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Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Unverhofftes Wiedersehen

Kehren wir nunmehr zu Mary zurück, die wir verließen als sie eben in ihres Vaters früherer Wohnung Zuflucht gesucht und gefunden hatte. Mit klopfendem Herzen stand sie lauschend da, bald hoffend, bald fürchtend, daß Stanhope den Weg zu ihr finden möchte. Sie hörte, wie er draußen die Klingel zog, wie er den Verwalter von seinem Begehr unterrichtete; dann kehrte letzterer zurück und die Hausthür schloß sich wieder. »Jetzt« dachte sie, »wird der Wagen fortfahren,« allein sie vernahm kein Rädergerassel, so scharf sie auch horchte.

Mit einem tiefen Seufzer wandte sie sich hierauf dem fremden Gewerbsmann zu, der sie eingelassen hatte. Sie betrachtete seine gebeugte Gestalt, das dünne, graue Haar, das ihm über die tief gefurchte Stirne fiel, die gebräunten und mit Narben bedeckten Hände, welche jetzt eifrig beschäftigt waren, einen polierten Gegenstand in Seidenpapier zu wickeln. Mehrere Sekunden lang schwiegen beide und kein Laut unterbrach die Stille draußen und drinnen. Plötzlich blickte der alte Mann empor, faßte sie fest ins Auge und flüsterte zärtlich:

»Mary!«

Mit dem Ruf: »Vater, mein Vater!« warf sie sich ihm in die Arme und er hielt sie lange und innig umschlungen. Als sie sich endlich aus der Umarmung löste, waren ihre Wangen thränenfeucht. Sie betrachtete den Greis, der vor ihr stand, mit verwunderten Blicken.

»Es ist mir ein Rätsel!« rief sie. »Bist du es denn, der das Geschäft hier in der Werkstatt betreibt? Du bist mein Vater und doch so verändert, ich würde dich nun und nimmermehr erkannt haben, hättest du mich nicht beim Namen gerufen.«

»Gott sei gedankt dafür!« murmelte er heftig bewegt. »Aber sage mir,« fuhr er fort, als ihre Augen wieder unwillkürlich nach dem Fenster schweiften, »vor wem bist du eigentlich geflohen?«

»Vor Stanhope White,« stammelte sie. »Er liebt mich, aber ich kann ihm nicht angehören. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, hättest du dich meiner nicht angenommen. Aber wie hast du dich nur so verwandeln können? Dein braunes Haar –«

Er errötete vor seinem eigenen Kinde – es war ein schmerzliches Gefühl. »Ich habe es gefärbt, um mich unkenntlich zu machen.«

»Aber auch dein Gesicht ist so ganz anders, so dunkel und sonderbar. Du hast deine Augenbrauen verloren.«

»Nein, Mary, ich habe die Haare einzeln ausgerissen.«

»Unmöglich, Vater.«

»Was thut der Mensch nicht, wenn sein Leben bedroht ist?«

»Droht dir Gefahr von jenem pockennarbigen Manne? Hast du, um ihm zu entfliehen, dein ganzes Selbst verändert? Bist du deshalb ein Handwerker geworden?«

Ihr Vater nickte bejahend, und plötzlich wie ein Blitzstrahl die Dunkelheit erhellt, stand es klar vor Mary's Seele, daß dies die Furcht war, die ihn sein ganzes Leben lang gepeinigt hatte. Solange sie denken konnte, war er bemüht gewesen, einem Verhängnis zu entfliehen, das auf ihn lauerte. Die völlige Umwandlung seines äußeren Menschen war nur ein neuer Versuch, diesen Zweck zu erreichen.

