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Achtundzwanzigstes Kapitel.
Seelenkampf

Es war gegen drei Uhr, als Stefan Huse von seinem Arbeitsstuhl aufstand und an den langen Tisch der Thür gegenüber trat, um ein Werkzeug zu holen, welches er gerade brauchte. Der schon für gewöhnlich düstere Raum lag an diesem trüben Tage fast völlig im Dunkel; nur am Fenster war es noch hell. Suchend blickte er über die verschiedenen Geräte, Bücher und Zeitungsblätter hin, die den Tisch bedeckten – da glänzte plötzlich ein Freudenstrahl in seinen matten Augen und er streckte die Hand aus nach einer halbverblühten weißen Rose, die vor ihm lag. »Mary!« flüsterten seine Lippen; »das kommt von ihr; sie schickt mir ein Zeichen, daß es ihr wohl geht und sie glücklich ist.«

Voll Wonne sog er den süßen Duft ein, warme Liebe strömte ihm zum Herzen und seine Augen wurden feucht, während er die köstliche Blüte an die Lippen drückte.

Er überlegte nicht lange, wer von seinen heutigen Kunden Marys Bote gewesen sein könne. Ohne Zweifel war es der alte Kutscher, der den Beschlag eines Pferdegeschirrs gebracht hatte, um ihn neu versilbern zu lassen. Nachdem er die Rose ins Wasser gestellt hatte, trug er sie ans Fenster und schwelgte entzückt in der frohen Hoffnung, daß sein Plan gelungen und seiner Tochter glückliche Zukunft gesichert sei. Zwar nahm er die Arbeit wieder auf, doch wurde sie ihm schwer; seine Gedanken schweiften fortwährend ins Weite und er wünschte, daß der Tag erst vorüber wäre und die Stunde gekommen, um welche er sich das Abendblatt von dem Zeitungsstand an der nächsten Straßenecke zu holen pflegte. Hatte Mary wirklich Stanhope White ihr Jawort gegeben, so würde sie sicherlich Sorge tragen, daß er eine Anzeige der Verlobung zu Gesicht bekäme, denn nur durch die Zeitung konnte er die Nachricht erhalten. Endlich war der ersehnte Augenblick da. Eine ungewöhnlich zahlreiche Menschenmenge umdrängte den Zeitungsstand. Es mochte sich wohl etwas Wichtiges ereignet haben, was die Gemüter erregte; doch wenn es sich nicht auf Mary bezog, hatte es ja jetzt keinerlei Wert für ihn. Er griff hastig nach dem ersten Blatt, dessen er habhaft werden konnte und eilte in seine Behausung zurück.

Das Feuer war herabgebrannt und das Zimmer kalt geworden; so legte er denn die Zeitung hin und schüttete erst frische Kohlen auf. Als er sie wieder zur Hand nahm, fiel sein erster Blick auf die großgedruckte Ueberschrift einer Spalte; er las:

» Oberst Deering verhaftet als Mörder von Samuel White, dessen Tod man bisher für einen unglücklichen Zufall hielt.«

Durfte er seinen Augen trauen oder war es ein Trugbild seiner erhitzten Einbildungskraft? Nein, es war Wirklichkeit – da standen die Worte schwarz auf weiß und darunter noch andere, um die Verhaftung näher zu erklären und Beweisgründe für die Schuld anzuführen. Er brach in ein höhnisches Gelächter aus und beugte sich gierig über das Blatt, als wolle er jede Silbe verschlingen.

Er las, daß die Beschuldigung von Stanhope ausging und daß die Gegenwart des Angeklagten am Thatort, zur Zeit da der Schuß abgefeuert wurde, erwiesen war. Der Gefangene leugnete zwar seine Schuld mit großer Bestimmtheit, hatte jedoch zugegeben, daß er einen alten langjährigen Groll gegen den Verstorbenen gehabt hatte.

Länger vermochte der alte Mann seine leidenschaftliche Erregung nicht zurückzuhalten. »Gefangen,« jubelte er, »gefangen wie der Fuchs in der Falle! Seine eigene Unbesonnenheit hat ihn zu Grunde gerichtet und ich bin frei.«

Wieder vertiefte er sich in die Zeitung. Ein neuer Abschnitt:

» Die Polizei hält die Thatsache des Mordes aufrecht. Der Gefangene ist nicht geständig. Seit seiner Verhaftung hat Oberst Deering nur das eine Verlangen gestellt, daß man sogleich nach dem Aufenthaltsort eines gewissen Thomas Dalton forschen möchte, auf dessen Zeugnis er sich berufen wolle. Dieser Dalton hat, wie bereits bekannt, vor etwa vier Wochen seine Wohnung am Markham-Platz Nro. 6 heimlich verlassen und ist seitdem nicht wiedergesehen worden.«

