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Viertes Kapitel.

Der Münchener Schnellzug pfiff talauf, Annemarie hörte es oben im Berg, und der Senior sagte: »Da fährt er hin. Aber er kommt wieder, Kind, und ich freue mich auf ihn, denn er ist Edelholz und will gute Früchte tragen.« Dann ging er an seinen Schreibtisch, nahm einen dicken Briefumschlag aus dem Dokumentenkasten und schrieb eine Viertelstunde lang mit großen kräftigen Zügen Sätze, die Annemarie nicht zu lesen bekam.

Wendelin war währenddem nicht zumute, als ob er gute Früchte tragen werde. Und wenn er sich auch damit zu trösten versuchte, daß seine Stimmung etwas katzenjämmerlich sei von wegen des nächtlichen Nachschoppens im Ratskeller, so mußte er sich doch auch zugeben, daß er einen ähnlichen Jammer schon auf der Herfahrt verspürt habe ganz ohne Kellergründe. Er sah zum Fenster hinaus, bis das letzte Wahrzeichen der Stadt verschwand: Der Turm, von dem sie sagten, es sei der Finger eines Riesen, der Finger einer verruchten Hand, die aus dem Grabe wachsen mußte, weil sie ihre Mutter geschlagen hatte. Wendelins Denken war dumpf an diesem Morgen: von der Mutter des Riesen glitt es zur Natur, die Annemarie Rügemer der Menschen gütige Mutter genannt hatte. Und dann war ihm, als habe auch er mit verruchter Hand nach dieser Mutter geschlagen und werde nun im Grabe keine Ruhe finden. Denn, wenn er schon eines höheren väterlichen Adels nicht entraten mochte, wie sollte der Erdensohn ohne die Fürsorge und den guten Willen der regsamen Hausmutter Natur auskommen.

Als Wendelin sich seines phantastischen Gedankenspiels bewußt ward, begann er zu pfeifen; ein Mittel, das er zur Herstellung des inneren Gleichgewichts anzuwenden liebte; griff aber gleichzeitig nach seinem zweiten Beruhigungsmittel, der Zigarre.

Doch verfehlten beide, ihn in das behagliche Geleis zu bringen, das er sich wünschte: Arbeitsgedanken kamen ihm nicht, sondern er warf plötzlich das edle Kraut in weitem Bogen zum Fenster hinaus und sagte unwirsch: »Ach was, und sie ist doch ein grausamer, heimtückischer Racker.«

Mutter Natur nahm sich das nicht zu Herzen, sie lachte draußen in prangender Jugendschöne. Hartmut Wendelin aber sah zwei große, vorwurfsvolle Mädchenaugen auf sich gerichtet, und die schönen Augen blendeten ihn so stark, daß er von der übrigen Welt nichts mehr zu sehen vermochte.

Ungesunder Zustand. Aber er würde vorübergehen. Er kannte sich doch, manch eine hatte ihm schon Freude gemacht, manch andere Herzschmerzen, und alles war verflogen vor dem Ernst seiner Arbeit.

Er stand auf, ging den Zug entlang und betrachtete sich »alt und jung, gerad' und krumm«; dabei kam das Lächeln des »alten Herrn« auf seine Lippen.

Vor einem Abteil erster Klasse blieb er stehen. War das nicht das Mädchen aus dem Fliedergarten? Die schöne Kathinka?

Ein Mann in mittleren Jahren, dem man die zerrüttete Gesundheit allzusehr ansah, saß in der Fensterecke, die »Frau Marthe« im elegantesten Reisemantel ihm gegenüber.

Beide waren durch das Gabelfrühstück beschäftigt, das ein Diener ihnen auf dem kleinen Fenstertisch zurechtstellte. Die Tochter saß in der Ecke an der Gangseite, hielt den Kopf fest in die Lehne gedrückt und sah an den Eltern vorbei ins Land hinaus. Vierzehnheiligen lag rot und friedlich drüben am Berg, wie aus einer Spielschachtel geholt.

Gelangweilt wandte sie den Kopf, ganz unwillkürlich und teilnahmlos suchten ihre Augen gegenüber Kloster Banz, das in seiner weißen Zierlichkeit von der grünen Waldhöhe herüberleuchtete. Dabei begegneten sie Hartmut Wendelin.

