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Zweiundzwanzigstes Kapitel.

›Der Blaubart ist fort,‹ hatte Fräulein Minna gesagt, aber Tante Pinchen wollte ihn am Abend unten vor der Tür gesehen haben, und die Überlegung, was er da suche, gab den Ameisen ein anregendes Thema.

Er war's auch gewesen, wenn schon nicht um als Toggenburg zum Ameisenhügel hinauf zu seufzen, wie eigentlich alle verlangten. In die Helikonhausflur war er getreten und hatte da, mit der Uhr in der Hand, zwei Minuten gewartet. Dann war Kathinka Birk lächelnd die Treppe herabgekommen.

»Pünktlich sind Sie –« Morsach steckte die Uhr in die Tasche.

»Das klingt, als ob Sie nicht eine Minute für mich verwarten würden,« sagte Kathinka. Sie lächelte dazu, aber ihre Augen waren so zärtlich traurig, daß es ihn rührte. Ganz plötzlich legte er seine weichen Hände sanft um ihre Wangen, neigte sich und küßte sie.

Die Hausflur war leer und still. Die Dämmerung, von der man draußen noch wenig spürte, breitete hier schon tiefe Schatten, denn Morsach hatte die Tür geschlossen, durch die sonst eine Laterne tief herein leuchtete. Hinter dieser Tür lärmte die Stadt, ganz oben im Haus übte Weibezahn, davon kamen verlorene geheimnisvolle Töne herab.

Kathinka Birk rührte sich nicht, sie schloß die Augen und ließ Morsach küssen.

»Hast du begriffen, was ich dir schrieb?« fragte er leise.

»Ja. Du bist ja ein Dichter. Ein Satyriker bist Du. Du bist alles.«

Sie sprach leise wie er – es klang beinah wie ehrfürchtige Bewunderung.

»Ein Narr bin ich,« antwortete er und küßte sie wieder.

Und dann noch leiser als vorher: »Kommst Du mit?«

Da sah sie ihn an: groß, fragend und ein wenig unruhig.

»Hast Du mich lieb?«

Er lachte leise. Kathinka fühlte seine Hände an ihren Schultern, dann ließ er sie herabgleiten und zog ihren Arm dicht an sich. So führte er sie hinaus auf die Straße, um die nächste Ecke, und dabei redete er in ihren Nacken hinein, wo die flimmernden Haare das winzige Ohr verdeckten: »Verliebt bin ich in Dich, heillos verliebt.«

›Von heute auf morgen und nimmermehr,‹ dachte sie und redete sich doch etwas anderes ein: ›Wenn du ihn doch einen Tag lang mit all deinen Reizen und Künsten und Zärtlichkeiten umspinnen könntest, bändest du ihn dir fest ans Herz. Einen Tag lang – zwei, drei Tage lang.‹

»Ein Flug ins blaue Land der Träume, ein paar königliche Tage, wie sie die Knechte nicht zu leben verstehn, weil sie vor allem Angst haben, auch vor dem Glück,« klang es ihr leise ins Ohr. »Kommst Du mit?«

»Ja, ich komme,« flüsterte sie schnell.

»Du bist ein lieber Kerl. Der Teufel hole alle Gletscherjungfrauen.« Das klang ganz fröhlich.

»Aber sie ist schön,« sagte Kathinka träumerisch und dachte an Schwinds Jungfrau, die sie am Morgen in der Galerie gesehen hatten, hoch und ragend und vom Abendlicht überglutet.

»Ja,« antwortete er trocken, »schön, kalt und tödlich; ich brauche warmes, lebendiges Leben.«

»Da –« Kathinka schmiegte sich an ihn – »da hast Du es.«

Er nahm's und führte sie in ein kleines Theater, außen und innen weit ab vom Siegfried, er selber dachte mit spöttischem Vergnügen daran, wie weit.

Als er aber Kathinka zurück brachte, fuhr auch drüben der Wagen mit Annemarie und Elsabeth vor. Morsach mußte in das Haus eintreten, um ihnen nicht zu begegnen, und er brauchte seinen ganzen aus Stolz und Hochmut gemischten Kehrmichnichtdran, um das bittere Gefühl zu überwinden, das ihn beim Anblick Annemaries überfiel.

Kathinka, die mit dem Hausschlüssel in der Hand wartend neben ihm stand, sagte plötzlich in zorniger Hast: »Geh nun!«

Draußen rollte der leere Fiaker davon. Einen Augenblick wartete Morsach noch aller Überlegung bar; er wußte gar nicht, wer neben ihm stand. Dann zwang er seine Gedanken zur Ordnung.

