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Zehntes Kapitel.
Veränderte Gefühle

»Es war ein großartiges Leichenbegängnis. Flora kann sich wirklich geehrt fühlen, die Witwe eines Mannes zu sein, den so viele berühmte Leute zu Grabe geleitet haben.«

Mit diesem Ausspruch befriedigter Eitelkeit verließ Frau Hastings das Trauerhaus. Stanhope, der gerade aus seinem Zimmer im oberen Stock trat, hörte ihre Worte mit Schmerz und Unwillen. Wenn die Mutter so weltlich gesinnt war, was ließ sich da von der Tochter erwarten? Er hatte die schöne Witwe seit dem Begräbnis nicht wiedergesehen, doch hielt er es für seine Pflicht, ihr mitzuteilen, welche Pläne er für die Zukunft gefaßt habe. So ließ er sich denn gegen Abend durch Felix bei ihr anmelden.

Er fand sie mitten in dem glänzend erleuchteten Zimmer stehen; die schlanke Gestalt, in den eng anliegenden schwarzen Gewändern, hob sich scharf ab von der blaßgelben Farbe der Möbel und Tapeten. Ihre Haltung war würdevoll; sie trug den schöngeformten Kopf stolz erhoben, aber aus ihren Augen sprach ein rührendes Flehen und ihre Lippen bebten.

»Wie freundlich von Ihnen, mich aufzusuchen,« sagte sie, und es klang ein so süßer Wohllaut aus den einfachen Worten, daß wohl manches Mannesherz bis ins Innerste bewegt worden wäre bei solchem Gruß.

Stanhope aber achtete wenig darauf; ihm lag nur im Sinn, den besten Ausdruck zu finden für das, was er sagen wollte, und er übersah die Hand, die sie ihm zögernd entgegenstreckte.

»Ich komme,« begann er, ohne den Schatten zu bemerken, der über ihr Antlitz flog, »um mich von Ihnen zu verabschieden. Morgen früh gedenke ich die Stadt zu verlassen.«

»Ist das nicht zu schnell,« entgegnete sie, ihre Bewegung geschickt verbergend. »Ich glaubte, Sie würden wenigstens noch eine Zeitlang mit dem Ordnen der Geschäfte Ihres Vaters zu thun haben.«

»Ich werde nicht lange fortbleiben,« erwiderte er langsam, – »sehr bald, vielleicht schon in einigen Tagen, kehre ich zurück.«

Wenn er es auch nicht deutlich aussprach, daß er sich von ihr zu trennen wünsche, so glaubte sie doch, seine Absicht zu durchschauen. »Bei Ihrer Rückkehr würden Sie das Haus vermutlich gern leer finden, so daß Sie sich nach Gefallen darin einrichten können.«

»Nicht doch,« entgegnete er schnell. »Dies ist Ihr Haus; es wird, wie ich Ihnen bereits sagte, einen Teil des Erbes bilden, das Ihnen, als der Witwe meines Vaters, rechtmäßig zufällt.«

»Aber – wenn ich mich nun weigere es anzunehmen,« – ihre Stimme bebte – »wenn ich überhaupt alles zurückweise –« wie kalt und unnahbar er dastand – »würde mir das Ihre Achtung zurückgewinnen – würden Sie mich dann –«

»Sie schlagen meine Meinung viel zu hoch an,« unterbrach er sie, um jeder unliebsamen Andeutung zuvorzukommen. »Ich bitte Sie dringend, nichts zu thun, mit Rücksicht darauf, was ich denke oder glaube. Ihre Stellung als Witwe meines Vaters hebt Sie gänzlich aus dem Bereich meiner Kritik.«

Länger vermochte sie ihre Leidenschaft nicht zurückzuhalten: »Sie hebt mich aus dem Bereich Ihrer Teilnahme, Ihres Mitgefühls, Ihrer Liebe, wollen Sie sagen.«

Das Wort war ausgesprochen; es übte einen überwältigenden Eindruck, und sie schwiegen. Doch atmeten wohl beide freier danach – sie, der Erleichterung wegen, die es gewährt, das laut zu sagen, was man solange in der Brust verschlossen hat, und er, weil es ihm den besten Anknüpfungspunkt für die Auseinandersetzungen gab, die unter den Umständen dringend geboten waren.

