Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreizehntes Kapitel.
Neue Ueberraschungen

»Bewahre,« rief Stanhope, sobald er sich wieder gefaßt hatte, »ich bin nicht verheiratet. Die junge Witwe meines Vaters, von der ich sprach, ist ungefähr in Ihrem Alter. Sie vermag mehr für Sie zu thun als ich. Darf ich Sie zu ihr bringen?«

Er sah ihre Augen glänzen und die Farbe in ihre Wangen zurückkehren und dachte mit bitterm Schmerz an seines Vaters letzten Befehl. Als sie eingewilligt hatte, ihm zu folgen, machte er die Zimmerthür weit auf.

»Ich will dem Hausmeister unser Vorhaben auseinandersetzen, während Sie den Koffer packen,« sagte er. »Sind Sie ihnen noch etwas schuldig, oder ist alles bezahlt?«

»Frau Braun hat sich gestern die Miete auf das nächste Vierteljahr von mir vorausbezahlen lassen.«

»Um so besser. Sie werden Ihres Vaters Bücher und den Apparat doch vorläufig hier lassen wollen. Den Schlüssel zur Wohnung werden wir den Brauns freilich anvertrauen müssen.«

Mary zögerte noch einen Augenblick, sie kämpfte mit ihrem Gewissen; doch zeigte das glückliche Lächeln in ihren Mienen, wie gern sie sich den Anordnungen des Freundes fügte, dem sie von ganzer Seele vertraute.

Als sie in dem hintern Zimmer verschwunden war, schickte Stanhope sich an, den Hausmeister aufzusuchen. Plötzlich stand er jedoch still und lauschte. Er hatte ein Geräusch vernommen, das nicht aus dem Nebenzimmer kam, wo Mary ihre Sachen zusammenpackte; auch war es verschieden von dem leisen Gemurmel, welches aus der Stube jenseits des Ganges zu ihm herüberschallte. Sobald er darauf horchte, verstummte es, doch jetzt begann es von neuem und er zweifelte nicht länger, daß es leise, heimliche Fußtritte waren, die sich von der Hausthür her näherten. Es dauerte lange, bis der Eindringling die kurze Strecke zurückgelegt hatte, so vorsichtig kam er herangeschlichen. Wer konnte es sein, und was suchte er zu dieser Abendstunde hier im Hause? Unwillkürlich dachte er an den pockennarbigen Mann. Vielleicht stand er schon im nächsten Augenblick dem einzigen Menschen gegenüber, der ihn über die wahre Ursache von seines Vaters Tod aufklären konnte.

Jetzt mußte er schon ganz dicht herangekommen sein, denn der Lauscher drinnen konnte ihn atmen hören, und doch trat er nicht ein. Stanhope ertrug die Spannung nicht länger, rasch öffnete er die Thür und blickte hinaus.

Er sah eine Gestalt, die sich ängstlich zurückzog, – aber der pockennarbige Mann war es nicht. Ein bleiches, glattes Gesicht verbarg sich hinter dem breitkrempigen Hut. Unter großen buschigen Brauen schauten ein paar scharfe Augen hervor und die feingeschnittenen Lippen bebten. Der Fremde war in einen losen Mantel gehüllt und sein braungelocktes Haar, das über den Kragen herabhing, zeigte, daß er noch weit jünger sei, als der Ausdruck des Gesichts vermuten ließ.

Wer aber war dieser seltsame Mensch? Stanhope zweifelte nicht, daß es Herr Dalton selbst sein müsse. So verbeugte er sich denn ehrerbietig und war im Begriff, seine Anwesenheit an diesem Ort zu erklären, als jener sich hoch aufrichtete und mit argwöhnischer Stimme, der man jedoch eine große persönliche Erleichterung anhörte, in scharfem Tone rief:

»Wer sind Sie, Herr? Was haben Sie hier in meiner Wohnung zu thun? Wo ist meine Tochter?«

»Wenn Sie Herr Dalton sind, wie ich vermute, so erlauben Sie mir Ihnen zu sagen, daß Ihre Tochter soeben die nötigen Vorbereitungen trifft, um sich auf einige Zeit in den Schutz einer Dame zu begeben, da sie Ihre Rückkehr sobald nicht erwartete. Jetzt wird sie freilich wünschen hier zu bleiben.«

Der Argwohn des alten Mannes schien durch diese Antwort nicht gehoben. Er trat rasch in das Zimmer, und während er die Thüre hinter sich schloß, blickte er sich nach allen Seiten um, wobei er besonders den geschlossenen Vorhang und den großen Koffer ins Auge faßte.