Ob sie ihn wiedererkannte, oder ob er ihr nur abermals gefiel, war nicht zu entscheiden, aber in den teilnahmlosen Blick kam Leben, und sowie die Augen sprachen, bettelten sie auch wieder und sagten: Komm!

Sie sah ihn an, sah an ihm vorbei ins Tal und sah wieder zu ihm hin. Ein Flimmern und Zittern kam in ihre Augen, das ihm gefiel und mißfiel. ›Man kann nicht sehen ob Tag oder Nacht, gut oder böse hinter diesen Augen zur Herrschaft kommen will.‹

›Noch weiß sie nicht um was sie bittet.‹

›Komm!‹ sagen die flimmernden Augen, ›ich sehne mich!‹

›Außerdem ist's auch noch eine Fopperei, wie bei den Bildern, die einen anzuschauen scheinen, von welcher Stelle aus wir sie auch betrachten mögen. Sie können nicht anders, und doch wirkt der Blick höchst persönlich auf jeden Beschauer.‹

Wendelin lächelte, und von diesem Lächeln gezogen stand die Reizende unwillkürlich auf.

Jetzt sah Wendelin erst wie jung sie war, achtzehn vielleicht; aber es war die Jugend einer Zeit, wo Kinder schon alter Leute Gedanken haben.

›Das ist auch so eine,‹ dachte Wendelin, ›die heimatlos von Ort zu Ort, von Bad zu Bad, von Pension zu Pension den Eitelkeitsmarkt des Lebens bezogen hat und deren arme Seele sich nun nach ihrer oberen Heimat sehnt, ohne daß sie überhaupt weiß, wem diese Sehnsucht gilt. Sie wird suchen und sich verlaufen.‹

Wendelins Stirn bekam eine Falte, einen Herzschlag lang hatte er das Gefühl, als müsse er einen Ertrinkenden packen, ehe er versänke. Und dann lachte er leise auf, denn der Diener trat zurück, und die schöne Kathinka spielte nun eine niedliche kleine Szene, wobei sie die Eltern geschickt als umsorgte Staffage benutzte; eine Szene, die alle Anmut und Beweglichkeit ihrer Glieder und Mienen zeigte, eine Szene, die ganz und gar auf den Zuschauer im Gang berechnet war. Wendelin sah das und freute sich doch daran.

›Talent,‹ dachte er, ›hervorragendes Talent für die Bühne.‹

Als er weiter ging, sah er die wechselnden Züge vor sich und fühlte sich angenehm beschäftigt, bis ihm der Gedanke kam: Annemarie Rügemer könne sich so – da packte ihn der Zorn. Zorn über alle Verlogenheiten des Lebens, auch die kleinen anmutigen, die als bequeme Verkehrsmünze von jedem gebraucht werden, Zorn auf sich selber, daß ihm dies Flirren wohlgetan hatte.

Verstimmt kam er in München an, verstimmt stieg er in seine Tram.

Sonst, wenn er ein paar Tage weggewesen war, freute ihn die Behaglichkeit, mit der das bunte Großstadtleben durch die alten Gassen klingelte, fuhr und schlenderte; sonst lachte er wie ein Neuling, wenn der Schaffner, Buchstaben sparend, am Standbild Schillers: »Schillermoment« abrief, und freute sich, wenn im weiteren Verlauf der Türkenstraße Männlein und Weiblein daherkamen, denen man den intimen Umgang mit einer oder etlichen der Piëridischen Neun, der Musen, schon auf zehn Meter Entfernung ansehen konnte.

Heute ärgerte sich Wendelin an alledem. Das Alter, das ihm in den Weg lief, schien ihm trottelhaft im Vergleich mit dem Alten auf der Höhe des Professorenbergs. Die Jugend deuchte ihn geziert und fade neben der schlichten Ehrlichkeit der unzeitgemäßen Schönheit und der sehr zeitgemäßen flimmernden Reisegefährtin.

Er sprang früher vom Wagen als notwendig, um sich nur bewegen zu können. Vor seiner Haustür zog er die Uhr. Recht so – gerade noch Zeit sich zu erfrischen und dann in den naturwissenschaftlichen Verein zu gehen.