Das Blatt zitterte in des Lesenden Hand. »Ha,« rief er, »das soll ihm nicht gelingen. Er hofft mich in seinen Fall mit hinabzuziehen – aber er kann es nicht: Thomas Dalton ist fort, vom Erdboden verschwunden. Selbst seine eigene Tochter weiß nicht, wo er ist, und wenn Gott es weiß, so verkündet er es nicht. Meine Rettungsstunde ist da. Alle Umstände treffen zusammen, um meinen Todfeind zu verderben und zu beweisen, daß er schuldig ist. Deering ist verloren und kann mir nicht mehr schaden.« Er rief die Worte wie im Freudenrausch und warf einen triumphierenden Blick nach dem Vorhang, welcher die todbringende Maschine verhüllte. Dann las er den weiteren Bericht, in dem alles gesammelte Beweismaterial, alle Verdachtsgründe gegen den Gefangenen aufgezählt waren. Allmählich verdüsterte sich jedoch seine Miene und der Freudenschein, der ihn förmlich verjüngt hatte, schwand aus seinen Zügen. Bald entsank die Zeitung der schlaffen Hand und er starrte regungslos vor sich nieder, wie gelähmt von Entsetzen. Plötzlich sprang er auf und ging mit hastigen Schritten in der Werkstatt hin und her. In seiner Seele tobte ein wilder Kampf. Zuerst gab sich das nur in einzelnen Ausrufen kund, dann stieß er Worte und Sätze heraus, bald flüsternd, bald stöhnend, je nachdem Furcht oder Hoffnung bei ihm die Oberhand gewann.

»Warum soll ich die Rettung nicht annehmen, die sich mir bietet? – Was kümmere ich mich um den Mann, dessen Tod mir Erlösung bringt! Schweige ich, so erfüllt sich sein Verhängnis, für ihn giebts keine Hülfe. Vergangenheit und Gegenwart stehen gegen ihn auf. Je mehr man sein Leben durchforscht, um so triftigere Gründe wird man finden, ihm das Urteil zu sprechen. Selbst seine unerschütterliche Selbstbeherrschung und unbezwingbare Willenskraft werden nicht im stande sein, ihn aus dem Netz zu befreien, das sich über seinem Haupt zusammenzieht. Er hat einem großen Mann das Leben geraubt und muß dafür büßen. Daß Whites Tod nicht gerade auf die Art erfolgt ist, wie man denkt, ist für mich kein Grund einzuschreiten. Jahrelang habe ich für meine Befreiung Pläne geschmiedet, gearbeitet, gebetet. Warum sollte ich mich nicht freuen, nun sie da ist? Ja, ich freue mich, ich atme neues Leben. Furcht und Scham sind verschwunden. Sobald jener Mann überführt ist und mir niemals mehr schaden kann, werde ich die gesellschaftliche Stellung wieder einnehmen, die mir gebührt, und mit meiner geliebten Mary das Leben genießen. – Wird das geschehen?« – Die Frage rang sich wie ein Angstschrei aus seiner Brust. Wird es geschehen? Er dachte an Marys Schönheit, ihre Unschuld und Reinheit, deren Sinnbild die weiße Rose war, die dort im Fenster schimmerte, an die Heirat, die ihr Erdenglück gründen sollte, und immer mehr erlosch das Feuer der Leidenschaft in seinem Antlitz, bis es grau und verfallen aussah, als sei auch der letzte Hoffnungsfunke erloschen. »Ich brauche ja bloß zu schweigen und der Gerechtigkeit ihren Lauf zu lassen,« rang es sich endlich stöhnend aus seiner Brust. »Daß ich mich selbst hineinmische, ist nicht von Nöten. Habe ich ihn doch erst vor wenig Tagen hier an dieser Stelle mit dem Tode spielen sehen und keinen Warnungsruf ausgestoßen. Jetzt geht es ja leichter, viel leichter, denn ich werde nicht Zeuge sein, wenn das Schicksal ihn ereilt. Und doch fühle ich einen Brand in meinem Innern, der mich zu verzehren droht. Ist das Gottes Strafgericht? Hat sein Finger mein Herz berührt?«

Wie sehr er auch dagegen ankämpfte und verzweiflungsvoll rang, den jahrelangen Vorsatz nicht aufzugeben, es war ein ohnmächtiges Beginnen. Dem ermatteten Streiter schwand endlich der Mut, er vermochte dem Geist, der ihn trieb, nicht zu widerstehen. Aber vielleicht fand sich doch noch ein Ausweg, ein Rettungsanker, an den er sich klammern konnte. Was hatte er denn zu fürchten? War er nicht Stefan Huse? Der hatte ja nichts mit den Schrecknissen jenes alten Goldgräberlagers in Kalifornien zu schaffen. Selbst wenn Deering der Versuchung nicht widerstand, die ganze grauenvolle Geschichte zu erzählen, konnte er ihm nicht schaden. Es schien eine offenbare Fügung der Vorsehung, daß sich alles so traf.

Und doch war die Möglichkeit einer Entdeckung nicht ausgeschlossen. Sollte es denn wirklich seine Pflicht sein, das ihm neu geschenkte Leben aufs Spiel zu setzen, um dieses Mannes, um seines Feindes willen? Mary würde vielleicht diese Frage bejahen. Aber Mary war ein Engel und er nur ein müder, gebrochener alter Mann.

Er überlegte hin und her, aber der einmal gefaßte Gedanke ließ ihn nicht wieder los und trieb ihn unwiderstehlich zum Handeln. Er ward nun ganz still; wie träumend blickte er umher in der Werkstatt, dem Schauplatz seiner Tagesarbeit; alles schien ihm fremd und bedeutungslos. Mechanisch holte er Hut und Rock vom Nagel und kleidete sich zum Ausgehen an. Zuletzt nahm er noch die weiße Rose vom Fenster und barg sie in seiner Brusttasche. Nachdem er die Lampe gelöscht, öffnete er die Thür geräuschlos und stahl sich in die Nacht hinaus.

Seit er vor einer kurzen Stunde das Zeitungsblatt zur Hand genommen hatte, war er wohl um zehn Jahre gealtert.

*


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