Auch das höchst anziehende Aeußere des wohlgestalteten jungen Mannes, der ihm gegenüberstand, betrachtete er mit bedeutsamen Blicken.

»Wie kommen Sie dazu, sich für diese Angelegenheit zu interessieren?« fragte er scharf.

»Ich habe Fräulein Daltons Bekanntschaft in Bay Ridge gemacht,« lautete Stanhopes Antwort, »doch kam ich nicht hierher, um sie aufzusuchen; ich hatte andere Geschäfte hier im Hause und unser Wiedersehen war ein ganz zufälliges. Da ich im Laufe der Unterhaltung erfuhr, in welcher schwierigen Lage sie sich befand, hielt ich es für meine Pflicht ihr beizustehen.«

Das vertrauenerweckende Wesen des jungen Mannes, sein offener Freimut ließen keinen Zweifel an der Reinheit seiner Absichten aufkommen.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden,« erwiderte Dalton kurz; »aber wie Sie sehen braucht meine Tochter keinen Beschützer mehr. Hier kann sie keine Besuche empfangen, ich empfehle mich Ihnen daher bestens.«

Stanhope verbeugte sich und griff nach seinem Hut. »Entschuldigen Sie mich, bitte, bei Fräulein Evans – Verzeihung,« stammelte er errötend, »unter diesem Namen kannte ich sie in Bay Ridge.«

»Es ist der Name, der ihr gebührt; vergessen Sie, daß sie je einen anderen getragen hat. Sie gehört einem höhern Gesellschaftskreise an und deshalb wünsche ich, daß sie sich Dalton nennt, so lange wir hier unsern Wohnsitz aufschlagen.«

»Für mich wird sie immer Fräulein Evans bleiben,« rief Stanhope.

Der alte Mann ging unruhig hin und her.

»Ich habe Sie nicht nach Ihrem Namen gefragt,« sagte er, »weil die Bekanntschaft auf keine Weise fortgesetzt werden kann; doch möchte ich Sie bitten, falls Sie in hiesiger Stadt wohnen und der Zufall Sie noch einmal mit meiner Tochter zusammenführen sollte, derselben als ein Fremder gegenüber zu treten.«

Höchlich betroffen über diese Zumutung zauderte Stanhope, eine Antwort zu geben. War es denn nicht überhaupt am besten, wenn er Mary nie wiedersah? Sie durften einander nicht angehören; sein Lebensglück war zerstört, aber auch ihr innerer Friede schien gefährdet – das hatte ihm die kurze Zeit ihres beglückenden Beisammenseins deutlich gezeigt. In einer Trennung auf Nimmerwiedersehen lag für sie das einzige Heil. Aber er wagte nicht, das furchtbare Wort auszusprechen und ohne Abschied von ihr zu gehen.

»Ich will thun, was Sie verlangen,« sagte er endlich, dem Alten, der bebend vor ihm stand, fest ins Auge blickend, »nur gestatten Sie mir zuvor, Fräulein Evans mitzuteilen, daß nicht mein Wunsch, sondern ihres Vaters Wille mich zwingt, ihr auf ewig Lebewohl zu sagen.«

»Dessen bedarf es nicht,« rief Dalton, »ich selbst –« er hielt erschreckt inne. Die Zimmerthür öffnete sich und mit dem Freudenruf: »Mein Vater,« kam Mary hereingestürzt und lag an des Alten Brust.

Stanhope warf noch einen wehmütigen Blick auf das geliebte Mädchen: »Ich sehe, Sie bedürfen meiner Dienste nicht länger, Fräulein Evans,« sagte er in gepreßtem Ton. »Wenn ich fort bin, fragen Sie Ihren Vater, warum ich jetzt so plötzlich scheide und weshalb wir uns fortan nur begegnen dürfen, als hätten wir uns nie gekannt.«

Er war im Begriff sich zu entfernen, als ein halb zorniger halb angstvoller Ausruf Daltons ihn auf der Schwelle zurückhielt.

»In die Zeitung eingerückt? Unglückliche, was hast du gethan! Wie lautete die Anzeige, sprich – sage sie mir Wort für Wort.«

Sie vermochte vor Schrecken keinen Laut hervorzubringen.

»Rede,« drängte er, »die Spannung bringt mich um. Welchen Namen hast du genannt – Dalton oder Evans?«

»Dalton, Dalton,« stammelte sie. »Ich wußte nicht, daß ich unrecht that; ich fürchtete, es sei dir ein Leid geschehen – o, sieh mich nicht so an –«

»Sage mir den Wortlaut der Anzeige – das ist alles, was ich wissen will.«

Sie schaute verwirrt und ratlos um sich, das Gedächtnis schien ihr zu versagen; da begegnete sie Stanhopes mitleidsvollem Blick.

