen Sie also mit Bestimmtheit, daß er erfahren hat – was ich ihm ewig verbergen wollte – daß dies ihn zum Selbstmord trieb an seinem Hochzeitstag, fast noch am Fuß des Traualtars?«

»Ich weiß nur eines,« erwiderte er. »Ein grausames Geschick hat mir den Vater geraubt und Ihnen den Gatten. Forschen wir nicht weiter, denn alles was wir entdecken könnten würde uns nur noch elender machen.«

Verzweifelnd rang sie die weißen Hände. »So ist es denn wahr,« stöhnte sie, »wirklich wahr! Der Pistolenschuß wird mir ewig in den Ohren gellen, ich werde den Anblick des Blutes niemals vergessen können.«

Auf seiner Stirne lagerten sich strenge Falten und er sah sie zum erstenmal mit prüfenden Blicken an.

»Vielleicht haben Sie recht,« sagte er, »daß es ein vergeblicher Versuch sein würde, einen Schleier über die Vergangenheit zu breiten und den Schein gelten zu lassen statt der Wahrheit. Wir können beide keine Ruhe finden, so lange jener grauenhafte Zweifel an unsern Herzen nagt. Hoffen wir, daß es uns gelingt, ihn zu besiegen, indem wir ihn tapfer angreifen. Mut brauchen wir freilich dazu – und den besitzen Sie ja, nicht wahr?«

Sie nickte zustimmend, aber ihr niedergeschlagener Blick, ihre ängstliche Geberde bezeugten das Gegenteil.

»Sie sagen, mein Vater sei auch Ihnen heute verändert erschienen,« fuhr Stanhope mit bewegter aber nicht unfreundlicher Stimme fort; »war er gestern noch ganz wie sonst?«

»Ja,« klang es leise, fast demütig von den so stolzen Lippen.

»Noch beim Frühstück heute Morgen habe ich nichts Ungewöhnliches bemerkt,« versicherte er. »Aber als wir um halb zwölf zur Kirche fuhren, war eine Veränderung mit ihm vorgegangen – das wurde mir erst später klar. Was kann sich in dieser Zwischenzeit zugetragen haben? Sandten Sie ihm vielleicht irgend eine Botschaft?«

»Nein, was hätte ich ihm sagen lassen sollen? Ich wußte aus Ihrem Munde –« sie hielt inne. Ließ sie ihr eigenes Herz nicht weiter reden, oder war es die Eiseskälte in Stanhopes Mienen?

»Ich wollte ihm eine treue Gattin sein,« murmelte sie in gebrochenen Lauten. »Ehe ich mein väterliches Haus verließ, hatte ich mir gelobt, hinfort kein anderes Bild als seines in meinen Gedanken, meinen Träumen sehen zu wollen. Mit reinem Herzen trat ich an seine Seite, aber der Bräutigam war kalt wie Stein und so ganz in sich versunken, daß er des Predigers Frage, ob er mich zum Weibe nehmen wolle, überhörte und keine Antwort gab. Niemand bemerkte es und die Feier ward nicht unterbrochen. Aber meinem Gefühl nach bin ich ihm gar nicht angetraut und muß doch seinen Namen tragen.«

Die letzten Worte flüsterte sie kaum hörbar; hoffte sie auf einen Blick, einen tröstlichen Zuspruch zur Linderung ihrer bittern Herzensqual, so war es vergebens.

Stanhope dachte jetzt nur an seine eigenen Gefühle in der Kirche, an den Moment, als das Brautpaar sich vom Altare wandte und er dem Blick seines Vaters begegnete, der von der Braut, zu ihm, dem Sohne, hinüberschweifte. Es lag in diesem Blick eine solche Welt von Enttäuschung und Verzweiflung, daß Stanhope alles um sich her vergaß und kaum mehr seiner Sinne mächtig blieb. Die Erinnerung hieran und an den wahrscheinlichen Anlaß war es, was ihm das Herz mit Galle und Wermut tränkte. Hatte sein Vater ihm denn wirklich zugetraut, daß er ein Unrecht gegen ihn begangen habe? –

