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Zwölftes Kapitel.
Markham-Platz Nro. 6

Die Dämmerung war bereits hereingebrochen als Stanhope die Stadt erreichte. Bald leuchteten an allen Seiten funkelnde Lichter auf und mahnten ihn, daß er klüger thun würde, das Unternehmen auf den folgenden Tag zu verschieben, statt sich allein zur Nachtzeit in eine ihm völlig unbekannte Gegend zu wagen. Aber seine Ungeduld war zu groß; er dachte an keinen Aufschub. Nach einigen Erkundigungen fand er den Weg in jenen abgelegenen Stadtteil. Er hatte erwartet, überall dem Anblick von Armut und Not zu begegnen und war angenehm überrascht, als er um die Ecke der kleinen Straße bog, die auf den Platz führte, daß die Gebäude ringsum zu der besseren Klasse von Mietshäusern gehörten und einen sauberen, anständigen Eindruck machten.

Nro. 6 war bald gefunden; auf Stanhopes Läuten öffnete eine lahme, alte Frau die Thür. Sie sah den stattlichen jungen Herrn zuerst verdutzt an, sobald er aber den Namen Dalton nannte, geleitete sie ihn dienstbeflissen durch einen schmalen Gang nach einer Glasthür, die von innen mit einem Vorhang bedeckt war.

»Da drinnen hat er gewohnt,« sagte sie mit schlauem Lächeln; aber er ist fort. Eines Tages ging er aus und kam nicht wieder. Seine Tochter weiß sich nicht zu raten und zu helfen.«

Während sie sprach glaubte Stanhope einen Aufschrei zu hören und sah sich bestürzt um.

»Fräulein Dalton fürchtet sich vor fremden Leuten,« bemerkte die Alte, welche das Geräusch auch vernommen hatte.

»War das die Tochter und ist sie noch ein Kind?«

Die Alte grinste. »Jung genug ist sie wohl.«

»Ich möchte sie nicht beunruhigen,« sagte er. Ist sonst niemand im Hause, der ihren Vater gekannt hat?«

»Mein Mann kann Ihnen Auskunft geben, wenn er will. Manchmal ist er aber brummig und man muß ihm erst die Zunge lösen. Sie haben wohl keinen Tabak bei sich?«

»Nein, aber der läßt sich kaufen.«

Er drückte ihr ein Geldstück in die Hand und sie hinkte ihm voran den Gang hinunter nach einer Stubenthür, in die sie eintrat.

Im Begriff ihr zu folgen, blickte er noch einmal zurück. Was war das? Träumte er, oder sah er sich plötzlich in eine Welt entrückt, wo selige Geister einander begegnen? Da stand sie in der Glasthür, sein Liebling, seine Mary, mit ausgestreckten Armen, die Augen von Thränen überströmt. Nein, das war keine Täuschung; sie war es selbst, er hatte sie wieder gefunden – und an diesem Orte!

»Mary,« rief er, alles um sich her vergessend. Aus diesem einen Worte sprach sein ganzes Sehnen und Verlangen. Sie hörte es und über ihr liebreizendes Antlitz flog ein holdes Lächeln; sie war in dem verflossenen Jahr zur Jungfrau erblüht.

»Gott schickt mir einen Freund, gerade da ich ihn am nötigsten brauche,« rief sie, und trat wieder in das Zimmer zurück. Stanhope folgte ihr, doch die Thür hinter ihr blieb offen.

»Ich kam, um Thomas Dalton zu suchen, der verschwunden ist,« sagte er; »daß ich Sie hier finde –«

»Der, den Sie Thomas Dalton nennen, ist mein Vater,« stammelte sie. »Ich weiß nicht warum – ich verstehe weder dies, noch manche andere Seltsamkeit unseres Lebens. Seit wir hier wohnen, hat er den Namen Dalton angenommen.«

Stanhope erschrak bis ins Herz hinein. War diese holde Gestalt die Tochter eines Abenteurers? – Die Anstalt, in der sie erzogen worden, hatte einen zu guten Ruf, als daß ihm ein solcher Gedanke je in den Sinn gekommen wäre; und doch – sie las die Zweifel in seinen Mienen.