»Geh!« bat Kathinka weich und bittend.

Da beugte er sich über sie, küßte ihre Stirn zart und leise, denn er dachte dabei an die andere: »Gute Nacht, auf Morgen.«

»Gute Nacht,« flüsterte die schöne Thinka und huschte die Treppe hinauf, »gute Nacht, gute Nacht, auf morgen.«

Als sie an Wendelins Tür vorbeikam, dachte sie an jenes erste Mal, wo sie auf dieser Treppe gegangen war und in eifersüchtiger Sorge Annemarie Rügemer und Doktor Wendelin nebeneinander gesehen hatte. Da lachte sie leise und fröhlich auf.

›Was für ein Narr bin ich gewesen. Mögen sie miteinander gehen, oder nebeneinander, oder voneinander, was kümmert's mich! Ich habe drei Tage vor mir zum Glücklichsein, drei Tage sind mein – nun will ich sehen, ob ich zur Siegerin geboren bin.‹

Wendelin stand am Fenster, als sie draußen vorbeilief. Er hatte auf den Wagen gewartet, der die drüben nach Hause brachte. Nun waren sie oben, Elsabeths Fenster wurden hell.

›Jedenfalls habe ich nicht mehr gearbeitet, als wenn ich mitgegangen wäre,‹ dachte er, der all seine Weisheit vor dem panischen Schrecken verbraucht hatte. Daheim an seinem Schreibtisch quälte ihn Torheit über Torheit.

Sein Herz grollte Annemarie und bat Annemarie um Verzeihung, zehnmal im Wechsel einer Minute, einen sehr langen Tag lang.

Was dachte, was fürchtete er denn?

Nichts – nichts! – Dies durfte er nicht fürchten.

»Lilien haben ein zäheres Leben als die glühenden Flattergeschöpfe,« sagte er mit einem tiefen Atemzug, als sein Blick die vergessenen Blumen traf, die in der Sehnsuchtsvase verdursteten. Warf die welken Rosen zum Fenster hinaus und gab den weißen Blüten zu trinken.

Aber die symbolische Handlung hatte ihm nichts geholfen. Er wachte unruhvoll in die Nacht hinein, und der starke Duft der sterbenden Blumen benahm ihm den Kopf.

Was er auch denken und sich zurechtlegen wollte, es wurde immer wieder das eine: ›Morgen kommt sie – einmal noch und vielleicht nie wieder; aber die Stunde ist mein.‹ –

Die Stunde kam. Ihm war zumute wie dem Feigling vor der Schlacht, wie dem Angeklagten, der sein Urteil erwartet, wie dem Schiffbrüchigen, der alle Wenn und Aber erwägt, die ihn hätten sicher in den Hafen bringen können. – In fünf Minuten mußte sie dasein.

Draußen klingelte es, die Kartlmayer erhob ein Gerede. Darauf öffnete sie seine Tür und sagte herein: »Das Mädchen von drüben. Un's Fräulein Rügemer läßt sich entschuldigen. Joa woas is döas denn jetz für a Unruh?«

Zorn und Eifersucht flammten in Wendelin auf; mit fliegenden Buchstaben schrieb er auf einen Zettel: »Sie haben kein Pflichtgefühl mehr!« schob ihn in einen Umschlag und gab ihn der Botin.

Dann horchte er, wie die treppab ging, und horchte weiter, als ob er auch das Treppauf drüben hören könne. Ans Fenster trat er nicht.

Da riß es draußen in die Klingel, daß es langatmig über den Flur hinschrillte. ›Schon,‹ dachte Wendelin und spürte den Herzschlag in allen Adern.

Aber es war Monsieur, der ohne zu klopfen ins Zimmer stürmte; sein Hausrock flog, das Briefblatt in seiner Hand schwang er in zornigem Triumph, wie der Indianer des Feindes Skalp.

»Mir Spott!« rief er aus. »Ich war zehn Jahre in Paris.«

Wendelin lachte den Störenfried grimmig an. »Wagt sich der Spott bis zu Ihren Höhen?«

»Bitte,« fiel Mangold ein und machte eine königliche Handbewegung; »Sie haben auch Ihr Teil abbekommen. Man hat Sie den Bohrwurm genannt:

Der Holz zu Mehl zermürbt,
Das ungenießbar bleibt,
Und eh er küßt und trinkt,
Moralsentenzen schreibt.

Auch nicht übel. Nicht wahr? Aber das Tollste ist: sie sind fort!«

»Wer?« fragte Wendelin, der seine Gedanken überm Horchen nach der Treppe mühsam zum Helikon zwang.