Vor dem Geistesauge der jungen Witwe zogen unterdessen allerlei Bilder vorbei, die keinen Raum in ihren Gedanken hätten haben sollen an diesem Trauertage. Sie sah nicht die Gestalt ihres toten Gatten, sondern das jugendliche Antlitz des Sohnes, wie es ihr in jener denkwürdigen Stunde erschienen war, als sie ihn zum erstenmal erblickte. Da hatte sich die ganze Welt plötzlich für sie verwandelt; die Heirat, in die sie gewilligt hatte, war ihr wie eine Sünde vorgekommen, nun es zu spät war zurückzutreten. Verstört blickte sie jetzt auf den jungen Mann vor ihr, der bewußt oder unbewußt den furchtbaren Kampf heraufbeschworen. Sie dachte an ihre Scham, ihre Sehnsucht, ihr heimliches Zaudern, ihren vergeblichen Widerstand gegen das mächtige Gefühl, das sie vorwärts drängte. Zuletzt verschwand alles in einer Erinnerung, die kaum vierundzwanzig Stunden hinter ihr lag und doch schon seit undenklicher Zeit einen Teil ihres Lebens auszumachen schien. Es war so schnell gekommen – sie standen sich einen Augenblick allein gegenüber. Leidenschaft und Angst überwältigten sie. Man zwang sie zu dieser Heirat und sie wollte wissen, ob ihr Geschick denn ganz unwiderruflich sei. Sie hatte ihm nicht gestanden, daß sie ihn liebe – o nein – nur gefragt hatte sie ihn, ob sie das seinem Vater gegebene Versprechen halten und den Bund eingehen solle, an dem ihr Herz nicht beteiligt sei. – Als er dann vor Ueberraschung kein Wort der Erwiderung fand, hatte sie ihn angefleht, ihr zu sagen, was sie thun solle, da sie selbst keinen Rat mehr wisse, er möge ihr Geschick entscheiden, sie werde sich seinem Ausspruch unterwerfen. Er hatte es gethan, hatte gesagt, sie solle ihr Versprechen halten und seinen Vater glücklich machen. Und dies war nun das Ergebnis ihres Gehorsams – ihr Gatte tot und vor ihr dieser Mann von Stein, der sich mühte, Geduld mit ihr zu haben und ihr keinen Haß zu zeigen. Sie sah ihn erbleichend an.

»Wäre es möglich, daß Ihr Vater unser Gespräch gehört hat?«

Stanhope schrak zusammen, faßte sich aber sogleich wieder. »Nein,« sagte er, »wir machten gleich darauf zusammen eine Ausfahrt; da war er froh und heiter, er sprach mit Stolz und Zärtlichkeit von Ihnen und traute auf sein zukünftiges Glück.«

Ein schmerzlicher Zug flog über ihr Gesicht, doch schnell schöpfte sie neue Hoffnung: »O, dann haben wir uns vielleicht geirrt, – unsere Angst war übertrieben. Die Pistole hat sich doch zufällig entladen und wir haben nur seinen Verlust zu beklagen.«

Sie blickte so gespannt auf ihn, daß er nicht den Mut hatte, ihr zu widersprechen. »Glauben Sie das immerhin,« sagte er »und möge es Ihnen Trost gewähren.«

»Das will ich,« rief sie entschlossen, »ich will glauben, daß mich keinerlei Verantwortung trifft bei dem Unglück. Wie könnte ich sonst das Leben ertragen!«

Er schwieg und wandte den Blick verlangend nach der Thüre hin. Ihre Lippe bebte als sie es sah.

»Ich habe Sie schon zu lange mit meinen Klagen belästigt,« murmelte sie. »Meine Mutter wird bald hier sein und Sie wünschen zu gehen. Es war Thorheit von mir, um diese Unterredung zu bitten; ich hatte kein Recht, Sie in Ihrem Kummer zu stören.«

»Sagen Sie das nicht,« rief er, sich zusammenraffend, »ich schätze mich glücklich, Ihnen dienen zu können, Ihnen meine Hochachtung beweisen zu können. Wir sind jetzt Glieder einer Familie, und wenn ich auch bald dies Haus verlasse, so hoffe ich doch, daß Sie es stets als Ihre Heimat betrachten werden.«

»Ja,« versetzte sie in der Bitterkeit ihres Herzens, »hier ist meine Heimat; um dieses Glanzes willen habe ich geheiratet, nun muß ich sorgen, daß er mir auch Genuß bereite.«

»Denken Sie vielmehr, daß diese Stätte Ihnen von dem Gemahl bereitet wurde, der Sie, so lange er lebte, aufs Hingebendste geliebt hat,« erwiderte Stanhope mit würdigem Ernst.

»Wie groß, wie edel Sie sind!« rief sie, in Thränen ausbrechend. »Ich werde thun was ich kann, um stets die Achtung zu verdienen, die der Witwe Ihres Vaters gebührt – verlassen Sie sich darauf.« Mit einer ehrerbietigen Verbeugung zog er sich zurück und als die Thür sich hinter ihm schloß, fühlte sie, daß sich zwischen ihnen eine unübersteigliche Scheidewand aufgetürmt hatte.

*


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