»Mein Vater besitzt hohe Bildung und Gelehrsamkeit,« versicherte sie; »aber er ist nicht wie andere Leute, und deshalb erscheint sein Thun mir oft rätselhaft und Ihnen vielleicht auch.«

Es sprach so viel echt weibliche Würde aus diesen Worten, daß Stanhope davon aufs Tiefste gerührt ward. Hätte er seinem Herzen folgen können, er würde sie auf der Stelle mit sich genommen haben, weit weg aus dieser zweifelhaften Umgebung, dahin, wo ihr seine Liebe die eigene Heimstätte bereiten wollte. Aber es lag ja ein Abgrund zwischen ihnen, den er nicht überschreiten sollte, – das durfte er nicht vergessen.

»Teilen Sie mir mit, was Sie beunruhigt,« sagte er mit brüderlicher Herzlichkeit, »vielleicht kann ich Ihnen helfen und einen Ausweg finden. Haben Sie keine Ahnung, wohin Ihr Vater gegangen ist?«

»Nicht die geringste.«

Er sah sich jetzt genauer in dem seltsam ausgestatteten Raume um, in welchem sie sich befanden. Das Zimmer war einfach möblirt, doch keineswegs ärmlich, und auf dem breiten Bücherbrett, das rings an den vier Wänden herum lief, standen viele Werke von bedeutendem Wert, wie er auf den ersten Blick erkannte.

Sie beobachtete ängstlich, wie seine Augen von der dunklen Zimmerdecke nach der bloßen Diele wanderten und von dort nach dem Tisch, der mit sonderbaren Dingen von unheimlichem Aussehen bedeckt war, über deren Zweck und Wesen sie sich schon häufig selbst den Kopf zerbrochen hatte, wenn sie den Vater damit arbeiten und hantieren sah.

»Besitzen Sie denn außer Ihrem Vater keine Angehörigen?« fragte Stanhope nach einer Pause.

»Nein,« lautete ihre Antwort, wir stehen ganz allein in der Welt. Meine Freundinnen aus der Schule sind die einzigen, die ich je besessen habe. Ich fühle mich sehr einsam.«

»Sind Sie, seit Ihr Vater fort ist, hier ganz allein in der Wohnung geblieben?«

»Freilich,« versetzte sie zusammenschauernd, »es ließ sich ja nicht ändern. Ich mußte ihn hier erwarten, wo er von mir gegangen ist. Hätte er mich nicht von meinen Freunden getrennt – aber ich darf nicht so über meinen Vater reden. Er ist die Güte selbst gegen mich. So lange er bei mir ist, fehlt mir nichts, nur in seiner Abwesenheit fühle ich mich bedrückt. Weshalb nur hat er mich ohne ein Abschiedswort verlassen? Er mußte doch wissen, wie bang mir zu Mute sein würde. Glauben Sie, daß ihm ein Unglück zugestoßen sein kann?«

Sie sah ihn mit verstörten Blicken an.

Statt der Antwort schwebte Stanhope eine Frage auf den Lippen, die er für sein Leben gern gestellt hätte. Doch fürchtete er sie zu kränken.

»Wie ist denn das Aeußere Ihres Vaters –« sagte er endlich; »können Sie ihn mir beschreiben – ist er groß?«

»Nein, eher klein und schmächtig, nicht so groß wie Sie.«

»In der Zeitung ist eine Narbe erwähnt, die er an der linken Hand hat. Trägt er sonst kein bemerkenswertes Kennzeichen?«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

»Hat er nie die Blattern gehabt, ist er nicht pockennarbig?«

»Bewahre, wie kommen Sie darauf? Mein Vater hat schöne und feine Züge, das Gesicht eines Gelehrten; aber er sieht oft sorgenvoll aus.«

Stanhope sah ein, daß er auf einer falschen Fährte gewesen war. Dieser Mann hatte also nicht die Pistole für seinen Vater gekauft. Er war enttäuscht, faßte sich jedoch schnell.

»Wie schien denn seine Stimmung, ehe er verschwand? War sie gedrückter als gewöhnlich?«

Die Thränen, die in ihren Wimpern gezittert hatten, rollten ihr jetzt langsam über die Wangen.

»O ja; aber ich darf Ihnen nichts davon sagen, er hat mir immer verboten, von seinen Angelegenheiten zu reden; er muß einen furchtbaren Schrecken gehabt haben, denn sein Gesicht –« sie stockte, die bloße Erinnerung machte sie schaudern.

