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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Im Ameisenhügel saßen sie beim Kaffee zusammen und redeten von »Winkeln und Weiten«, behaglich und ein wenig altväterisch, wie Käsmodel es gern hatte. Selbst Dederich versäumte sich heute, er mißhandelte seinen Strubbelbart und lachte dabei mit Lippen und Augen, weil er seinen Augentrost wieder anschauen konnte.

Er stellte fest, daß Fräulein Annemarie heute aussehe wie ein Kämpfer, der künftigen Sieges sicher und froh ist, nicht um des Triumphes willen, sondern weil nach dem Siege der Frieden kommt.

Darüber war er noch, als die Kartlmayer draußen Sturm läutete und atemlos an der öffnenden Magd vorüber ins Zimmer rief: »Der Herr Doktor läßt unser Fräulein schön bitten, 's wär dem jungen Herrn oben was zug'stoßen.«

Die Ameisen liefen mit ihren Tassen und Plätzchenresten in der Hand auf den Vorsaal, und Annemarie war schon über die Straße hinüber, da stand die brave Münchnerin noch auf Schäftleins Vorsaal und machte sich als Berichterstatterin nützlich.

»So is g'wesen: Lang hing'schlagen un auf der Dielen is er g'legen un dös Falzmesser zwischen däna Rippe is mitten durchbrochn. Sie meinen holt, daß er hereing'falle is. A so oan sauberes junges Bluet. – Oder, sagt der Herr Fritz, 's hoat'n halt ebbes packt, un er hoat von selbsten hineinfalln wolln.«

Die Böhning, Magdalene Schäftlein und Dederich liefen hinüber, wie sie gingen und standen.

Als sie auf den Helikon kamen, fanden sie alle Türen offen, nur das Zimmer des Studenten war zu, und davor stand Annemarie, auf die Josepha einsprach in leiser, hastiger, von Schluchzen unterbrochener Rede.

Die Böhning erreichte das Ziel zuerst. Mit einem Schwall von Fragen brach sie ein, aber das dicke Fritzchen, das ohne Weste und ohne Schlips auf dem Flur kommandierte, gebot so wütenden Gesichts Ruhe, daß sie wirklich verstummte.

Dann flüsterte Madame, und alle Phrase und Künstlichkeit war in der Erschütterung von der kleinen Französin abgefallen: »Fräulein Birk hat schuld daran, um Fräulein Birks willen wollte er nicht mehr leben.«

Da stieß Kathinka ihre halbgeschlossene Türe weit auf und trat heraus. Entzückend anzusehen – nicht büßende Magdalene, nicht Gretchen im Kerker – mehr Maria Stuart: Stolz, Zorn, Hohn und gekränkte Unschuld in vollendeter Mischung. Die Böhning vergaß Neugierde und Ärger über der Vollkommenheit dieses dramatischen Ausdrucks.

»Ich,« sagte die schöne Thinka, »ich? Es ist leicht, Madame, ein schutzloses Mädchen zu beleidigen.«

»Wir spielen hier nicht Theater, Fräulein Birk,« fiel Fritzchen trocken ein. »Ihr Bild liegt zerschlagen auf dem Schreibtisch, und taubblind sind wir auch nicht gewesen diesen gesegneten Sommer lang.«

Dem dicken Fritz hatte sich Kathinka nie gewachsen gefühlt, sie ließ auch jetzt die Lider über die Augen sinken, damit ihm die nicht doch etwas von dem verrieten, was in ihr zitterte und kämpfte. Er sollte gewiß nicht erfahren, wie ihr zumute war, er am allerwenigsten. Keiner sollte ahnen, daß ihr elend und schmerzhaft zumute war. Sie mußte das überwinden um jeden Preis. Sie wollte sich nicht schuldig fühlen, sie wollte diese Studentendummheit nicht als Last und Schuld durchs Leben schleppen. Ein leichtes Herz wollte sie haben und freie Bahn.

Und nun stellten sich diese Bienen um sie her mit drohendem Gesumm und schoben ihr die Last wieder zu mit ihren Vorwürfen, wenn sie sich ihrer eben mit leidenschaftlicher Mühe entledigt hatte.

Und jetzt schwiegen sie alle, als ob sich gegen des Dichters Meinung überhaupt nichts sagen ließe.