»Frage ihn,« flehte sie, »er muß die Anzeige gelesen haben.«

Rasch zog Stanhope das Zeitungsblatt aus der Tasche, welches den bewußten Aufruf enthielt.

Daltons Zorn war verflogen; er las die Zeilen ohne sichtliche Bewegung, nur als er die Narbe erwähnt fand, sah ihn Stanhope die Linke plötzlich krampfhaft schließen.

»Es ist nicht so schlimm, als ich dachte,« beruhigte er seine ängstlich bebende Tochter. »Sage, mein Kind, hat sich niemand nach mir erkundigt während meiner Abwesenheit? Hast du keinen Besuch gehabt?«

Stanhope bezwang sich nicht länger; vielleicht war der Augenblick gekommen, seine eigenen Zweifel zu lösen. »Ein Mann ist hier gewesen,« rief er »und hat sich überall im Zimmer umgesehen. Er hat Blatternarben im Gesicht; sein keckes Benehmen hat Fräulein Evans so sehr erschreckt, daß ich ihr aus diesem Grunde riet, im Hause einer mir befreundeten Dame Schutz und Zuflucht zu suchen. Sie fürchtet, der Mann möchte wiederkommen.«

Dalton schien einer Ohnmacht nahe, er hielt sich nur mühsam aufrecht und blickte angstvoll nach der Thür.

»Wann war das?« stöhnte er; »doch nicht heute?«

»Nein, schon vor einigen Tagen,« erwiderte die Tochter rasch. »Aber gestern war er wieder hier im Hause, ich sah ihn die Treppe hinaufgehen, ich glaube er hat ein Zimmer im oberen Stock gemietet.«

Eine wahnsinnige Angst bemächtigte sich des alten Mannes. »Warum hast du das nicht gleich gesagt!« rief er. »Weißt du nicht, daß er mein Feind ist? Zehn kostbare Minuten sind verloren, in denen ich hätte handeln können.« Jetzt fiel sein Blick auf Stanhope, dessen Gegenwart er ganz vergessen zu haben schien. »Sie müssen entschuldigen,« stammelte er, »aber ich habe allen Grund jenen Mann zu fürchten – glauben Sie, daß mich jemand hat ins Haus kommen hören?«

»Die Brauns vielleicht,« erwiderte Stanhope, »ihre Zimmerthür steht offen und wir haben nicht allzuleise gesprochen.«

»Man muß den Brauns Geld geben, sie sind bestechlich. Hier sind fünf Dollars, zehn, zwanzig – nur damit sie schweigen. – Sie aber, mein Herr, sagten Sie nicht, Sie wollten meine Tochter an einen sicheren Ort bringen? Das ist ein guter Gedanke, ich weise ihn nicht zurück. Können Sie den Plan noch ausführen, so soll meine Tochter rasch zusammenpacken was sie braucht, denn sie darf keine Nacht mehr hierbleiben und ich auch nicht.«

Die plötzliche Wendung der Dinge überraschte Stanhope so sehr, daß er keines Wortes mächtig war. Er verbeugte sich stumm zum Zeichen seiner Einwilligung.

»Wir werden Sie nicht lange warten lassen,« rief der Alte, »bleiben Sie unterdessen als Wächter hier, in fünf Minuten sind wir wieder bei Ihnen.« Er schritt mit der Tochter auf das Hinterzimmer zu.

»Aber,« rief Stanhope, aus seiner Erstarrung erwachend, »wir brauchen einen Wagen, Fräulein Evans' Koffer muß fortgeschafft werden.«

»Ich will für alles sorgen,« erwiderte der Alte, »nur bleiben Sie – erwarten Sie uns hier.«

Mary warf Stanhope noch einen freudestrahlenden Blick zu, dann verschwand sie mit ihrem Vater im Nebenzimmer.

Schon im nächsten Augenblick kam der Alte jedoch zurück, schritt rasch auf die Kiste zu, welche den verborgenen Schatz enthielt, beugte sich nieder, warf die Kleider heraus und verließ gleich darauf ohne Wort und Gruß das Zimmer wieder, einen kleinen Reisesack in der Hand.

Vermittelst einer sinnreichen Vorrichtung hatte sich das Stück Zeug auf dem Boden der Kiste durch einen einzigen Griff in einen Geldsack verwandelt.

