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Sechszehntes Kapitel.
Von Angesicht zu Angesicht

Der Tag erschien den beiden Frauen endlos lang; Mary bedurfte ihrer ganzen Seelenstärke, um die ihr obliegenden geselligen Pflichten mit äußerer Ruhe zu erfüllen und auch Flora fand die Aufgabe nicht leicht, Kondolenzbesuche zu empfangen und die Würde ihrer Stellung zu behaupten, während ihre Gedanken mit ganz andern Dingen beschäftigt waren. Ihre Eltern kamen zu Tische und Frau Hastings' große Zungenfertigkeit, ihre oft taktlosen Bemerkungen, schienen selbst der Tochter heute unerträglich. Mary war gleich nach aufgehobener Tafel auf ihr Zimmer gegangen, aber Floras Geduldsprobe endete erst, als ihre Mutter endlich der Unterhaltung müde ward, deren Kosten sie fast allein bestritt und sich zum Heimweg rüstete.

Nun saß die junge Witwe, die Hände im Schoß, gedankenvoll in ihrem reizenden Wohngemach, um Mary zu erwarten, die allabendlich hier einige gemütliche Stunden mit ihr zu verplaudern pflegte, bevor sie sich beide zur Ruhe begaben. Noch einmal zog der Auftritt des Morgens vor Floras Seele vorüber; wieder sah sie bei ihrem Eintritt die zwei erregten, bestürzten Gesichter. Warum hatte denn auch er eine solche Gemütsbewegung gezeigt, während er sich bis jetzt der Fremden gegenüber so kühl und gleichgültig verhalten? Es war ein Rätsel, das sie nicht zu lösen vermochte und ihr Verlangen, von Mary darüber Aufschluß zu erhalten, wurde immer dringender. Das junge Mädchen befand sich ja unter ihrem Schutz, war es da nicht Pflicht, ihr mit mütterlichem Rat zur Seite zu stehen? – Flora wartete jedoch vergebens; es war spät geworden, schon verkündete der glockenhelle Ton der Stutzuhr auf dem Kamin die zehnte Stunde und noch immer ließ sich kein Fußtritt vernehmen. Vielleicht war Mary zu schüchtern und verschämt, um zu ihr zu kommen, dann mußte Flora sie selbst aufsuchen. Der Entschluß war kaum gefaßt, so ward er auch ausgeführt und die junge Witwe stieg die Treppe zum Zimmer ihrer Gefährtin hinauf. Als auf ihr Klopfen keine Antwort erfolgte, drückte sie leise auf die Klinke und trat ein. Das Gemach war leer, doch in dem dahinter gelegenen Ankleidezimmer brannte Licht und sie folgte dem Schein. Den Kopf in die Hand gestützt, in tiefes Sinnen verloren, saß Mary an einem kleinen Tisch und wandte sich nicht einmal nach der Eintretenden um, deren weiche Fußbekleidung ihr Nahen fast unhörbar machte. Wie angewurzelt blieb jetzt Flora auf der Schwelle stehen und fragte sich, ob sie wache oder träume. Vor Mary auf dem Tisch lagen ganze Haufen Papiergeld und Münzen in solcher Menge, wie sie Flora, die doch jetzt Tausende zur Verfügung hatte, noch nie beisammen gesehen. Wie kam dies junge Mädchen – ihre bezahlte Gesellschafterin – zu solchem Reichtum? Warum starrte sie den Schatz mit so unbeweglichen Blicken an? Was hatte das alles zu bedeuten? – Neben ihr lag ein offener Sack, der alle die Scheine, die Gold- und Silberstücke enthalten haben mochte. Ratlos und verwirrt stand Flora vor diesem Rätsel da.

Ein tiefer Seufzer aus Marys Brust brach jetzt den Bann, welcher die beiden gefesselt hielt. Rasch trat Flora näher und ihre Gefährtin sah auf. Ueber dem aufgehäuften Schatz begegneten sich ihre Blicke.

»Verzeihen Sie,« sagte Flora mit bleichen Lippen, »Sie haben mein Klopfen nicht gehört.« Ihr Ton war kalt, ihre Haltung würdevoll.

