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Zweites Buch.
Ein unwiderruflicher Befehl.

Viertes Kapitel.
Das gestörte Fest

Vor der Stiftskirche in der fünften Avenue nahmen zwei Arbeiter am Abend des 20. September 1878 das Schirmdach über dem Eingang herunter, das bei der Trauungsfeierlichkeit gedient hatte, die am Morgen hier stattgefunden. Einer der angesehensten Männer New-Yorks, seit mehreren Jahren Witwer, hatte sich mit einem jungen, schönen Mädchen vermählt, und die Menschen waren in Scharen herbeigeströmt gekommen, den Hochzeitszug zu sehen und der kirchlichen Feier beizuwohnen. Aber auch jetzt war wieder, wie am Morgen, eine aufgeregte Menge auf dem Kirchplatz versammelt. Es mußte etwas Ungewöhnliches vorgefallen sein, was die Gemüter so lebhaft bewegte: die Blicke, welche auf die Eingangspforte gerichtet waren, wo sich noch die letzte Spur des Hochzeitsschmuckes zeigte, die erschreckten Gesichter der Leute, ihr Flüstern und ängstliches Fragen – alles deutete auf ein überraschendes, unheilvolles Ereignis.

»Tot, sagen Sie? – Kaum fünf Stunden nach der Trauung!« – »Ein Mann, der Millionen besitzt und letzten Herbst fast zum Gouverneur gewählt worden wäre!« Solche und ähnliche Ausrufe vernahm man hier und dort. Das glänzende Hochzeitsfest schien ein trauriges Ende genommen zu haben; nach den abgerissenen Reden zu urteilen, mußte dem Bräutigam ein Unglück zugestoßen sein, er war wohl gar eines gewaltsamen Todes gestorben.

Ein junger Herr in feinem Gesellschaftsanzug kam vorbeigefahren; beim Anblick der Menge lehnte er sich neugierig aus dem Wagen, erschrak jedoch heftig über die Worte, die er vernahm. Rasch wandte er sich an den Zunächststehenden mit der Frage, was denn geschehen sei.

»Samuel White ist tot«, lautete die kurze, verhängnisvolle Antwort. »Erschossen, als er gerade mit seiner jungen Frau die Hochzeitsreise antreten wollte. Hier in der Kirche sind sie heute Morgen getraut worden.«

Als hätte ihn selbst die tödliche Kugel getroffen sank der junge Mann bei dieser unerwarteten Schreckenskunde wie vernichtet in den Wagen zurück. Dann raffte er sich zusammen und blickte die Straße hinunter; er sah ein dichtes Gedränge vor dem großen Eckhaus und zweifelte nicht länger an der Wahrheit der Unglücksnachricht. Schaudernd barg er sein Gesicht einen Augenblick in den Händen, dann rief er dem Kutscher ungeduldig zu, er solle rasch weiterfahren bis in die Nähe des Hauses.

Der Wagen rasselte über das Pflaster, hielt aber schon nach wenigen Minuten still. Als Jack Hollister, erzürnt über den Aufschub, hinausblickte, näherte sich ihm ein Polizeidiener.

»Sie thun am besten wieder umzukehren«, sagte er, »es werden dort im Hause keine Gäste eingelassen, Herr White ist erschossen worden.«

»Ja, aber ich bin ein vertrauter Freund der Familie. Herr White – ich meine den Sohn – wird mich zu sprechen wünschen. Hier sind fünf Dollars, wenn Sie mir helfen ins Haus zu gelangen.« Er sprang eilig aus dem Wagen.

Der Polizist betrachtete den jungen Mann mit raschem Blick und wandte sich dann nach der Menge hin. »Es wird schwer halten,« sagte er, »aber ich will es versuchen.«

Einige Minuten später hatte er die fünf Dollars in der Tasche und Hollister stand im Hausflur von Whites Wohnung.

Ein Detektiv trat ihm entgegen. »Was suchen Sie hier?«

»Ich bin ein Freund der Familie und wünsche Herrn Stanhope White zu sprechen. Hier ist meine Karte.«

Der Detektiv winkte einen alten Diener herbei, der in der Nähe wartete.

»Glauben Sie, daß Herr White für irgend jemand zu sprechen ist?«

»Für diesen Herrn gewiß«, versetzte der Diener und öffnete Hollister die Thür zum Empfangszimmer.

Es herrschte Halbdunkel in dem Gemach, die Fensterläden waren geschlossen und ein starker Blumenduft durchzog den Raum. Der junge Mann, der nicht nur äußere weltmännische Gewandtheit, sondern auch ein leicht erregbares Gefühl besaß, zögerte beklommen an der Schwelle. Der Gedanke, wie bald hier Totenkränze die Stelle der Hochzeitssträuße einnehmen würden, überwältigte ihn. Unter den anwesenden Personen befand sich auch Doktor Forseth, der Hausarzt der Familie. Kaum hatte Hollisters Blick ihn erspäht, als er auf ihn zueilte und neben ihm Platz nahm.