Als er aber oben an seinen Schreibtisch trat, fand er, daß die Sitzung verschoben war.

›Also hättest Du noch bleiben können,‹ dachte er zornig, und sah wie in einem Zauberspiegel den Geheimrat und Annemarie Rügemer beim Abendbrot sitzen: Der letzte Hauch der Abendröte lag auf dem Schreibtisch seines Meisters, und das schöne Mädchen hob die silberne Teekanne, deren eingebuckeltes Traubenornament manch liebes Mal die fröhliche Spottlust seiner Studentenjahre gereizt hatte, ob ihres Widerspruchs von Form und Inhalt.

Als seine Wirtin, vierschrötig behäbig, wie sich's für ein mit Hofbräu aufgezogenes Menschenkind schickt, ins Zimmer trat, knurrte Wendelin ein paar Töne, die nur ein sehr gutmütiges Menschenkind für Guten Tag nehmen konnte.

Aber Frau Kartlmayer war gutmütig, der Gruß genügte ihr, und der Schweige-Komment, der für gewöhnlich zwischen ihr und ihrem »Herrn Doktor« bestand, galt natürlich nicht bei so absonderlichen Gelegenheiten, wie die Heimkehr von einer Vergnügungsreise.

Mit einem Seufzer des Behagens faltete sie ihre Hände auf dem Magen und sprach: »Guat ist's halt, daß der Herr Doktor wieder da san, i hab'n so in der Gewohnheit; un gangen is halt alles wie's gehn soll, nur was die heroben sind, grad was drinn g'sucht habens mit G'spektakel machen, un vorgestern und gestern hats das blaue Fahnderl mit 'm gelben Fleckerln heraußen g'habt, von wegen oaner Festivität, und heut is der Herr Mosjee Mangold drunten g'wen, und hat g'mahnt, wann der Herr Doktor net zu marod' san, so war's recht, un die Herrn Bienen kämen zsamm; un wanns d'n Herrn Doktor net hinließ, so möcht er halt doch amal z'erst aufischaun; der Herr Mosjee Mangold tat Ihne gerne oane Mitteilung machen.«

Die »Herren Bienen« lösten ein Lächeln bei Hartmut Wendelin aus, den »Herrn Mosjee« war er zu sehr gewohnt, um ihn noch zu hören.

Und dann dachte er: ›Das ist das Rechte! Wenn Dich irgend etwas wieder ins Gleis der Vernunft und in die arbeitsfreudige Alteherrenstimmung bringen kann, so ist es der Bienenstock.‹ – Auch konnte er nun seiner rundlichen Hausmeisterin mit Gelassenheit Bescheid für den kommenden Tag sagen.

Diese ehrsame Witfrau hatte sich und ihren unentbehrlichen Hausrat in Küche und Hinterzimmer gedrängt, damit sich »was mei g'studierter Herre is« mit seinen Büchern und etlichen »Giftbüchsen« in den Vorderräumen breiten könne.

Sie hatte es eng, aber es gefiel ihr so, denn was ihr Doktor war, dös woar an Guater, und die Ironie, die ihm für den Hausgebrauch das Donnerwetter ersetzte, mit dem sein Vorgänger die Luft gereinigt hatte, nannte Frau Kartlmayer schmunzelnd: »so liabe kleine Frotzerln.«

Eben als Wendelin die Treppe hinunter gehen wollte, fiel ihm ein, daß Mangolds ihm vielleicht, was sie zu sagen hatten, ganz gern allein und zu Hause vortrügen.

Er sah zum Treppenfenster hinaus nach dem Vorbau des vierten Stocks, wo über einem flachen und einem halbschrägen Dach ein phantastischer Garten errichtet war.

Die blaue Fahne mit Sonne, Mond und allen Sternen – kein star-spangled banner, sondern Monsieur Mangolds durchaus eigene Erfindung, – flatterte hoch, man war also noch zu Hause.

Dort oben hausten die Helikonasten, und trotz der vielen Stiegen war der Helikon eine ebenso beliebte Pension wie der Ameisenhügel, der vor Wendelins Arbeitszimmer über der Gasse drüben, hinter allzeit blanken Scheiben sein Wesen trieb.