»Morsach und unsere Schöne.«

»Phantasie!«

Monsieur schwang noch einmal seinen Zettel. »Da hab' ich die Bestätigung. Fräulein Birk ist freilich gereist, um ein paar Tage in Innsbruck mit Verwandten zusammen zu treffen, und Morsach wurde ja wohl, gegen seinen Willen, drüben hinauskomplimentiert, – was wir auch nicht wüßten ohne die Poesie in meiner Hand, und wir waren ganz harmlose, gläubige Leute; nun aber spielt ihnen der Teufel den Streich. Kathinka ist fort, Josepha räumt auf und findet dabei diesen Zettel. Verse – Morsachs Handschrift – auch meine Tochter gehört zu Evas Geschlecht. Da sind wir ja niedlich abkonterfeit: Die vom Helikon als Motten, die sich für Prachtflügler halten, die Ameisen als kleinliche Pflichtrenner. Den Honig des Bienenstocks nennt man Nahrung für Kinder und bleichsüchtige Backfische. Zum Schluß kommt eine eitelkeitgeschwollene Schilderung vom Leben der Paradiesvögel und der Rat, dies Leben einmal mit ihm zu versuchen. – Die Paradiesvögel sind zusammengeflogen!«

»Lassen Sie sie fliegen, Monsieur, Art sucht Art.«

»Bitte, lieber Doktor, die Dame hat ihre Sachen bei uns. Die Dame will wiederkommen. Ich aber habe Mutter, Weib und Tochter um mich!«

Monsieur erwartete Zustimmung auf diesen feierlich abgetönten Ausruf; als er Wendelin fordernd ansah, merkte er, wie wenig der bei der Sache war. »Ich störe,« sagte er empfindlich, »Sie arbeiten. Wohl dem, der allzeit in einer Luftballonhöhe haust, wo unsere Erdenschwüle nicht mehr hinanreicht. Mir wäre es in den Regionen zu kalt.«

Und mit großen Schritten ging Monsieur wieder treppan, wo mitfühlendere Herzen schlugen. – Die Kartlmayer war schon vorher davon gerannt; ihr Strickzeug lag verloren auf der Schwelle der Bibliothektür.

Sie selber aber stand drüben im Ameisenhügel vor Annemarie und redete auf die ein, alles fein durcheinander, durch seine vielfältige Wiederholung aber verständlich: daß die Herrn Bienen narrisch geworden sein. Und wie das da oben im Helikon zugehe? Und was der Herr Bruder Student dazu sagen werde? Und warum sie nicht mehr komme, wo, was ihr Herr Doktor sei, doch extra schöne Blumen für sie in die Bronzevasen gesteckt habe?

Ja, warum ging sie nicht? Heute gab es kein äußerliches Hindernis, und doch saß Annemarie regungslos auf demselben Platz, an dem sie Wendelins zorniges Briefchen empfangen hatte und rührte sich nicht; auch jetzt noch nicht. Das was die Kartlmayer vom Helikon berichtete, nahm ihr den Atem.

Endlich stand sie auf.

»Jetzt kommt sie!« schrie die Kartlmayer. »Dös is gscheid.«

»Frau Kartlmayer,« sagte Annemarie leise, »wollen Sie mir etwas zuliebe tun?«

Frau Kartlmayer wollte ihr einfach alles zuliebe tun, »selbsten verdursten, woans sein muß.«

Als Annemarie nicht einmal dazu lächelte, wurde die Behäbige bedenklich und sie versprach fast kleinlaut »goanz fest in die Hand«, daß sie keinem etwas von den gefundenen Versen erzählen wolle, noch von dem, was Monsieur deshalb vermutete. – Vielleicht erfuhr dann der junge Herr nichts davon.

Die Schwierigkeit dieser Schweigeaufgabe bedrückte Frau Kartlmayer so, daß sie alles andere vergaß und ohne weiteres Drängen allein wieder gaßüber ging.

Als sie weg war, verschloß Annemarie ihre Tür, die Knie zitterten ihr noch.

›– Es wird nichts helfen – er erfährt es doch – und dann reist er nach, beleidigt Morsach – es kommt zum Zweikampf –‹

Annemarie starrte auf das Stück blauen Sommerhimmels, das durch ihr Fenster hereinleuchtete. Was sollte sie tun? – Doch nicht stillhalten, doch nicht zusehen!