»Und wenn dem so wäre,« erwiderte er mit erzwungener Gelassenheit, »so hätten wir allen Grund dankbar zu sein. Ich darf mir nur noch gestatten, wärmere Gefühle für meine Freunde und Verwandten zu hegen. Das Glück der Liebe ist mir versagt. Auf diesem Felde bin ich nicht mehr Herr meines Geschicks.«

Sie sah ihn mit großen erschrockenen Augen an; zum erstenmal empfand er, daß ihre Schönheit ihn rühre. Wie sollte er den Schlag mildern, der sie treffen mußte? Wie konnte er es zur Klarheit zwischen ihnen bringen, ohne sie aufs Tiefste zu verletzen?

Mit düsterer Miene zog er den Brief seines Vaters hervor, den er ihr einhändigte.

»Was ist das?« rief sie. »Ist denn ein neues Unheil im Anzuge?«

»Ich weiß nicht, von welchen falschen Voraussetzungen mein Vater ausgegangen ist,« erwiderte er. »Dies hier sind seine letzten Vorschriften für mich, die er, wie wir bestimmt wissen, nur einige Stunden vor seinem Tode niedergeschrieben hat.«

Sie las; das Papier knisterte in ihrer Hand, ihre Wangen entfärbten sich, der Glanz ihrer Augen verriet die leidenschaftliche Erregung.

»Wer ist Nathalie Yelverton?« rief sie.

»Ich weiß nicht, ich habe ihren Namen nie zuvor gehört.«

»Eine Fremde,« murmelte sie in maßlosem Staunen, »eine Unbekannte!« Ihr durchdringender Blick schien in seiner innersten Seele lesen zu wollen. »Aber eine solche Tyrannei ist ja unerhört,« fügte sie leise und entrüstet hinzu; »Sie können sich doch durch diese unbegründete Forderung unmöglich binden lassen. Es wäre grausam. Ihr Vater selbst würde Sie jetzt davon entbinden.«

Kalte Strenge lagerte sich auf seinem Antlitz. »Ich kann den Wünschen meines Vaters nie zuwiderhandeln. Dabei könnte ich weder Glück empfinden, noch geben. Mein künftiges Geschick ist besiegelt, versuchen Sie nicht, es zu ändern.«

Sie sah ihn an und erkannte, daß sein Entschluß unabänderlich sei. Die letzten Worte ihres toten Gatten waren für sie ein Schicksalsspruch gewesen so gut wie für ihn.

Hatte er sie denn nie geliebt? War sie völlig im Irrtum gewesen als sie glaubte, daß er ihre Gefühle teile? Wie verwerflich und unwürdig stand sie dann in seinen Augen da. Nein, nein, das konnte nicht möglich sein, so schwach und verblendet war sie nicht gewesen; gewiß, er hegte zärtliche Empfindungen für sie, sonst müßte sie ja vergehen vor Scham und Reue.

Aber ach, in seinen Zügen stand nichts davon zu lesen. Qual und Verzweiflung spiegelten sich wohl darin, aber nicht sie war die Ursache; zwischen ihnen schien eine unübersteigliche Kluft zu gähnen. Ein anderer Kummer erfüllte seine Seele, er hatte andere Verluste und Enttäuschungen zu beklagen, von denen sie nichts ahnte. Wie ein Blitzstrahl durchzuckte sie der Gedanke, und während ihr diese Vermutung zur Gewißheit wurde, ging eine große Umwandlung in ihrem Innern vor. Trotz ihrer Aeußerlichkeit, ihres weltlichen Wesens, ihrer thörichten Regungen, besaß diese Frau doch eine echt weibliche Natur; sie war imstande, ihre selbstsüchtigen Wünsche zu vergessen über der Teilnahme an des Freundes Geschick und bereit, mehr zu geben als zu empfangen. Sie näherte sich ihm mit dem Brief in der Hand, und als er, aus seinem Sinnen aufschreckend, ihn an sich genommen, sagte sie mit sanfter Festigkeit:

»Ich habe einen großen Irrtum begangen, das sehe ich jetzt klar. Daß seine Folgen auf Ihr Haupt fallen, bereitet mir den bittersten Schmerz. Die Selbstsucht hält mich nicht ganz gefangen, und gern würde ich mein Leben opfern, um das Unrecht ungeschehen zu machen, das Sie erleiden. – Doch genug der Worte. Sie können meine Thorheit nie vergeben und ich kann die Scham nicht vergessen, welche die Erinnerung daran mir jetzt in die Wangen treibt. Aber ich möchte Ihnen beweisen, Stanhope, daß ich unser beiderseitiges Verhältnis jetzt begreife, wenn ich es auch früher falsch aufgefaßt habe. Gönnen Sie mir Ihre Freundschaft und den Anteil an Ihrem Ergehen, der, trotz meiner Jugend, mir zufolge unserer Verwandtschaft gebührt. Meine Teilnahme, meine Würdigung Ihres Kummers werden mich lehren –«

Er sah die Thräne des Mitgefühls in ihrem Auge und sein starrer Sinn ward weich.