Aber Stanhope durfte sie nicht schonen; nicht nur um seinetwillen, sondern auch in ihrem eigenen Interesse mußte er das Verhör fortsetzen. »Wenn Ihr Vater gefunden werden soll, Fräulein Evans (der Name Dalton wollte ihm nicht über die Lippen), so dürfen Sie nichts vor mir verbergen,« sagte er eindringlich.

Sie zögerte und schwankte, offenbar wurde ihr der Entschluß schwer. Doch plötzlich ermannte sie sich. »Sie sollen alles wissen,« rief sie. »Wie kann ich schweigen, wenn sein Wohlergehen, vielleicht sein Leben auf dem Spiele steht – er selbst würde das nicht verlangen. Nicht wahr, Sie werden mein Vertrauen ehren und weder die Polizei unterrichten, noch –« Sie hielt plötzlich inne und deutete nach dem Hausgang. »Die Wirtsleute horchen,« flüsterte sie.

»Sprechen wir leiser,« riet er, »ich möchte die Thür nicht schließen. Die Alte hat einen bösen Ausdruck im Gesicht und Sie sind zu schutzlos, um ihre üble Nachrede gering zu achten.«

»Wohl wahr,« sagte sie errötend. »Könnte ich nur zu Fräulein Grazia gehen. Aber mein Vater würde das nicht wünschen. Er glaubt sicher mich hier zu finden bei seiner Rückkehr – wenn er je wiederkommt.«

Stanhope hegte andere Pläne für sie, aber er beschloß, noch nicht damit hervorzutreten. Er hatte sich so gestellt, daß er den Gang übersehen konnte.

»Wollten Sie mir nicht sagen –« drängte er.

»Was meinen Vater erschreckt hat? Wenn ich es nur selber wüßte! Er saß hier am Tisch, – sie deutete auf den alten grünen Ledersessel – ich hörte ihn plötzlich aufspringen, eilte aus dem hintern Zimmer herbei und fand ihn an dem Platz, wo Sie jetzt stehen, zitternd wie Espenlaub. Ich hatte ihn schon oft in ähnlichem Zustand gesehen, aber niemals in solcher Angst und mit so wilden Blicken. Noch ehe ich genug Fassung wiedergewonnen hatte, um ihn zu fragen was ihm fehle, zog er einen Schlüssel aus der Tasche, warf ihn mir zu und stürzte zur Thür hinaus. Als ich ihm nacheilte, war er schon fort aus dem Hause und ich konnte ihn unter der Menge auf der Straße nicht mehr entdecken. Seitdem ist er verschwunden; es scheint mir so seltsam, so schrecklich.«

»Aber,« warf Stanhope ein, »ist er denn barhaupt fortgegangen? Wissen Sie, ob er Geld bei sich hatte?«

»Damit war mein Vater immer reichlich versehen,« beteuerte sie im Flüsterton und mit einem Seitenblick nach der Zimmerecke, wo ein alter Kasten stand. Den Hut hatte er im Vorbeigehen vom Tisch genommen, wo er ihm stets zur Hand lag; ich durfte ihn niemals forthängen, auch sonst nichts auf dem Tisch anrühren.«

Stanhope betrachtete die Gegenstände genau, welche methodisch auf dem Tisch geordnet waren.

»Ihr Vater hat sich mit elektrischen Versuchen beschäftigt,« sagte er.

»So – meinen Sie? Dann ist dies wohl auch eine elektrische Maschine? Sehen Sie, bitte!«

Sie war leicht wie eine Elfe durch das Zimmer geglitten, wo sie in der dunkelsten Ecke einen langen Vorhang zurückzog, den er bisher nicht bemerkt hatte. Er folgte ihr und beugte sich vor, um den enthüllten Gegenstand näher zu betrachten.

»Fassen Sie es nicht an,« rief sie schreckensbleich und streckte die Hand aus, um ihn zurückzuhalten; dabei entglitt ihr der Vorhang und schloß sich wieder, so daß er den Gegenstand ihrer Furcht aufs neue verbarg. »Verzeihung,« stammelte sie, »ich war zu hastig – aber mein Vater –«

»Es ist doch nichts geschehen, – ich glaubte einen Schrei zu hören,« tönte jetzt eine dünne Stimme hinter ihnen; die lahme Alte stand in der Thür.