Mary senkte das Haupt und eine tiefe Röte stieg in ihre Wangen. »Ich war in Gedanken,« entgegnete sie. »Dies Geld, das Sie so verwundert betrachten, ist so viel, viel mehr als ich dachte. Ich wußte gar nicht, daß ich so reich sei und bin ordentlich erschrocken.« Mit unsicherer Hand begann sie die einzelnen Geldpakete wieder in den Sack zu legen.

Bestürzt und verwundert sah ihr Flora zu.

»Das Geld ist also Ihr Eigentums« fragte sie ungläubig.

»Gewiß,« lautete die Antwort. »Mein Vater sagte mir, ich solle es gleich auf die Bank bringen, aber ich habe dies Geschäft verschoben, weil ich fürchtete, man möchte es auffallend finden.«

»Aber, wenn Sie so große Summen besitzen, weshalb traten Sie denn bei mir als Gesellschafterin ein? Wünschen Sie durch Ihr Gehalt den Schatz noch zu vermehren?«

»Nein, o nein!« Mary war aufgestanden; sie mochte wohl fühlen, in wie zweifelhaftem Licht sie vor Frau White erschien. »Nicht um des Erwerbes willen bin ich in dieses Haus gekommen, sondern nur –, weil mein Vater mich herbrachte. Er hat mir all dies Geld gegeben, aber warum ich trotzdem hier eine Stelle annehmen sollte – ist mir ebenso unerklärlich wie Ihnen.« Sie senkte den Blick, als vermöchte sie den forschenden Augen, die auf ihr ruhten, nicht Stand zu halten und ein flammendes Rot bedeckte ihre Wangen.

»Denken Sie nichts Böses von mir, Frau White,« flehte sie leise. »Sie haben mir viele Güte erwiesen – wenden Sie sich nicht von mir ab.«

»Ich habe Sie freundlich aufgenommen, weil ich Gefallen an Ihnen fand und Ihnen vertraute,« sagte Flora, ohne sich durch die Bitte rühren zu lassen. »Ich hielt Sie für ein offenherziges und rechtschaffenes junges Mädchen; Sie im Besitz dieses Geldes zu sehen, ist mir befremdlich, denn es paßt nicht zu Ihrer Stellung hier im Hause und ist an und für sich höchst seltsam. Daß Sie selber es nicht zu erklären wissen, macht das Rätsel noch dunkler. Es muß ein Geheimnis über Ihrem Leben schweben. Glauben Sie, daß Frau Delapaine uns vielleicht darüber Aufschluß geben kann?«

»Ich kenne die Dame nicht näher.«

»Ist es möglich? – Aber auf ihre warme Empfehlung hin habe ich Sie ja zu mir genommen. Ist sie vielleicht mit Ihrem Vater genau bekannt?«

»Das kann sein, aber er hat mir gegenüber ihren Namen nie erwähnt.«

»Unbegreiflich! Nun, ich werde Frau Delapaine morgen darum befragen. – Ist denn Ihr Vater ein so reicher Mann, daß er Ihnen solche Summen zur Verfügung stellt?«

»Er ist nicht ohne Vermögen, aber ich glaube, er hat mir fast alles gegeben, was er besitzt. Nein, Sie müssen nicht schlecht von ihm denken,« fuhr die Tochter eifrig fort, da sie Argwohn und Mißtrauen in Frau Whites Mienen zu lesen meinte. »Mein Vater ist ein guter Mensch, Sie dürfen ihm nicht unrecht thun.«

»Vor allem wollen wir den Schatz wieder verwahren,« sagte Flora, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Mit ihrer Hülfe ward der Sack rasch gefüllt und beiseite gelegt; dann nahmen beide einander gegenüber am Tische Platz.

»Am besten wird es sein, Sie bitten Ihren Vater, morgen herzukommen und das Geld wieder an sich zu nehmen, das Ihnen nur zur Last zu sein scheint,« bemerkte Flora.

»Ich selbst werde morgen nicht mehr hier im Hause sein,« war alles, was die arme Mary über die Lippen brachte. Ihrer offenen, arglosen Natur war jede Heimlichkeit ein Greuel. Sie selbst hätte nur allzugern Licht in das Dunkel gebracht, das sie umgab; besonders aber hegte sie jetzt den dringendsten Wunsch, einen Ort zu verlassen, an dem sich für sie die Liebe in Verzweiflung, die Freundschaft in Argwohn verwandelt hatte.