»Wie gut Sie sind!« rief er mit Wärme.

Sie schüttelte den Kopf. »O nein, ich habe nur für die Eitelkeit der Welt gelebt; aber ich möchte gut werden. Wenn Sie mir vertrauen wollten, so wäre das meine beste Hilfe. Sagen Sie mir – kenne ich das Mädchen?«

Wie sanft der Ton ihrer Stimme klang, und doch erschrak er heftig.

»Wen meinen Sie?«

»Das Mädchen, welches Sie lieben.«

Er sah sie erstaunt, fast zornig an, aber sie war entschlossen nicht zurückzugehen, nun sie sich einmal so weit gewagt hatte.

»Sie müssen lieben – Ihr Schmerz wäre sonst nicht so scharf und bitter. Es ist nicht Neugier, die mich zu jener Frage treibt, sondern nur der Wunsch, daß Sie sich die Brust in Worten erleichtern möchten, damit die Last nicht unerträglich wird. Wissen Sie jemand anders, gegen den Sie sich leichter aussprechen könnten, dann –« Ihr schmerzliches Lächeln schnitt ihm in die Seele. Schweigend durchmaß er das Zimmer mit großen Schritten, dann blieb er vor ihr stehen.

»Ich liebe ein junges Mädchen von ganzem Herzen,« sagte er mit äußerer Ruhe. »Schon vor meiner Reise nach Europa liebte ich sie.«

Sie verstand was er meinte, und dunkle Glut färbte ihr Stirn und Wangen. Zu jener Zeit hatten sie einander noch nicht gekannt.

»Sie haben es nie erwähnt,« flüsterte sie.

»Nein; von einem Traume spricht man nicht.«

»Und war es nicht mehr als das?«

»Der Traum wäre zur Wirklichkeit geworden, wenn dies nicht im Wege stände.« Er deutete auf seines Vaters Brief.

»Sagen Sie mir wie es kam!«

Er führte sie zum Sofa, nahm aber selbst nicht Platz. War es denn möglich – er sollte von ihr reden und zu dieser Frau! Er schien sich selbst ein Rätsel, und doch, wenn er in die ernsten, treumeinenden Augen der jungen Witwe blickte, kam es ihm ganz natürlich vor, daß er ihre Bitte erfüllte.

»Ich sah sie vor einem Jahr auf dem Lande. Sie gehört nicht zu Ihrer Bekanntschaft und heißt nicht Nathalie Yelverton.«

»Ist sie jung und schön?«

»Noch sehr jung und weiß und zart wie eine Schneeflocke.«

»Doch nicht so kalt,« versetzte Flora mit einem schmerzlichen Blick auf den braungelockten herrlichen Mann, der ihre dunkle Schönheit gering achtete.

»Sie zog mich durch ihren Liebreiz an, doch völlig unbewußt,« fuhr Stanhope nach einer Pause fort, »denn sie ist noch ein Kind. Aber auf den ersten Blick hat sie mein Herz bezwungen.«

»Glückliches Kind,« seufzte Flora im tiefsten Innern.

»Es war während meines Aufenthalts in Bay Ridge, wo ich mich in der Stille einige Wochen meinen Studien widmete. Ich sah sie in einem Heckenweg unter einem großen Baume stehen, auf dem Arm trug sie einen zahmen Vogel mit schwarzem Gefieder, – ein wunderbarer Kontrast zu der zarten Lichtgestalt in dem einfachen weißen Kleide. Bald aber sah ich nichts, als ihr liebliches Gesicht, dessen wahrhaft rührender Ausdruck sich meinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt hat. Sie wurde der Leitstern meines Lebens und ich hätte ihr Herz und Hand angeboten, allein –«

Stanhope hatte in steigender Aufregung gesprochen, plötzlich stockte er.