Auf dem Helikon besorgte das Scheibenputzen öfter der Regen als die Dienstmagd, denn es gab nur eine für zwei Stockwerke und den ganzen bunten Haushalt, da mußte selber »der dicke Fritz« zugeben, daß nicht alles von ihr zu verlangen sei.

Der dicke Fritz, der täglich einmal auf die Treppen schalt, der jeden dritten des Monats erklärte, über vier Wochen zöge er ganz bestimmt zu den Ameisen, und sich jeden Dreißigsten an seinen Fensterwinkel stellte, von dem aus er die Alpen sehen konnte, oder auch nicht sehen konnte, falls die Luft trübe gelaunt war – um welcher aufregenden Möglichkeit willen er sich von diesem Lugaus nicht zu trennen vermochte.

»Helikon,« sagte er dann, »Helikon! Ihr seid's allesamt nichts wert, Kinder, aber der Name hat mir's angetan.«

Daß sie nichts wert seien, glaubte dem dicken Dichter keiner der Helikonbewohner, am wenigsten der Hausherr selber, der verbummelte Maler, der sich Monsieur nennen ließ, weil er zehn Jahre lang in Paris studiert und sich seine runde lustige Madame Mangold von dort mitgebracht hatte, die so gern Süßigkeiten aß, daß sie wenig Wert auf die Kochkünste ihrer Magd legte.

Maler war Monsieur Mangold schon lange nicht mehr. Das große Atelier seines fünften Stocks diente der Photographie, der »künstlerischen« natürlich. Das Photographieren betrieb er leidenschaftlich, aber er war nur für den ersten Abzug zu haben und Herzenssache waren ihm lediglich solche Bilder, die nicht bezahlt wurden.

Dies Helikonastische Ehepaar hatte eine Tochter, und wenn es ja einmal Zukunftspläne machte, so verheiratete es diese Tochter mit dem »alten Herren«, diesem jungen Mann, der alle die Eigenschaften hatte, die der Familie Mangold fehlten, und doch auch einige von den trefflichen anderen zu haben schien, die sie mit Stolz die Ihrigen nannten.

Augenblicklich konnte man Fräulein Josepha allerdings noch nicht entbehren, denn Fräulein Josepha führte den Haushalt. Zwar führte sie ihn eigentlich nicht, sondern ließ ihn laufen, sie war aber doch immerhin der Jemand, der ihn laufen ließ, und, wenn es durchaus sein mußte, die Zügel auch einmal zu fassen verstand. Sonst war sie allzeit ein wenig verliebt, ein wenig verschwärmt und ein wenig unordentlich. Aber alles Dreies mit Grazie.

Jetzt, als sie auf Wendelins Klingeln die Flurtür öffnete, flog ihr eine leichte Verlegenheitsröte übers Gesicht, die des Besuchers Vermutung bestätigte.

Er schüttelte ihr unbefangen die Hand.

Papa war schon fort – Papa hatte heute den Bienenvorsitz, Großmama hatte sich zurückgezogen, aber – Maman war noch da – Maman hatte Migräne und würde zu Hause bleiben – aber ob Herr Wendelin nicht Maman Guten Abend sagen wolle – manchmal tue ihr eine kleine Ansprache gut.

Dabei öffnete Josepha das Zimmer, dessen Eingang beinah auf die Flurtür stieß. Drinnen war es dann, trotz herabgelassener Vorhänge und des sehr bunten Hausrats, auffallend hübsch.

Geschmack hatten die Mangolds.

Josepha zog auf einen Wink der Mutter den weinroten Vorhang von dem großen Fenster zurück, das nach dem Dachgarten hinaus führte. Es war nur Baumwollenstoff, aber er wirkte magisch, und hinter dem Glas, das er verdeckt hatte, blühte der Frühling mit Veilchen und Narzissen, Anemonen und Azaleen; das Rhododendron breitete sich vornehm und feierlich, Myrten- und Oleanderbäume reckten dicke Knospen in die weiche Abendluft hinaus.

Um dieser wohlgepflegten Blumen willen verzieh Wendelin der Haustochter manches andere, was sich ungepflegt genug darstellte, wie das schöngeschwungene Bücherbort, auf dem nur die Hände der Lesestoff suchenden Helikonasten hie und da etwas vom Staub der Wochen und Monate hinweggriffen.