Ein nervöses Zittern befiel Kathinka, sie konnte die vorwurfsvolle Stille nicht ertragen, also redete sie. Ungeduld klang aus ihrer Stimme, und sie machte sie scharf und hart, damit nur keiner das Zittern merke.

»Mein Gott, – ich bin auch weder taub noch blind gewesen diesen Sommer lang: ihr habt euch alle euer Teil Lebensfreude genommen. Und kann ich dafür, wenn der Rinkhart ein ernsthafter Narr ist, ich habe ihn für einen lustigen gehalten. Herstutzen habe ich ihn wollen, wie man so was Grünes herstutzt fürs Leben – wenn er das nicht versteht – wenn er das tragisch nimmt, statt dankbar zu sein. Soll ich mich aufopfern, weil er sein Schulgeld nicht bezahlen will mit ein bißchen Sehnsucht und Liebesschmerz? – Wie kam er denn an? – Gutmütig und selbstbewußt und voll angelernter Weisheitssprüche, die ihm das Leben doch alle erst wieder auswischen mußte. Und kam sich so wichtig vor als Glied seiner hochgelahrten Familie. Dergleichen wirft das Leben leicht über den Haufen. Sie – haben mir allesamt dabei geholfen. Und nun hätte ein netter natürlicher Mensch übrig bleiben können – statt dessen gibt er so überstiegene Geschichten an, die gar nicht mehr in unser Jahrhundert gehören.«

Das Reden tat Kathinka gut, sie beruhigte sich damit; aber nun sprach sie langsam und langsamer, ihr fiel nichts mehr ein, jetzt wartete sie darauf, ob sie nicht einer unterbrechen möchte.

Aber keiner tat ihr den Gefallen, sie waren alle viel zu aufgeregt für ein Wortgefecht. Annemarie hörte gar nicht, was da geredet wurde, sie lauschte angstvoll nach der verschlossenen Tür, hinter der Wendelin und der Arzt mit dem Verletzten beschäftigt waren. Und Dederich sah die schöne Kathinka nicht einmal an, Dederich sah nur wie in Angst und Trauer das liebe Gesicht, das ihm je mehr und mehr das Gesicht der Gesichter wurde, das all seine Sieges- und Friedenshoffnung vor dieser verschlossenen Tür wieder verlor.

Nur Fritz merkte auf jedes Wort und jeden Ton der seltsamen Verteidigungsrede und ertappte sich zu seinem Ärger darauf, daß er den Monolog genoß wie der Anatom eine seltene Naturwidrigkeit.

Kathinka sah und fühlte dies alles, als aber auch keinerlei Antwort kam, nachdem sie zu reden aufgehört hatte, packte sie der nervöse Zorn wieder, und nun strömten ihre Worte schnell dahin in Hast und Leidenschaft: »Es tut mir ja leid – mein Gott, es ist aber doch zu dumm! – Und auch ihr – ihr alle! Philister seid ihr und schlimmer als die vom Schlage Kartlmayer, denn ihr habt euch betrügerisch verkleidet, aber der Gazeflügel macht keinen Schmetterling, aufs Fliegenkönnen kommt's an.«

Jetzt wurde sie unterbrochen. Monsieur, diesmal jeglicher Grandezza bar, kam atemlos die Treppe herauf, hinter ihm drein ein Bursche mit dem Eiseimer. Monsieur lief ohne Gruß durch die aufgescheuchten Bienen nach Rinkharts Tür und klopfte an. Wendelin kam heraus und reichte das Eis hinein; er selber wurde durch Mangolds Fragen festgehalten.

»Nein, nicht unbedingt tödlich.«

»Die Lunge?«

»Gestreift. Auch der Stich war kopflos ausgeführt. Immerhin eine häßliche Wunde, und viel Blut unnütz vergeudet. Ein paar Jugendjahre hat er sich mindestens verpfuscht.«

Dabei sah Wendelin nicht Monsieur an, sondern Annemarie.