»Aber Vater,« begann sie schüchtern, »warum rufst du nicht die Polizei zu Hilfe, deren Pflicht es doch ist, den friedlichen Bürger zu schützen? Du hast so schwer gelitten und alles geopfert, selbst deine Stellung unter den Menschen, nur um jenes tückischen Feindes willen – muß das denn sein?«

»Du kennst meinen Feind nicht, er ist nicht wie andere Leute, und die Polizei kann mir nicht helfen.«

»Von Kindheit an hast du mir nichts als Liebes und Gutes erwiesen, Vater. Ich habe dich stets geehrt und ehre dich noch. Doch ich weiß und erkenne jetzt, daß du triftige Gründe haben mußt, diesen Kampf allein auszufechten. Wäre es denn aber trotzdem nicht besser, du zögest mich in dein Vertrauen? Ich könnte, sobald ich die Wahrheit weiß, dir nach Kräften beistehen, während ich bei meiner jetzigen Unkenntnis stets Gefahr laufe, in Irrtümer zu geraten, die dir Schaden bringen.«

»Ich kann es dir nicht sagen, – und es würde nichts nützen,« erwiderte er in heftiger Erregung. »Du siehst, ich fürchte jenen Mann, und habe seit Jahren kein Mittel unversucht gelassen, um mich vor ihm zu verbergen. Oefters habe ich den Ort gewechselt, zuweilen auch, wie du weißt, meinen Namen. Das alles hat nicht genügt, ihn von meiner Fährte abzubringen. Auch hier hat er mich endlich aufgespürt und ich sah ein, daß mir nur noch ein Rettungsweg übrig blieb. Ich beschloß, mein altes Selbst aufzugeben, mich völlig unkenntlich zu machen und in einer ganz anderen Lebensstellung offen und frei in die Welt hinauszutreten. Von einem befreundeten Schauspieler hatte ich die Kunst erlernt, mein Aeußeres sowohl als meinen Gesichtsausdruck vollständig umzugestalten. Das ist mir vortrefflich gelungen. Die Nachbarn haben mich nicht wiedererkannt, ja, meine eigene Tochter betrachtet mich mit zweifelnden Blicken, wiewohl ich mich ihr zu erkennen gegeben habe. Für Mechanik war ich von jeher beanlagt, deshalb wählte ich ein technisches Gewerbe. Die Arbeit macht mir Freude und bringt mich auf andere Gedanken. Von dir muß ich mich freilich trennen, Mary, denn dein Geschick darf dem deines Vaters nicht gleichen. Ich lebe in Niedrigkeit, du aber bist jung und schön, deiner wartet ein glückliches, glänzendes Los!« Er drückte ihr einen liebevollen Kuß auf die Stirn.

»O Vater, deine Hände,« rief sie plötzlich erschreckt, »wie furchtbar mußt du sie verbrannt haben!«

»Es galt jene Narbe zu verbergen, mein Kind!«

»Entsetzlich! Armer, lieber Vater! Wie kannst du nur deine Arbeit verrichten mit den verkrüppelten Fingern? – sage mir – und das Modell? – steht es noch immer dort hinter dem Vorhang?« Sie sah ihn so teilnehmend an mit ihren unschuldigen Augen. Gewiß, sie ahnte nichts von der grauenhaften Bedeutung jener todbringenden Maschine.

»Ja,« murmelte er dumpf, »es ist hier und schon deshalb mußte ich in diese Wohnung zurückkehren.«

»Das freut mich,« rief sie, »der Verlust wäre dir schwer geworben.«

Mary war an das Fenster getreten. Hielten denn Stanhopes Pferde noch immer drüben vor der Apotheke? Sie mußte Gewißheit haben. Rasch zog sie den Rollvorhang in die Höhe und sah das Gefährt noch an derselben Stelle. Ihr Vater ergriff sie heftig beim Arm.

»Kind, was thust du?« rief er, sie erschreckt zurückziehend; »vergiß nicht, daß ich Stefan Huse, der Techniker bin. Was sollen die Nachbarn denken, wenn ich so vornehme Damenbesuche bei mir empfange!«

Sie sah ihn bestürzt an, dann blickte sie auf ihr Kleid, das zwar höchst einfach, aber gediegen in Stoff und Schnitt war.