»Fräulein Dalton hat sich ein wenig erschreckt, als sie mir ihres Vaters Apparat zeigen wollte,« erklärte Stanhope mit rascher Geistesgegenwart. »Wir sind alte Bekannte, das Fräulein und ich.«

»Das ist ja schön; vielleicht können Sie ihr etwas Trost zusprechen,« versetzte die Alte mit erheuchelter Gutmütigkeit und hinkte wieder hinaus.

Mary atmete erleichtert auf. »Ich bin froh, daß sie die Maschine nicht gesehen hat. Vater wurde einmal sehr böse als sie hereinkam, während der Vorhang aufgezogen war. Er hat sie nie jemand gezeigt, und wenn Leute im Zimmer waren, mußte ich immer acht geben, daß keiner in die Nähe kam. Ich fürchte mich selbst davor und vermeide jene dunkle Ecke so viel wie möglich. Wo ich den Mut hergenommen habe, sie Ihnen zu zeigen, weiß ich selbst nicht.«

Stanhope hätte die Maschine gern noch einmal gesehen, doch wagte er nicht darum zu bitten. »Sie haben so lange hier mit Ihrem Vater allein gelebt, das ist der Grund Ihrer nervösen Aengstlichkeit,« sagte er.

»Wohl möglich,« murmelte sie und versank in träumerisches Sinnen.

Wie sie so dastand in ihrem einfachen Kleide, konnte er die Augen nicht abwenden von der zarten, lieben Gestalt. Die reine weiße Stirn, umrahmt von einer Fülle krausen Goldhaars, der kindlich sanfte Blick der Augen, die fein geschwungenen Linien um Nase und Mund, die dem Gesicht einen so vornehmen, geistvollen Ausdruck verliehen, die weiche Rundung von Kinn und Wange – kurz, die ganze entzückende Erscheinung, halb schelmische Anmut, halb weibliche Würde, fesselte ihn unwiderstehlich.

In ihrem Innern schien ein Kampf vorzugehen. »Warum haben Sie mich nur gefragt,« flüsterte sie nach einer Weile, »ob mein Vater Blatternarben im Gesicht hätte? Ist Ihnen ein solcher Mann bekannt?«

Er fühlte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg. War ihm denn ganz entfallen, was ihn eigentlich in dieses Haus geführt hatte? Dachte er nur noch an sie und ihren Kummer?

»Erst möchte ich wissen, ob Sie einen solchen Mann kennen,« erwiderte er vorsichtig.

»Nein, aber sobald mein Vater fort war, kam ein pockennarbiger Herr hier ins Zimmer und fragte nach ihm. Ich dachte, Sie hätten vielleicht davon gehört und vermutet, daß er mit meinem Vater in Verbindung stehe.«

Bei diesen überraschenden Worten hatte Stanhope Mühe, seine Fassung zu behaupten. »Sie haben ganz recht,« sagte er und seine Stimme bebte; »wie sah denn der Mann sonst aus, können Sie ihn mir beschreiben?«

»Er war sehr groß und breitschulterig. Seine Augen waren zum Fürchten – ich glaubte, ich müsse vergehen vor seinem Blick.«

»Ging er gleich wieder fort, als er Ihren Vater nicht fand?«

»Ja, doch schaute er sich erst im ganzen Zimmer um, auch mich sah er an und verzog sein Gesicht zu einem häßlichen Lachen.«

»Und gleich nachdem Ihr Vater verschwunden war, kam er?«

»Jawohl; ich traf ihn schon hier, als ich wieder eintrat; Frau Braun war bei ihm; die Alte, welche Sie eben sahen.«

»Also war er schon im Hause, als Ihr Vater es so eilig verließ. Vielleicht –« Er stockte. Sollte er Furcht und Argwohn in des Mädchens Brust erwecken? »Hat er irgend einen Auftrag hinterlassen oder gesagt, er würde wiederkommen?« forschte er weiter.

»Nein, er blieb nur noch einmal auf der Schwelle stehen und lachte höhnisch. Mir war sein Besuch sehr unheimlich, und als mein Vater gar nicht wiederkam, fing ich an zu fürchten –«

»Sie dürfen nicht hier bleiben,« fiel ihr Stanhope eifrig ins Wort. »Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich Sie mit Ihrer Angst allein ließe. Packen Sie Ihre nötigsten Sachen zusammen –«

Sie schüttelte jedoch den Kopf. »Ich darf nicht von hier fort,« erklärte sie traurig und sorgenvoll. »Ihnen möchte ich den Grund sagen, aber es wäre gefährlich, wenn sonst jemand darum wüßte. Könnten wir nicht unsere Thür ein wenig schließen?«

Stanhope blickte in den Gang hinaus, es war niemand zu sehen, aber die Thür des gegenüberliegenden Zimmers stand gleichfalls offen. Er stieß dieselbe leicht zu, daß nur noch eine Ritze blieb. Dann schaute er Mary fragend an, aber sie schien unschlüssig, was sie thun solle.