»Was sagen Sie zu der furchtbaren Begebenheit?« rief er. »Herr White erschossen und von wem? – Es ist für mich ein entsetzliches Rätsel.«

»Für alle übrigen auch«, versetzte der Doktor. »White war in sein Schlafzimmer gegangen, um, wie jedermann dachte, sich zur Abreise zu rüsten. Plötzlich hörte man einen Pistolenschuß; als die junge Frau aus dem Wohnzimmer und Stanhope die Treppe heruntergeeilt kam, fanden sie ihn am Boden liegend, neben ihm die noch rauchende Waffe.«

»Er hat also selbst Hand an sich gelegt. Ich glaubte –«

»Still! – Es muß ein unglücklicher Zufall gewesen sein. Wahrscheinlich hat er die Pistole in den Reisesack stecken wollen und sie hat sich unversehens entladen. Der Schuß ist ihm durchs Herz gedrungen. Welch entsetzlich schnelles Ende einer glänzenden Laufbahn.«

»Und – die junge Frau?«

»Sie ist natürlich wie zerschmettert. Ein so herrlicher Mann! Aber der Verlust, den das Vaterland erleidet, ist am meisten zu beklagen. White würde noch zu den höchsten Aemtern berufen worden sein.«

Hollister stand auf. »Wo ist Stanhope?« fragte er mit unruhiger Miene. »Ich dachte, er würde mich sehen wollen.«

»Er will wahrscheinlich lieber allein bleiben. Ich bin schon vor anderthalb Stunden gekommen, gleich nachdem das Unglück geschehen war, und seitdem hat noch niemand hinaufgehen dürfen, außer Frau Hastings. Der Schmerz ist jetzt noch zu groß und man mag nicht zudringlich erscheinen.«

Aber Jack hatte sich nicht geirrt; er brauchte nicht lange zu warten bis die Botschaft kam, Stanhope wünsche seinen Freund zu sprechen. So stieg er denn leise die Treppe hinauf, an deren Geländer noch die festlichen Blumengewinde prangten. Im Begriff, dem voranschreitenden Diener in das obere Stockwerk zu folgen, stand Hollister plötzlich still; die Thür gegenüber war aufgegangen und eine Dame in mittleren Jahren, noch reich gekleidet von der Hochzeit her, erschien auf der Schwelle. »Nimm dich zusammen, liebes Kind«, sagte sie im Ton mütterlicher Ermahnung. »Ich komme wieder, sobald ich deinen Vater gesprochen habe, du darfst nicht allein bleiben in einer so schrecklichen Zeit.«

Auf diese Worte, welche offenbar der jungen Frau galten, die so plötzlich zur Witwe geworden, kam eine leise gemurmelte Antwort aus dem Zimmer, dann wurde die Thür geschlossen. Die Mutter rauschte die Treppe hinunter in ihrem kostbaren Seidenkleid, ohne Hollister zu bemerken. Er war beiseite getreten und vermied, sie anzureden, obwohl er sie gut kannte. In heftiger Erregung blickte er noch einmal nach jener Zimmerthür und stieg dann weiter die Treppe hinauf.

Als er bei Stanhope eintrat, begrüßte ihn dieser mit warmem Händedruck. »Jetzt weiß ich, nach wem ich mich gesehnt habe«, sagte er, »nach dir, Jack.«

Der Freund versuchte einige Worte des Beileids zu stammeln, aber die Stimme versagte ihm. In Stanhopes Wesen lag etwas ihm Fremdes, das sich weder durch den furchtbaren Schrecken noch die Trauer um den Vater erklären ließ. So schwieg Jack denn und wartete, was Stanhope ihm mitteilen werde.

Stanhope White hatte erfüllt, was er als Knabe versprach. Seine hohe Gestalt, seine männlich schönen Züge konnte man nicht ohne Bewunderung betrachten, aber größer noch war das Vertrauen, das er jedem auf den ersten Blick einflößte, denn sein anziehendes Aeußere war der Spiegel einer edlen, aufrichtigen, hochherzigen Seele. Den Männern gefiel sein offener Charakter, den Frauen seine ritterliche Ehrerbietung, den Kindern sein fröhliches Lachen und sein kameradschaftlicher Verkehr. So war er von Jugend auf der Liebling aller gewesen und nur der klugen Leitung seiner verstorbenen Mutter hatte er es zu danken, daß das allgemeine Lob ihn nicht eitel und selbstsüchtig gemacht hatte. Jetzt war Stanhope fünfundzwanzig Jahre alt, durch innern Wert und äußere Vorzüge ausgezeichnet und von stets heiterer Gemütsart.

Kein Wunder, daß er Jack Hollister an diesem verhängnisvollen Tage fremdartig erschien. Noch nie hatte er des Freundes Stirn umwölkt gesehen, auch die dunkeln Linien um Mund und Augen veränderten sein Aussehen und dann die Ruhelosigkeit in seinem ganzen Wesen – was hatte sie zu bedeuten?

Hollister befand sich in so unerträglicher Spannung, daß es schon eine Erlösung für ihn war, als Stanhope endlich zu reden begann, obgleich ihm das, was er sagte, ganz unerwartet kam.