»Vergieb,« bat sie, »ich weiß kaum, was ich beginne, so lange er noch in meiner Nähe weilt. Glaubst du, daß er auf mich wartet? Er wird lange warten müssen – ich habe meinen Vater gefunden.«

»Liebt er dich, Mary, hat er dir seine Hand angetragen?«

»Ja, sehr bald nachdem ich dort ins Haus gekommen war.«

»Und wie steht es mit deinem Herzen? Sage es deinem alten Vater, mein Kind.«

Sie rang einige Augenblicke mit ihrem großen Schmerz dann brach sie in Thränen aus. »Ich liebe ihn so sehr,« rief sie schluchzend, »daß ich nie in die Heirat willigen werde. Wenn mein Entschluß bis jetzt noch nicht feststand, so hat deine heutige Mitteilung allem Schwanken ein Ende gemacht. Mein Platz ist an deiner Seite. Der herrliche, untadelige Mann muß eine würdige Gattin haben! Auch trennt uns seines Vaters Gebot, Herr White hat ihm noch an seinem Todestag befohlen, ein anderes Mädchen zu heiraten. Er kennt sie nicht – hat sie nie gesehen, aber – –«

»Ein anderes Mädchen – Herr White – unmöglich!«

Er rief die Worte in zorniger Erregung und schüttelte ungläubig das Haupt.

»Es ist so wie ich sage,« wiederholte Mary, »sie heißt Nathalie Yelverton und wir müßten in beständiger Furcht schweben, daß –«

»Nathalie Yelverton,« stammelte der Alte, dann schwieg er plötzlich und blickte verwirrt zu Boden. »Mary,« begann er nach einer Weile mit bebender Stimme, »du weißt, wie sehr ich dich liebe; dich glücklich zu sehen – wenn auch nur von ferne – ist mein höchster Wunsch, schon das Bewußtsein genügt mir. Kehre zu deinem Geliebten zurück, fürchte nichts; deiner wartet eine Zukunft voll Glanz und Sonnenschein; noch ehe ein Monat um ist, wird dich Stanhope White als seine Gattin heimführen.«

Mary war tief erschüttert; sie hatte gehofft, der Vater werde ihr beistehen, das schwere Opfer zu bringen. Wenn sie nicht nur gegen ihr eigenes Herz kämpfen mußte, sondern auch gegen des Vaters Willen, fürchtete sie zu unterliegen.

»Sprich nicht so,« flehte sie, »ich brauche Kraft, um meine Schwachheit zu bezwingen und zu thun, was ich als das Rechte erkannt habe. Ich wollte der Versuchung nicht nachgeben, deshalb bin ich entflohen. Laß mich jetzt bei dir bleiben.«

»Aber Kind, siehst du denn nicht, daß das unmöglich ist? Wo könntest du besser aufgehoben sein als bei Frau White? – Oder hast du andere Freunde?«

Sie schüttelte stumm das Haupt.

»Dein Geld ist doch in Sicherheit?« fuhr er fort, »das ist ein fester Halt für jemand, der auf sich selbst angewiesen ist. Nimm es wohl in acht bis zu deiner Heirat. Und, nicht wahr, jetzt darf ich nach einem Wagen schicken, der dich schleunigst wieder heimbringt?«

»Vater,« rief sie und die Verzweiflung gab ihr Kraft, »nichts soll mich dazu bewegen, wenn du mir nicht schwörst, daß auf deiner Vergangenheit kein Flecken ruht, daß Stanhope Whites Ehre nicht leiden würde, wenn er mich zur Gattin wählt.«

Eine furchtbare innere Erregung spiegelte sich in seinen einst anziehenden, jetzt so entstellten Zügen. »Und willst du deinerseits versprechen in die Heirat zu willigen, wenn ich den Schwur leiste?«

Sie hing in atemloser Spannung an seinen Lippen, alles andere war vergessen. »Ja, Vater!«

»Nun denn – vor Gottes Angesicht schwöre ich, daß Stanhope White, könnte er mein Leben überblicken, wohl viel Unglück und Trübsal darin sehen würde, aber nichts, was ihn und dich zu trennen braucht.«

Sie sah ihn glückstrahlend an. »Also ist es keine Schuld, nichts Entehrendes, was dich bedrückt. Gott sei gelobt und gedankt dafür!« In ihrer überströmenden Freude, die kein Zweifel mehr trübte, küßte sie seine narbigen Hände mit Inbrunst.