Den blonden Kopf vorgeneigt, lauschte Kathinka dem Bericht, dem ersten, der aus dem Zimmer kam, seit der Arzt da war, lauschte mit einer Angst, die sie nicht zugeben, die sie nicht haben wollte, und die sie dennoch schüttelte wie ein Fieberschauer. Als Wendelin schwieg, richtete sie sich mit einem tiefen Atemzug auf und lächelte: »Nun also, nichts weiter, das ist ja schön.«

»Nichts weiter,« rief Monsieur und riß mit der Linken an seinem Knebelbart. »Seine Jugendjahre! – Nichts weiter?«

Kathinka trat wieder auf die Schwelle ihres Zimmers zurück, ihre Schultern zogen sich zusammen wie bei einem Kind, das sich fürchtet. Sowie sie sich dessen aber bewußt wurde, straffte sie sich zu einer hochmütigen Gebärde, und hochmütig klang auch die Stimme, die sie so sicher in der Gewalt hatte. »Sie wollen übertreiben. Sie wünschen, daß ich gehe. Und nicht nur vom Helikon, sondern lieber gleich auf und davon, damit ich die Münchner Butterschäfchen nicht zum Schmelzen bringe. Aber ich will hier auftreten, man hat mir's versprochen, es ist meine Zukunft.«

Über Annemaries Schultern lief der Schlangenschauder, aber es war Mitleid dabei und etwas, das der Reue ähnlich sah: ›Bist du nicht auch hieran schuld? Wenn du ihr gegeben hättest, worum Ferdinand dich im Englischen Garten bat – wenn du Morsach nicht weh getan hättest, wo er dir auf seine Art das Beste bot, was er bieten konnte? – Du hättest dir selber treu bleiben können auch auf andere Art.‹ – Und so sagte sie jetzt schnell und ehrlich: »Unserthalben können Sie ruhig hier bleiben, ich werde meinen Vetter nach Hause bringen. Auf dem Helikon kann er doch nicht gesund werden.«

»Nein! Bitte!« flüsterte Madame und nahm das Tuch, in das sie hineinschluchzte, von den Augen. »Nein, Fräulein Birk, hier können Sie nicht bleiben, ich würde immer daran denken müssen.«

Weiter hörte Annemarie nichts, denn Wendelin sagte ihr leise: »Wir haben telegraphiert, ich erwarte die Eltern.«

Dann machte er die Tür auf, ließ sie hinein und riegelte wieder hinter ihr zu.

Die schöne Kathinka hatte einmal von Neapel aus ein Segelboot benutzt, das der Sturm überfiel. Ein toller Sturm, der das Schifflein tanzen ließ und vorwärtsschießen, steigen und fallen, schwanken und rollen. Damals fürchtete sie sich nicht vorm Ertrinken, wie die anderen, die Gott und alle Heiligen um Errettung anschrien, aber vor der Seekrankheit hatte sie eine qualvolle, kindische Angst – weil die so häßlich machte, so widerwärtig häßlich.

Kein Mensch achtete im Sturm und Kampf jener Fahrt auf das Aussehen seiner Gefährten, und doch fühlte sie tagelang das Schwanken und Grauen nach, und fühlte sich monatelang befleckt und entstellt durch die böse Stunde.

So war ihr jetzt wieder zumute, als sie auf dem Vorsaal des Helikon stand und die Bienen sich von ihr abwandten, wie von einem häßlichen Anblick.

Nicht alle. Nach der ersten Wonne und dem ersten Schrecken über das »schaurige Ereignis« fiel Fräulein Böhning ein, was sie an dieser Schülerin verlieren würde: Ruhm, Gold, Zukunft! – Sie hielt sich alle guten Möglichkeiten mit diesen größten Worten vor, um sich Mut zu machen, und dann ging sie anmutig und würdevoll über den Flur, zog Kathinkas Arm mütterlich schützend an sich und redete leise auf sie ein.

Selbst Fritzchens feine Ohren hörten nichts davon als die Schlußworte: »Kommen Sie getrost zu mir, für Ihr Studium ist das gerade das Rechte, und unser Triumph soll sie alle beschämen.«

In Kathinkas Nerven zitterten noch Sturm und Wellen nach, und sie nahm bereitwillig den gebotenen Hafen an. »Ja,« sagte sie; zu allem »Ja«, und während sich Fräulein Böhning von Bienen und Ameisen schied, weil die Schäftlerin »keinen Tischplatz für Paradiesvögel« zu haben behauptete, klangen in ihr ohne Unterbrechung, gleich einer aufreizenden Melodie, die Worte: ›Ich will eine große Künstlerin werden, ich will sie alle beschämen.‹

Aber für den Helikon war die schöne Kathinka erledigt.


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