»Du bist Rechtsanwalt, Jack, und hast einen scharfen Blick und ein richtiges Urteil in geschäftlichen Dingen. Ich habe einen Auftrag für dich, falls du geneigt bist, mir beizustehen. Willst du es thun? Es erfordert Vorsicht und Selbstbeherrschung. Du übst sie leicht, während mich die Erschütterung so übermannt hat, daß ich mir selbst nicht zu helfen vermag.«

»Hier bin ich, wenn du mich brauchst«, erwiderte Jack bereitwillig, obgleich ihm innerlich nicht ganz wohl dabei zu Mute war, da er sich nicht vorstellen konnte, was sein Freund im Schilde führe.

Stanhope atmete erleichtert auf, dann verschloß er die Thür und nahm Hollister gegenüber auf dem Divan Platz, wo sie in glücklichen Tagen so manche behagliche Stunde rauchend und plaudernd verbracht hatten.

»Jack«, begann er mit großem Ernst, »der Tod ist nicht das Schlimmste, was dieses Haus birgt.«

In des Freundes Antlitz trat eine flammende Röte, er geriet völlig außer Fassung.

»Nicht möglich«, stammelte er, »sie kann doch nicht – –«

Stanhope umfaßte seine Hand mit eisernem Griff. »Ich meine«, sagte er nachdrücklich, »daß mich ein furchtbarer Zweifel quält. War es ein unglücklicher Zufall, der meinem Vater das Leben raubte, – oder nicht? Um Gewißheit hierüber zu erlangen, würde ich mit Freuden die Millionen hingeben, die mir zugefallen sind – ja mein eigenes Leben.«

In heftiger Bestürzung starrte Jack den Freund an. »Ich verstehe dich nicht«, murmelte er entsetzt; »ich glaubte doch, dein Vater liebe Fräulein Hastings – wie kommst du darauf, daß es kein Zufall gewesen ist?«

»Das kann ich dir nicht sagen, Jack. Gerade deshalb bitte ich so dringend um deine Hilfe. Nur du allein kannst mir beistehen; denn jeder andere würde nach meinen Gründen fragen.«

Jack sprang auf, seine innere Erregung schien zu wachsen, doch nahm er nach kurzem Besinnen seinen Platz wieder ein. »Sage mir, was ich thun kann und ich will mich nach besten Kräften bemühen«, rief er.

»Geh' in das Zimmer. Sieh ihn an. Laß dir nichts entgehen. Denke, du seiest ich selbst und ziehe deine Schlüsse. Jedermann glaubt, die Pistole sei von selbst losgegangen. Aber wozu brauchte er eine Waffe auf der Hochzeitsreise und wie konnte er so unvorsichtig damit umgehen? Das sieht meinem Vater nicht gleich.«

»Freilich nicht, aber in aufgeregtem Zustand kann jedem ein Unfall zustoßen.«

»Ja, ja, er war merkwürdig aufgeregt den ganzen Tag über.«

»Ich kann mir keine andere Möglichkeit denken. Ein Mann in seiner Stellung, der einen trefflichen Sohn besitzt und im Begriff steht, die reizendste Braut heimzuführen – er müßte wahnsinnig sein –«

»Oder tief unglücklich im Geheimen.«

Jack hielt sich krampfhaft an den Armlehnen seines Stuhles.

»War dein Vater unglücklich?« stammelte er.

»Der Gedanke ist mir nie gekommen«, versetzte Stanhope. »Aber kann man denn wissen, was im Herzen eines Menschen vorgeht, und wenn er uns noch so nahe steht?«

»Mit Gewißheit nicht«, sagte Jack, die Augen niederschlagend, »aber man hat doch Anzeichen.«

»Er war heute ganz verändert, besonders seit der Trauung.«

»Das ist mir nicht aufgefallen.«

»Niemand hat es bemerkt; aber ich kenne meinen Vater.«

»Und du meinst –«

»Mehr kann ich dir nicht sagen. Wenn du mir eines Tages den Beweis brächtest, daß es ein unglücklicher Zufall war – wenn kein Zweifel mehr darüber obwalten könnte – ich würde dir ewig dankbar sein. Für jetzt muß das genügen. Aber ich habe noch eine Bitte: Bleibe bei mir, verlaß mich nicht bis alles vorüber ist. Ich fühle mich so schwach wie ein Kind.«

Jack geriet in sichtliche Verlegenheit.

»Wir sind nicht allein im Hause«, sagte er zögernd. »Ich bin unten Frau Hastings begegnet; sie hat eine Abneigung gegen mich gefaßt und es wäre ihr vielleicht unangenehm, wenn sie mich hier träfe.«

»Ich hatte Frau Hastings ganz vergessen. Denke auch du nicht an sie. Laß mich nicht allein, Jack. Wir brauchen ja die Damen nicht zu stören.«

»Gut, wie du willst«, sagte Jack mit abgewandtem Gesicht. Er schloß die Thür auf und stand im Begriff hinunter zu gehen. »Es wird sich ja wohl vermeiden lassen, daß ich mit Frau White zusammentreffe«, fügte er mit unsicherer Stimme hinzu, und verließ dann rasch das Zimmer.

*


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