Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zwölftes Kapitel.

Durch die Ameisenkämmerlein ging ein Rauschen und Raunen: Fräulein Böhnings Paradiesvogel machte Annemarie Rügemer einen Besuch.

Einzig Annemarie Rügemer: die Schäftlerin fand es empörend.

Wiederum sah Fräulein Birk reizend aus und wiederum anders. Das weiche Kleid spielte in allen Regenbogenfarben, und wie das Kleid waren die Augen, auch machte sie ein liebes Kindergesicht, behielt die Klinke in der Hand und fragte: »Darf ich? – Ich darf doch? – wir zwei gehören doch in diesem Bienengesumse zusammen.«

Annemarie dachte, Doktor Wendelin würde die Stirn kraus ziehen, wenn er die schöne Kathinka auf ihrer Schwelle sähe. Und obgleich sie seinen Rat ersehnte und seine Hilfe brauchte, und obgleich sie seiner heute dankbarer gedachte denn je, regte sich doch der Widerstand gegen das Bevormundetwerden, und sie begrüßte den Gast freundlicher als es geschehen wäre, wenn Wendelin Kathinka Birk die Ameisen nicht so geflissentlich ausgeredet hätte.

Freundlicher auch, als ihr ums Herz war, denn beim ersten unverhofften Anblick der wechselvollen Schönen hatte Annemarie ein Gefühl gehabt, jenem kalten Schauer gleich, den sie einst als Kind erlitten, als ihr eine Schlange über den nackten Arm kroch. Eine Blindschleiche nur, aber ein kaltblütiges Geschöpf.

Kathinka empfand nur die Freundlichkeit, huschelte sich in die Sofaecke und sah sich neugierig um. »Ich hab' es doch gleich gesagt, daß Sie lieb sind, obgleich Josepha Mangold Sie für einen Eiszapfen hält. Aber meine Mama, die eigentlich mit wollte, hab' ich doch weggelassen, weil ich Ihrer nicht sicher war, und erobern kann man besser ohne Zeugen. Ja, schauen Sie nur, erobern will ich Sie. Wir zwei sind die einzigen in diesem Tiergarten, die zusammen passen, die einzigen, die sich nicht ums liebe Brot, sondern um die liebe Freude abhaspeln. Und wir haben gemeinsame Bekannte. Wie geht es dem lieben Medizinalrat, der mir meinen guten alten Pa so nett wieder in Ordnung gebracht hat, daß er mich den ganzen Winter lang in München lassen will? Und dem drolligen Doktor Nöhring, der so gestreng tat in allem Medizinischen und dabei so wundervoll verliebte Reden zu führen verstand? Allen Leuten, meine ich, nicht etwa mir als Einzelwesen.«

Kathinka lachte weich und lustig. Annemarie schloß die Augen. Da war der Professorenberg: Ganz deutlich, bis in seine traulichsten Winkel stand er vor ihr mit all seinem Glück und seiner Schönheit und dem Leid, das er ihr zuletzt angetan hatte.

Und sie dachte an Albertine mit einem frischen, schmerzhaften Zorn, wie sie ihn lange nicht mehr gefühlt hatte.

»Jetzt hab' ich Ihnen weh getan,« sagte die schöne Kathinka bekümmert. »So dumm! Nun rede ich nur noch von Helikon und Bienenstock. Aber meine gute Mama freut sich so, daß hier jemand ist, von dem sie weiß, aus welchem Nest er stammt. ›Aus einem Adlernest,‹ sagte sie von Ihnen.«

Annemaries Augen waren wieder offen, und sie fragte: »Ist Ihr Vater mit hier?«

»Nein, der reist mit dem Diener langsam voraus. Morgen wird Mama ihn einholen, und sie werden den Winter zusammen in Wiesbaden bleiben. Ich – wollte nach München.« Und dann erzählte sie hastig, als müsse sie etwas Verräterisches vergessen machen, weshalb sie bleibe, und wie der Lenbach sie mit seinen gewaltigen Augen prüfend angeschaut habe, bis ihr das Blut in die Stirn gestiegen sei vor Angst und Entzücken, und wie er am Ende gesagt: er wolle sie malen; wenn er Zeit habe, werde er nach ihr schicken. »Und also bleib ich.«

Annemarie hörte zu, wie man dem Wipfelrauschen zuhört; auch nachher, als es neckische Helikonschilderungen gab von Notengefechten zwischen Weibezahn und Wustrau, von behaglichen Bosheiten des dicken Fritz und stattlichen Prahlereien Monsieurs. Kathinka Birk hatte das alles mit sicherem Blick erfaßt, nur von der alten Frau, die schweigend unter den Blüten saß, solange die anderen schwatzten, von der einzigen, die klar und deutlich in Annemaries Erinnerung stand, wußte sie nichts.

Von Wendelin redete keine, aber vorm Gehen trat Kathinka rasch ans Fenster und sagte mit merklicher Befriedigung: »Da hinaus sehen Sie? – Nun ja, das ist auch viel schöner als nach der staubigen Straße.«

Und während sie im Bachstelzenschritt die Treppe hinabschwippte, dachte sie: ›Bildschön, aber man merkt's kaum, und mit unserer Kameradschaft wird es nicht viel werden. Und die beiden? Pah – wenn sie acht Tage miteinander gearbeitet haben, werden sie wünschen, es wäre zu Ende; noch nie hat mich der erste Eindruck belogen.‹ Dennoch lag sie am anderen Morgen in der zehnten Stunde auf der Lauer und fühlte Neid, als Annemarie beschwingten Schrittes über die Straße kam.