»Was hinderte Sie?«

»Ihre zarte Jugend. Sie war kaum siebzehn Jahre alt. Wie hätte ich mir ihre Unerfahrenheit zunutze machen dürfen!«

Flora sah ihn verwundert an. War er nicht der Sohn des großen Staatsmannes, der dem Mädchen, das er liebte, alle Güter der Welt zu Füßen legen durfte, – kannte er seine persönlichen Vorzüge nicht? – »Und wäre sie die Tochter des besten und reichsten Bürgers ihres Landes – der Antrag hätte sie geehrt,« sagte sie.

»Für die, welche wir lieben, verlangen wir nicht Ehre, sondern Glück,« erwiderte Stanhope ernst.

Welche leidenschaftliche Zärtlichkeit sprach jetzt aus seinen Mienen. Kein Mädchen, das er liebte, hätte ihm die Gegenliebe verweigern können.

»Wohnt sie noch an jenem Ort – hat sie eine Mutter – einen Vater?«

»Ich weiß nicht, aber ich sollte es bald erfahren. Die Lehrerin, in deren Schulanstalt sie war, hatte mir versprochen, mich an ihrem 18. Geburtstag wissen zu lassen, wo ich sie aufsuchen könne. Im November – ich weiß das Datum – aber jetzt darf ich mich ihr nicht nahen. Alle solche Hoffnungen sind für mich zu Ende, doch der Traum wird mich stets umschweben.«

»Und wird auch sie Ihrer gedenken? Trauern Sie auch um ihren Schmerz?«

»Ich weiß es nicht. Sie war so jung – ich habe ihr nie gesagt – –«

»Sahen Sie sie zu verschiedenen Malen?«

»Ja, häufig; doch stets in Gegenwart der Lehrerin. Ich mußte wissen, ob dies liebreizende Kind auch eine ebenso schöne Seele hätte.«

»Fanden Sie, was Sie suchten?«

»Urteilen Sie selbst. Dort in der Schule war ein verwachsenes Mädchen, Krankheit und Trübsinn hatten ihre Züge entstellt, sie war fast abschreckend häßlich. Mary, so heißt mein süßer Liebling, schloß das elende Kind in ihr Herz, pflegte sie und sorgte für sie, bis sie wieder lernte sich zu freuen. Sie ging mit ihr spazieren, sie erfand Spiele und Beschäftigungen, welche die Kranke nicht ermüdeten, und entsagte manchem Vergnügen, weil es Sofie nicht teilen konnte. Ich habe selbst gesehen, wie sie von einer Ausfahrt zurückblieb, um Sofie ihren Platz im Wagen zu überlassen.«

»Wie selbstlos,« murmelte Flora, »und wie liebenswert.«

»Vielleicht würde ich die Trennung weniger schwer empfinden,« fuhr Stanhope gedankenvoll fort, »wenn ich gewiß wäre, daß sie in guten Händen ist. Ich fürchte, ihr Los war kein glückliches. Manchmal sah ihr Blick so sorgenvoll aus, daß es mich peinlich berührte bei ihrer sonst so kindlichen Heiterkeit. Was sie beunruhigte, habe ich nie erfahren, aber es quält mich jetzt, weil mir alle Mittel genommen sind ihr beizustehen.«

Flora war aufgesprungen, ihr Antlitz glühte. »Wie heißt sie, Stanhope, sagen Sie es mir!«

»Mary – Mary Evans.«

»Und wo ist ihre Heimat – von wo kam sie?«

»Aus Philadelphia, glaube ich.«

»Sie wissen es nicht bestimmt?«

»Die Lehrerin sagte mir, daß ihres Vaters Briefe meistens von dort kämen; aber der Vater wechselte den Wohnort häufig; Mary hatte keine eigentliche Heimat, so viel ich weiß.«

»Aber Sie können ihren jetzigen Aufenthaltsort erfahren?«

»Durch die Lehrerin, ja.«

»Dann thun Sie es, Stanhope; wenn Sie sich ihrer nicht annehmen können, so will doch ich ihr eine treue Freundin sein – verlassen Sie sich darauf.«

»Ihr Wunsch soll erfüllt werden,« sagte er, im Innersten gerührt durch diese unerwartete Großmut, indem er ihre Hand an seine Lippen zog und mit ehrerbietigem Dank küßte. Zwischen ihnen war jetzt ein neues Band geknüpft, das erkannten sie beide.

*


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