Madame streckte dem Gast die Rechte entgegen und drückte die Linke an die Schläfe. Josepha huschte hinaus.

Nebenan übten ein Klavier und eine Geige, jedes durchaus auf eigne Hand.

»Qualvoll,« flüsterte Madame Mangold.

»Soll ich Feierabend gebieten?«

»Nein, o nein! Man ist nun einmal der Sklave seiner Abmieter.«

Dann kam ein kleines Schweigen, während dessen sich ein beinah schelmisches Lächeln um Wendelins Lippen stahl.

Endlich sagte er: »Monsieur hat mich rufen lassen. Wissen Sie nicht, meine liebe Madame Mangold, was er von mir gewollt hat?«

»Was soll er gewollt haben,« flüsterte Madame Mangold in den tiefsten Tönen, die ihre kurzen Stimmbänderchen ihr gestatteten. »Das, was nur die Philister haben und doch auch les hommes supérieurs brauchen, das worum Freundschaften entstehen und Freundschaften vergehen, l'amour vient et l'amour passe, was wohl die Ameis zusammen rafft, ein –«

»Helikonast aber nur auszugeben versteht,« fiel Wendelin gutmütig ein. »Wissen Sie etwa, verehrte Hausgenossin, wieviel Monsieur braucht?«

Madame nannte eine bescheidene Summe, die Wendelin ihr sofort einhändigte. Von einem Schein, Rückzahltag, Zinsen oder dergleichen nüchternen Dingen war nicht die Rede zwischen ihnen.

Dieser Leihgebrauch bestand schon seit Jahren. Hatte Mangold eine Einnahme, so kam er fröhlich hinunter und brachte Wendelin sein Geld zurück. Wollte er welches, so blieb er stolz oben und ließ den aus dem Unterhaus hinauf kommen, als ob er ihm eine Gnade durch sein Vertrauen erweise. Über »seine Weiber« schüttelte er den Kopf, wenn ihnen die Sache verlegen war.

Sie hatten doch noch nicht den rechten Höhenstandpunkt: Geld war ein gemeines Ding – Zutrauen war eine kostbare Gabe großer Herzen. Monsieur Mangold beehrte Doktor Wendelin mit seinem Vertrauen. Aber damit sie in Übung und Verständnis kämen, überließ er den Frauen ganz gern einmal die Verhandlung, besonders, wenn noch nicht alle Reste abgezahlt waren.

Wendelin mußte nun noch von seiner Fahrt erzählen, doch hörte Madame nicht recht zu, und fünf Minuten später verabschiedete er sich.

Josepha stand strahlend heiter im Flur und schüttelte ihm die Hand, sie hatte also gehorcht. Auf der Treppe überholte er Thilo Wustrau, einen sehr gelehrten Musiker, der »mit norddeutscher Gründlichkeit der süddeutschen Phantasie den nötigen Knochenbau geben wollte«.

Er war aus Versehen zu den Helikonasten gekommen, die ihn ganz gern wieder los gewesen wären. Aber wo er war, da blieb er, denn vor lauter Gelehrsamkeit fiel ihm nichts Gescheites ein, nicht einmal, daß Junggesellen leicht umziehen haben.

Er teilte Wendelin mit, daß er heute im Bienenkorb eine Kleinigkeit vorlesen wolle. ›Wenn sie dich zu Worte kommen lassen,‹ dachte Wendelin und trat noch einmal in seine Wohnung ein, um sich nicht den ganzen Weg lang über Thilo Wustrau zu moquieren.

Als er drinnen an seinen Schreibtisch trat, lächelte er: »der alte Herr« war wieder zu Hause. Auf einem Umweg schlenderte er dann durch das abendliche Getriebe nach dem Bienenstock und ließ sich in der Kaufinger Straße wie ein echter Nichtstuer von einem gestürzten Droschkengaul festhalten – mochte Wustrau einstweilen die Bienen langweilen.