Stanhope befand sich in einer schwierigen Lage. Solange er das Mädchen allein und schutzlos wußte, war es seine Pflicht gewesen, ihr zur Seite zu stehen. Doch nun ihr natürlicher Beschützer zurückgekehrt war, lagen die Sachen ganz anders. Daß Herr Evans ihm die Tochter anvertrauen wollte, ohne auch nur nach seinem Namen zu fragen, mußte ihm zum mindesten befremdlich erscheinen, es warf ein noch abenteuerlicheres Licht auf den Vater, der seiner Tochter Wohlfahrt und Glück so rücksichtslos aufs Spiel setzte.

Von solchen und ähnlichen Gedanken beunruhigt, bemerkte Stanhope nicht, wie die Zeit verfloß. Endlich dauerte ihm das Warten doch zu lange; er zog seine Uhr heraus und horchte. Im Nebenzimmer war alles still, nicht einmal Marys leichter Tritt ließ sich vernehmen. Er beschloß, die Uhr in der Hand, noch fünf Minuten zu warten. Bald jedoch bezwang er seine Ungeduld nicht länger; er eilte nach der Thür und klopfte, – als keine Antwort erfolgte trat er ein.

Das Zimmer war leer, die Thür am andern Ende stand offen; sie führte in den Hausgang und von da durch ein Hinterpförtchen auf die Straße. Stanhope erkannte auf der Stelle, daß er nicht weiter zu suchen brauche. Vater und Tochter waren entflohen; wahrscheinlich würde er das geliebte Mädchen niemals wiedersehen – der Traum seines Lebens war vorüber. –

Stanhope war im Begriff den Ort zu verlassen; aber da lag ja noch auf dem Tisch das Geld, welches Dalton dorthin geworfen hatte. Es war bestimmt, die Brauns zum Schweigen zu bewegen. Was würden sie von der plötzlichen Flucht jener beiden denken, die so unmittelbar auf die unerwartete Rückkehr des Vaters gefolgt war? – Der junge Mann hielt es für seine Pflicht, zu einer Verständigung mit den Hausmeistersleuten zu kommen, obgleich ihm diese Aufgabe höchlich zuwider war.

Der alte Schuhflicker, ein weißhaariger, mürrischer Mann, saß in seiner Ecke bei der Arbeit, ohne bei Stanhopes Eintritt auch nur aufzublicken. Desto bereitwilliger ging seine geschwätzige Frau auf alles ein, was von ihr verlangt wurde. Begierig griff sie nach den Banknoten und versprach reinen Mund zu halten über Herrn Daltons Kommen und Gehen. Es sei ganz richtig, daß das schöne Fräulein den Mietszins für das nächste Vierteljahr vorausbezahlt habe; sie werde das Zimmer verschließen, und möchten die Herrschaften zurückkommen oder nicht, sie würden ihr Hab und Gut stets finden, wie sie es verlassen hätten; der junge Herr solle nur ganz ohne Sorge sein.

»Noch eins,« rief Stanhope, ihren Redeschwall unterbrechend: »Hier im Hause wohnt ein Mann, den ich sprechen muß. Ich kann mich nicht auf seinen Namen besinnen; er ist groß und breitschulterig und hat ein Gesicht voll Blatternarben.«

Der Schuhflicker war aufgestanden und öffnete schon den Mund zum Sprechen, aber seine Frau kam ihm zuvor.

»Ein solcher Mensch wohnt hier nicht,« rief sie schnell.

»Daß er vor einigen Tagen hier gewesen ist, weiß ich,« entgegnete Stanhope. »Er hat im obern Stock ein Zimmer bewohnt.«

»Bewahre,« rief die Frau, »nur angesehen hat er's, aber nicht gemietet. Er sagte, es sei zu unsauber und ging wieder.«

»Wie heißt der Mann?«

»Glauben Sie, daß ich jeden, der meine Zimmer ansieht, nach seinem Namen frage?«

»Ich habe eine Schuld an ihn zu zahlen,« fuhr Stanhope fort, »wenn er je wieder kommen sollte – –«

»Die Zimmer waren ihm ja nicht sauber genug, da wird er sich schwerlich noch einmal blicken lassen.«

Bei diesen Worten schaute ihn die Alte mit einem Blick voll so überlegener Schlauheit an, daß Stanhope einsah, er würde ihr nichts entlocken, was sie entschlossen war, zu verschweigen. Nachdem er Frau Braun nochmals eingeschärft hatte, für das Eigentum der Daltons Sorge zu tragen, da es sicher abgeholt werden würde, wenn die Besitzer nicht zurückkehrten, verließ er das Haus, in welchem er innerhalb weniger Stunden soviel Unerwartetes erlebt hatte.

*


 << zurück weiter >>