Bei ihrer Liebkosung schwand der Ausdruck von Hoheit und Würde, mit der er noch eben gesprochen, aus seinen Zügen. Unwillkürlich wich er vor seiner arglosen Tochter zurück. »Du hast meinen Eid gehört,« sagte er, »nun gieb auch du mir dein Versprechen.«

Sie sah ihn mit flehenden Blicken an. »Ich kann nicht,« stammelte sie, »mir ist, als sollte ich ein Unrecht begehen. Erlaß es mir.«

Statt der Antwort schloß er sie in die Arme. »Du brauchst mir nichts zu geloben,« rief er, »ich verlasse mich auf deine Liebe. Der Tag, der euch beide vereinigt, wird der glücklichste meines Lebens sein.«

In ihrem Herzen that sich ein ganzer Himmel voll Friede und Freude auf. »Vater,« rief sie, »du hast gesiegt. Hättest du mir deine Hülfe nicht versagt, vielleicht wäre ich stark genug gewesen –«

»Ja, ja,« fiel er ihr lebhaft ins Wort, »ich will alles auf mich nehmen und schuld sein an deinem Glück. Es macht mich wieder jung, dich so froh zu sehen; fast vergesse ich, daß ich mich auf immer von dir trennen muß. Du wirst mich einst noch für diese Stunde segnen, was du auch sonst von deinem alten Vater denken magst. Und nun zögere nicht länger, wir müssen Abschied von einander nehmen, mein Liebling. Um meinetwillen sei außer Sorge; der Mann, den ich fürchte, ist vor zwei Tagen hier in der Werkstatt gewesen und hat mich nicht erkannt. Lebe wohl, mein Kind, Gottes Segen über dich.«

Sie warf sich heftig in seine Arme. »Und soll ich dich nie wiedersehen? Darf ich dir nicht schreiben oder Nachricht von dir erhalten?«

»Nein, es gilt einem wachsamen Auge zu entgehen, der Verkehr mit dir würde mich verraten.«

»Aber wenn du meiner bedürfen solltest?«

»Dann will ich dir ein Zeichen schicken.« Er schrieb einige verschlungene Buchstaben auf ein Blatt Papier. »Siehst du das auf der letzten Seite des ›Herald‹ bei den Familiennachrichten, so weißt du, daß du hier erwartet wirst. Bis dahin vergiß diesen Ort. Thomas Dalton ist für immer verschwunden und mit Stefan Huse hat Stanhope Whites künftige Gattin nichts zu schaffen.«

Er drückte ihr noch einen letzten Kuß auf die Stirn, dann löste er sich sanft aus ihrer Umarmung und sie eilte fort. Als sie jedoch die Hausthür öffnete und nach dem Wagen hinüberblickte, der noch immer vor der Apotheke hielt, fuhr sie heftig erschreckt wieder zurück.

In dem hell erleuchteten Thorweg drüben standen zwei Männer in eifrigem Gespräch. Der eine war Stanhope und der andere – der Feind ihres Vaters, der Mann mit den Blatternarben, vor dem auch sie Furcht und Grauen empfand. Während sie sich noch voller Entsetzen fragte, was das zu bedeuten hätte und jeden Augenblick erwartete, daß sie herüberkommen und sie entdecken würden, traten jene plötzlich auf die Straße, der Wagen fuhr vor, sie stiegen beide ein, die Thür schloß sich und das Gefährt rollte mit ihnen davon.

Als Mary ihre Fassung wiedergewonnen hatte und kein Geräusch sich mehr vernehmen ließ, hörte sie an ihrer Seite eine Stimme die Worte flüstern: »Ich habe den Hausverwalter nach einem Wagen geschickt, meine Tochter, sage dem Kutscher, er soll so schnell wie möglich fahren. Du mußt noch vor Herrn White wieder daheim sein.«

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