An alle Menschen und alle Zufälle dachte sie, ob sie helfen könnten, an nahe und ferne – selbst eine Bitte an Morsach kam ihr in den Sinn, den Knaben zu schonen. Nur an Wendelin drückte sie sich vorbei, bis es eben doch nicht mehr ging und sein Name auf sie eindrang trotz aller Abwehr, als kämen ihre Gedanken aus einer fremden, stärkeren Seele: Wendelin – – Wendelin könnte Ferdinand hüten, – Wendelin müßte Joachim zu einem tüchtigen Arzt bereden, – Wendelin würde die Eltern durch Nöhring vorbereiten.

›Ach, Wendelin könnte alles, und er täte es auch – nur daß ich ihn nicht bitten will, ihn nicht! Nicht mehr. – Nein, ich kann nicht.‹

Sie drückte den Kopf in die Hände.

›Nein, ich kann nicht, ich kann nicht mehr in dem roten Sesselchen sitzen. Helft euch allein.‹

Sie zerknüllte Wendelins Zettel und trat an das altväterische Schreibpult: auf andere Gedanken kommen!

Aber wie? Da lag Joachims letzte wissenschaftliche Arbeit und Ferdinands vernachlässigtes Nachschreibeheft. Ein Brief Lidas lag da, die Tausenderlei von dem Bruder wissen wollte, »der nie mehr schreibe«, und unter diesen Dingen von heute und gestern Hermann Rinkharts Tagebücher.

Wo sie etwas an Hermann Rinkhart erinnerte, hörte sie auch sein »letztes« Vermächtnis: Wissen und Können und sich doch von dem Herzen regieren lassen. – Alle Torheiten und Irrwege wissen, alle Winkelzüge und Schwachheiten ringsum erkennen können und sich nicht mit kühlem Danebenstehen begnügen.

Es war doch schwerer, als Annemarie im ersten Augenblick gedacht hatte. Auch das Führen eines Zauberstabs will gelernt sein.

Sie griff noch einmal nach Wendelins Zettel, strich ihn glatt und sah grübelnd auf die großen, hastigen Buchstaben. – ›Was würdest du tun, wenn du nur an die anderen dächtest?‹

Annemarie schob die Bücher zusammen und griff nach ihrem Hut: ›Wendelin bitten, daß er uns hülfe.‹

Ohne sich noch einmal zu besinnen, ging sie hinüber.

Wendelin hatte sie nicht mehr erwartet. Als sie eintrat, sprang er auf und starrte sie finster an.

Sie blieb an der Türe stehen, wie jemand, der auf der Flucht ist, und sagte ohne Gruß und Einleitung: »Ich komme nicht Ihrer Arbeit wegen, ich möchte Sie um etwas bitten.«

Das Blut stieg ihm ins Gesicht, sie dachte aus Ärger über das, was er für Eigensinn halten mußte. Aber er sagte sehr schnell: »Ich habe auch eine Bitte. Lassen Sie mir das Vorwort. – Um unsrer guten Winterfreundschaft willen: sagen Sie mir, was Sie so veränderte! Hat Morsach Sie so umgeworfen?«

Jetzt glühte ihr Gesicht.

»Mein Gott,« fuhr er heftig fort. »Lassen Sie uns doch ruhig davon reden. Gestern schienen Sie fertig damit zu sein. Ich – ich muß wissen, wie es steht. Grämt Sie seine Abreise so? Soll ich ihn wiederholen?«

Annemarie zürnte ihm wegen dieser Frage und war doch froh, daß sie getan worden war.

»Deshalb komme ich,« sagte sie hastig, »Sie müssen ihm helfen.«

»Morsach?« fragte Wendelin fassungslos.

»Ach, Morsach – Ferdinand!«

›Da liegt's?‹ dachte Wendelin zornig. ›Ferry, der Knabe! Unreif und flüchtig und jedem äußeren Einfluß preisgegeben, dem wirft sie ihr Herz nach.‹

Aber nun redete Annemarie, und solange sie von den anderen sprach, konnte sie Wendelin voll und ehrlich in die Augen sehen und zutraulich wie in den ersten Tagen klang ihr Schlußwort: »Helfen Sie unserm Jungen.«

›Unser Junge‹ – wie warm ihm das machte. Das Antworten vergaß er über der Freude an diesem unbewußten Wort, und als sie mit leisem Drängen wieder begann, antwortete der frohgelassene alte Herr: »Das ist aber wirklich nichts zum Haarsträuben und Gänsehautkriegen.«

Alle Schmerzen, die diese Gelassenheit Annemarie schon bereitet hatte, wurden in diesem Augenblick lebendig, und sie rief mit sechzehnjährigem Ungestüm: »Ich wäre gewiß nicht gekommen, wenn ich gewußt hätte, wie viel kaltherzige Selbstsucht in Ihnen ist!«

Auch das tat ihm gut.