Die Droschke, die mit dem Pferd zu Fall gekommen war, hatte schwere Havarie erlitten, ein Vorderrad lag gebrochen auf dem Pflaster, schief stauchte sie sich gegen eine festgefahrene Tram, so daß die Insassen über das andere hochstehende Trittbrett herabsteigen mußten. Der Kutscher fluchte, die Zuschauer lachten und schimpften, ein Schutzmann, das Merkbuch in der Hand, schob mit münchnerischer Gelassenheit beiseite, was ihm im Wege stand. Beschädigt schien niemand zu sein, zwei Damen waren schon ausgestiegen, eine dritte Person mühte sich, unzweckmäßig unterstützt, um das Herabkommen.

Wendelin wollte eben weiter schlendern, da bekam er den Blick auf diesen Dritten frei und hielt den Schritt wieder an.

War das nicht der Vater der schönen Kathinka? Der kaum geheilte Mann, der auf der Genesungsreise in die Schweiz sein sollte?

Ja; da standen auch die beiden Damen, und es war der Diener aus dem D-Zug, der sich vorsichtig um seinen Herrn bemühte.

Desto ungeschickter zeigte sich der Zufallshelfer; der kaum Genesene zitterte und erregte sich von Minute zu Minute mehr.

Ohne Überlegung, mit zwei schnellen Schritten, stand Wendelin am Wagen, schob den Ungeschickten beiseite und griff selber zu.

Jetzt ging es. Wendelins ruhige Sicherheit gab dem »wieder für ein paar Jahr Geflickten« das nötige Selbstvertrauen, noch zitternd von der Erregung, aber ungefährdet kam er aufs Pflaster.

Mit kurzem Wort verständigte Wendelin den Schutzmann, daß es sich um einen Kranken handelte, worauf der mit noch nachdrücklicherer Gelassenheit wie vorher die immer wieder andrängende Menge beiseite schob und nach einer neuen Droschke rief.

Wie Wendelin nun aber in dieser Menge verschwinden wollte, hörte er eine klare, biegsame Stimme neben sich sagen: »Frage doch diesen Herrn, Mama; er ist ein Freund Professor Rinkharts, er wird Bescheid wissen.«

Da wandte er sich wieder zurück und sah die beiden Damen vor sich stehen.

»Darf ich Sie bitten, mein Herr,« sagte das Abbild der Marthe Schwertlein mit bekümmerter Stimme.

Er machte eine Verbeugung und stellte sich vor.

»Danke, danke sehr. Wir heißen Birk, Bankier Birk aus Essen – ein schrecklicher Ort, ich habe mich nie da eingewöhnen können, ich bin Wienerin, mein Herr, Sie verstehen. Und seit mein Mann krank ist, sind wir überall und nirgends. Und nun soll er eine Nachkur brauchen – Sie wissen? – Ja, und er ist so nervös. Wir hatten im Deutschen Kaiser schon ausgepackt, aber das Getriebe dort – er wollte nicht bleiben. Nun, auf der Fahrt nach dem Domhotel geschieht uns dies! Ich bin in Verzweiflung. Wir müssen einen Arzt haben. Aber für München hat uns der Medizinalrat keine Direktive gegeben. Sie sind Arzt? – Nein – o, wie schade! Aber Sie können uns den nennen, den der Medizinalrat empfohlen haben würde?«

Wendelin nannte einen Namen und fuhr dann beruhigend fort: »Ich denke, Sie ruhen einen Tag im Hotel und brauchen dann überhaupt keinen Arzt. Da ist die Ersatzdroschke. Erlauben Sie?« – Dabei faßte er den Bankier kurzerhand unter den Armen, hob ihn in den Wagen, und der Mann hatte sich bereits wieder zu einem vernünftigen Dankeschön erholt.

Wendelin trat zurück und zog den Hut. Die Damen überließ er dem Diener. Das gestürzte Pferd war inzwischen auch wieder auf den Beinen, und die Menschen begannen sich zu verlaufen. Ein Lächeln auf den Lippen ging er dem Bienenstock zu.

Kathinka Birk aber dachte: ›So, nun habe ich ihn auch sprechen hören. Seine Stimme ist angenehm, aber es klingt, als wehre er sich gegen etwas. – Gegen mich?‹

Und dann, nach kurzem Nachdenken, ging ein strahlendes Lächeln über das bewegliche Gesicht, und die weichen Lippen sagten unhörbar: ›Nächsten Winter will ich in München sein.‹


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