»Sie wollen mich doch nicht verlassen?« fragte Flora betroffen.

»Wie könnte ich noch länger hier bleiben, da ich keine Antwort auf Ihre Fragen weiß, die doch – das kann ich mir nicht verhehlen – nur allzu berechtigt sind. Bin ich auch noch ein Kind in vielen Dingen, so weiß ich doch, was ich mir selbst schuldig bin. Wenn es möglich wäre, ginge ich noch in dieser Stunde.«

Hätte nicht in Floras tiefstem Herzen der Verdacht geschlummert, daß zwischen Stanhope und dem jungen Mädchen eine geheime Beziehung obwalte, sie würde jeden andern Argwohn verscheucht und ihre liebreizende Gefährtin in die Arme geschlossen haben, um sich nimmermehr von ihr zu trennen. Aber jene Vermutung ließ ihr keine Ruhe; sie mußte Gewißheit haben.

»Sie dürfen nicht gehen,« sagte sie, »bevor ich Ihnen die Geschichte erzählt habe, von der ich heute Morgen sprach; vielleicht giebt das unsern Gedanken eine andere Richtung. Wollen Sie mir zuhören?«

»Wenn das, was Sie mir mitteilen wollen, Herrn White betrifft,« stammelte Mary, »so erlassen Sie mir, bitte–«

»Ich habe keinen Namen genannt.«

Das junge Mädchen schluchzte laut auf und barg ihr Gesicht in den Händen. »Ich habe mich verraten,« flüsterte sie nach einer Weile, »aber was thut das? Für mich ist jetzt überhaupt nichts mehr von Wichtigkeit, als dies Haus so schnell wie möglich zu verlassen.«

»Aber mir kann es durchaus nicht gleichgültig sein,« entgegnete Flora abweisend. »Haben Sie eine Neigung zu Stanhope White gefaßt, so bin ich gewissermaßen verantwortlich dafür. Ich hätte Ihnen gleich sagen sollen, daß sein Herz nicht mehr frei ist, denn es ist nur zu natürlich, daß ein so schöner junger Mann wie er, jedes Weib bezaubert. Ich mache mir wirklich Vorwürfe, daß ich Sie nicht gewarnt habe. Allein, Sie sahen einander so wenig, daß ich glaubte –«

»Sie sagen mir nur, was ich schon weiß. Eine Heirat zwischen uns ist unmöglich.«

»Völlig unmöglich. Sie haben ja unser Gespräch gehört. Die eine Frau hat man für ihn bestimmt; er selbst aber liebt eine andere, die er schon gekannt hat, lange ehe Sie hierher kamen.«

»Ich weiß,« murmelte Mary.

Flora hatte ihre Eifersucht bisher mutig bezwungen, jetzt flammte sie mit doppelter Stärke auf.

»Sie wissen es?« rief sie. »Hat er es Ihnen gesagt? Während ich glaubte, ihn wegen seines Mangels an höflicher Rücksicht Ihnen gegenüber entschuldigen zu müssen, haben Sie also geheime Zusammenkünfte gehabt –«

»Nur eine,« fiel ihr Mary ins Wort, »welche Sie unterbrachen.«

Flora sah sie mit ungläubigen Blicken an. »Sie müssen einander viel gesagt haben in der kurzen Unterredung.«

»Genug, um mich zu überzeugen, daß meines Bleibens hier nicht länger ist. Sie sehen, ich bin nicht glücklich, ist das nicht der beste Beweis für den Inhalt unseres Gesprächs?«

Ihr müdes Lächeln, der hoffnungslose Ton ihrer Stimme ließen Flora keinen Zweifel mehr; sie atmete wie erleichtert auf. Von ihrer wilden Furcht befreit, schien sie jetzt ein inniges Mitgefühl für das arme Kind zu ergreifen, das wie sie der Liebe Lust und Leid erfahren hatte.

Sie wollte Mary gerührt an sich ziehen, aber diese wich der Umarmung aus und gab nicht undeutlich zu erkennen, daß sie allein zu sein wünsche. So sah sich denn Flora genötigt, das junge Mädchen sich selbst zu überlassen und vor der Hand auf jede weitere Aussprache zu verzichten.

*


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