»Fräulein Annemarie,« sagte er herzlich. »Wir sind doch keine Kinder, die sich zanken müssen, wenn ihnen angst ist. Wollen wir nicht lieber zwei Soldaten sein, die sich im Lebenskampf helfen, so gut es geht?«

Der Schein eines Lächelns ging über ihr Gesicht. »Ich glaube, ich möchte mich ganz gern einmal zanken.«

Jetzt lächelte auch Wendelin.

»Der Versuch läßt sich machen. Vorher aber wollen wir von Ferdinand reden, der, wennschon ein Knabe, so doch hoffentlich von dem Holze ist, aus dem Männer wachsen. Ich verspreche Ihnen, mich seiner Herzensnöte anzunehmen, obgleich wir über den schönen Schmetterling schon einmal aneinander geraten sind. Ich wollte damals, als der Paroxysmus begann, den Eckart machen, er aber schien zu denken, er sei meinen Gefühlen im Wege. Da dacht' ich denn: Tobe dich aus, mein Junge, ist der Krankheitsstoff verzehrt, verliert sich das Fieber von selber. Und wenn er jetzt angesichts dieses nicht zur Vernunft kommt, wird er auch auf anderer Leute Vernunft schwerlich hören. Was nun den romantischen Teil Ihrer Furcht betrifft – glauben Sie mir, Morsach nimmt weder das Mädchen noch den Nebenbuhler ernst und würde hier ein Duell mit glatter Überlegenheit zu vermeiden wissen. Aber Sie sollen Ihre Beruhigung haben, ich werde den törichten Studenten in den nächsten Tagen zu überwachen suchen.«

»Wie soll ich nun zanken?« sagte Annemarie.

»Ich glaube, das tut Ihnen wirklich leid. Aber es kann ja noch werden. Ich habe auch allerlei Zunder dazu bereit liegen.«

»Sie?« Annemarie kroch wieder in ihr Schneckenhaus.

»Ja!« rief er, und das Blut stieg ihm jäh bis in die Stirn. »Was will Joachim hier?«

Einen Augenblick zögerte Annemarie, dann sagte sie leise: »Das war das andere, worum ich Sie bitten wollte. Es ist Verrat, aber ich weiß mir nicht zu helfen.«

»Das?« rief Wendelin, als sie gesprochen hatte. »Ihnen hat er aufgebürdet, was ihm zu schwer war.«

»Deshalb schiebe ich es ja auf Ihre Schultern,« fiel sie bittend ein. »Seien Sie gut mit Joachim. Helfen Sie ihm – ich – kann es nicht.«

Da faßte Wendelin nach ihrer Hand. Aber nun sie ihm all das ausgeliefert, was sie breit und schützend eingehüllt hatte und nichts mehr in ihrem Herzen war als ihre Liebe, fühlte sie wieder, daß sie etwas vor ihm verbergen mußte.

»Nun will ich gehen,« sagte sie und griff mit der Hand, nach der Wendelin die seine ausstreckte, nach der Tür, von der sie all die Zeit über nicht gewichen war.

Verwirrt sah Wendelin sie an. »Gehen? – Jetzt – nach alledem? Und wir – unsere Arbeit – unsere –«

»Nein, nein! Nicht heute. Haben Sie Gedanken dafür? Und Zeit? Sie wollen zu Ferdinand. Sie wollen zu Joachim. Muß das Buch nicht warten, wenn das Leben drängt?«

»Gut,« sagte er langsam, »warten wir, weil die anderen nicht warten können. Aber,« und nun überstürzten sich plötzlich die Worte, »Sie vergessen das Buch nicht über dem Leben, Sie kommen wieder! Ich habe Ihr Wort.«

»Ich komme, sowie ich kann!« Und jetzt gab sie ihm die Hand zu einem festen Versprechen.

Gleich darauf war Wendelin wieder allein und stand in einem schwindligen unklaren Gefühl da, als seien ihm von einem Trunk alle Gedanken verwirrt.

Wie war es denn nun mit ihm? Eilte sie so um Ferdinands oder um ihrer selbst willen? War auch er nur irgend ein Mann wie Morsach, dessen Liebe sie beleidigen würde, oder war er der Helfer, den sie dem Hilflosesten vor allem gönnte?

Selber hilflos, strich er sich über die Stirn: ›aber der vor dir steht, ist dir unter schillernden Schleiern verborgen.‹

So ist's und nicht nur bei den anderen.

Da schob Wendelin alle Quergedanken beiseite und ging treppauf, um sich Ferdinand Rinkhart zu einem Gang ins Laboratorium zu holen.


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