»Ich bin zu jung und unerfahren für solche Verantwortlichkeit,« rief sie seufzend. »Vielleicht begehe ich ein Unrecht gegen meinen Vater, wenn er noch lebt, aber ich fürchte, jener rätselhafte Mann mit den stechenden Augen ist schuld an seinem Verschwinden. Er hat sich noch einmal im Hause blicken lassen und – – – – hier,« sagte sie plötzlich entschlossen, »nehmen Sie diesen Schlüssel, er öffnet den Koffer dort drüben, prüfen Sie seinen Inhalt. Ich mißtraue den Brauns und werde unterdessen an der Thür Wache halten.«

Verwundert, was das zu bedeuten habe, that Stanhope ihr den Willen. Der Schlüssel drehte sich leicht in dem Schloß des großen altmodischen Kastens, und als er den Deckel zurückschlug, sah er zu seinem Erstaunen nichts als eine Menge alter Kleider, sauber zusammengelegt und über die ganze Oberfläche ausgebreitet. Auf einen Wink Marys nahm er sie heraus und fand darunter einen wirklichen Schatz. Gold, Silber, Banknoten, Coupons von Staatspapieren, alles lag offen da auf einem viereckigen Stück Tuch aufgehäuft. Bestürzt breitete Stanhope die Kleider wieder darüber, als fürchte er, die Wände möchten das Geheimnis verraten und gierige Hände sich nach den Reichtümern ausstrecken.

»Den Kasten können Sie freilich hier nicht zurücklassen,« sagte er, Mary den Schlüssel wieder einhändigend, »den nehmen wir einfach mit.«

»Ich wußte nichts von dem Inhalt des Koffers; nie hatte ich einen Blick hineingeworfen,« versicherte sie. »Mein Vater war schon zwei Tage fort, als ich ihn öffnete. Daß er mir all das viele Geld überläßt, scheint darauf hinzudeuten, daß er lange fortzubleiben gedenkt. Meinen Sie nicht auch?«

Stanhope hielt es für ein Zeichen, daß der Mann in den Tod gegangen sei, doch sprach er seine Befürchtung nicht aus. Im Gegenteil, er beruhigte die Tochter mit der Versicherung, der Vater habe ihr alle nötigen Mittel zur Verfügung stellen wollen, für den Fall seiner längeren Abwesenheit. Sie glaubte dies gern und Stanhope erkannte, mit wie großer Liebe und Verehrung sie an ihrem Vater hing, trotzdem dieser sich in so viele Rätsel hüllte.

»Freilich,« rief sie, »das sähe ihm ganz gleich. Er war immer so liebevoll um mich besorgt und ließ es mir an nichts fehlen. Doch ahnte ich nicht, daß wir so reich wären. Der Mann mit den Blatternarben aber weiß es vielleicht, er könnte wiederkommen und dann –«

»Würde er weder Sie noch den Kasten mehr vorfinden,« ergänzte Stanhope. »Sofort werde ich einen Wagen holen lassen.«

»Wenn aber mein Vater zurückkehrte?«

»So wird er Ihren Aufenthaltsort erfahren. Ich bringe Sie zu Frau White; sie ist gut und freundlich und wird Sie herzlich willkommen heißen.«

Wie bleich sie plötzlich wurde! Sie schien einer Ohnmacht nahe. War der Druck so schwer gewesen, von dem sie sich jetzt befreit fühlte? Er wollte sie mit seinen Armen stützen, aber sie gab es nicht zu.

»Frau White?« stieß sie mühsam heraus. »Ihre Gattin?«

Ein Schwindel ergriff ihn. Deshalb also hatte Fräulein Grazia ihn mit so verstörten Blicken betrachtet! Mary liebte ihn, und sie war kein Kind mehr, sie hatte ihr Herz erkannt, und dies Herz sollte er brechen!

*


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