Diesmal öffnete die Kartlmeyer die Tür: Der Herr Doktor sei im Kolleg. »Er laßt schön grüßen, un Sie möchten sich's komod machen.«

Das tat Annemarie, und als die redefrohe Münchnerin glücklich bei Maßkrug und Strickstrumpf gelandet war, schaute sie sich mit Frauenneugier Wendelins Arbeitszimmer an, als ob sie ihm damit ins Herz sehen könne. Schaute und verglich es mit dem anderen Gelehrtenheim, das ihr so vertraut war.

Anders, ganz anders.

Dort eine heitere Klarheit, Weite und Breite; auch in den Kunstwerken, die den Raum schmückten: Meisterkunst, von Meistern stammend, die schon lange auf unumstrittenen Thronsesseln saßen. – Hier wohl auch Größe, aber in neuen Tönen und Formen, die Annemarie beunruhigten, weil sie ihr fremd waren.

Eine Vase gefiel ihr am besten. Der schlanke, gläserne Schaft, der sich nach Lilien- und Sonnenblumen sehnte, ruhte im Arm einer Frauengestalt, die mit hingebendem Verlangen an dem Glase emporsah.

Annemarie schaute sich forschend um; nirgends war eine Blume zu sehen, auch jede Eingewurzelte fehlte.

›Er braucht nichts Lebendiges,‹ dachte sie und machte sich an die Arbeit.

Nach Elf kam Wendelin heim. Sie hörte seinen schnellen Schritt die Treppe heraufkommen und hörte ihn aufschließen. Ohne Verzug trat er bei ihr ein.

»So, da bin ich! Sind Sie fein brav gewesen allein?«

Sie lächelte und nickte, und dann fragte sie: »Was haben Sie denn gelesen?«

Erst wollte er lachen und ablenken, aber rechtzeitig fiel ihm ein, daß sie das zu Hause natürlich allemal gewußt haben würde. Dennoch zögerte er mit der Antwort, denn er hatte das Gefühl, als greife sie mit dieser Frage nach ihm, und er wollte sich von niemand »greifen« lassen; auch nicht von Hermann Rinkharts Vermächtnis.

Aber es war ihm doch ganz unmöglich, ihr die Antwort zu verweigern.

»Von neun bis zehn las ich über die Tätigkeit der Bewegungsnerven. Von zehn bis elf habe ich meinen Studenten von den mancherlei Märchen erzählt, die im Laufe der Zeit ausgesonnen worden sind, um die Entstehung des Lebens wissenschaftlich zu erklären.«

In Annemaries Augen kam ein tiefer Glanz, das klang so heimatlich.

»Und Ihr eigenes Lebensmärchen?« fragte sie bittend.

»Mir ist noch keins eingefallen,« antwortete er. Dann trat er in die Tür: »Frau Kartlmeyer, ein Frühstück!«

Als es kam, mußte Annemarie mitessen. Sie hatte keinen Hunger, aber es schien ihr ein kleines Festmahl.

Dabei plauderten sie von anderen Dingen.

»Ich hab' mir Ihr Zimmer beschaut,« sagte sie, »das Schönste ist die Vase dort, aber sie macht Unruhe.«

»Weshalb?«

»Es liegt soviel Sehnsucht in ihrer Gebärde.«

»Sehnsucht führt über die Meere zu neuen Erdteilen.«

Annemarie schüttelte den Kopf. »Ein paar Auserwählte vielleicht. Aber die armen anderen? Nein, sehnen dürfte sich niemand, wo ich die Sehnsucht stillen könnte. – Diese arme Vase grämt sich, weil sie ihre Bestimmung nicht erfüllen darf.«

Wendelin lächelte und war am anderen Morgen nahe daran, die Vase mit Herbstzweigen zu füllen. Aber aus einer Art neckhaftem Eigensinn ließ er sie dennoch leer.

Als Annemarie eintrat, galt ihr erster Blick dem schlanken Schaft und wandte sich enttäuscht wieder ab: sie hatte Blumen dort erwartet.

Auch als das Auspacken und Einordnen vorüber war, als Wendelin seine Rinkhart-Arbeit auf dem Bibliothektisch dicht neben dem roten Armsesselchen aufschlug und Annemarie belebend empfand, daß sie ihm wirklich helfen konnte, sah sie noch manchmal in mädchenhafter Neugier und Hoffnung hinüber nach der sehnsüchtigen Bronzegestalt, aber die Vase blieb leer, wie am ersten Tag.

Jetzt hatte sie Wendelin über der Arbeit vergessen, und Annemarie dachte: ›Weshalb sollt' ich ihn wohl beeinflussen, er ist wie er ist, fertig und zufrieden, er merkt gar nicht, wo es ihm fehlt.‹

Und es tat ihr leid, daß sie keine Blumen in sein Zimmer zaubern konnte. Er gab ihr so viel, und sie konnte ihm nichts wiedergeben: Dem Vater hätte sie einfach die Vase gefüllt, wie es ihr gut dünkte.


 << zurück weiter >>