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Neunzehntes Kapitel.

Annemarie tat der Kampf mit dem Wetter gut, sie mußte ihre Kräfte brauchen und fühlte dabei, daß sie noch welche hatte.

Im Ameisenhügel ging sie gleich in ihr Zimmer, tat den Hut ab, zog trockene Kleider an; alles hastig, als erwarte sie jemand. Dann suchte sie nach der Magd, weil ihr vor der Einsamkeit graute. – ›Ich kann mir ja Tee bestellen,‹ dachte sie, fand aber niemand. Die Gewitterfurcht hatte das Mädchen zu einer Nachbarin getrieben.

Annemarie ging ins Wohnzimmer. Sie wollte auf die Straße sehen, sehen, daß die Leute sich dort gebärdeten wie andere Tage auch.

Als sie die Tür öffnete, riß ihr ein Luftstrom die Klinke aus der Hand und warf den Flügel wieder ins Schloß.

Von dem offenen Fenster, aus dem er in den Wetterlärm hinausgeschaut hatte, wandte sich ihr ein Mann zu und sagte: »Endlich!«

Fassungslos sah sie ihn an. »Du, Joachim? Wie kommst Du hierher? Was ist geschehen?«

Er schloß das Fenster und kam auf sie zu.

»So heißest Du mich willkommen? Hast Du mich nicht erwartet?«

»Nein.«

»Ich hatte Ferry geschrieben, daß er mir für heute hier Wohnung bestellen solle.«

Sie schüttelte den Kopf. »Es ist hüben und drüben alles besetzt, und Ferry – wird es vergessen haben. Aber wie bist Du hereingekommen? Du bist ganz allein in der Wohnung.«

»Ich gab meine Karte ab und sagte, man erwarte mich. So wird wohl der Name hier den rechten Klang gehabt haben.«

Auch das Gleichgültigste, was Joachim sagte, klang bitter. Annemarie war's wirr und wunderlich zumute. Alles, was sie heute erlebte, schien ihr unwirklich: der heiße Sommerwald, ihre Fahrt durch das tosende Wetter, daß Joachim hier war, der letzte Mensch, den ihre Gedanken gesucht hätten – und dazwischen die unruhige Erwartung dessen, warum er da war. – ›Ich träume ja nur!‹

Gleich darauf schüttelte sie das ab: ›Träumst Du, so träume recht. Joachim sieht krank aus.‹

»Setz Dich doch,« sagte sie freundlich. »Hast Du zu Mittag gegessen? Hast Du Dein Gepäck bei Dir?«

Er lachte und fuhr sich ungeduldig durchs Haar.

»O Weib! – Bist auch so wie die Mutter, die allemal zuerst an Küche und Seiflappen denkt.«

»Es ist jedenfalls besser, als an gar nichts denken,« antwortete Annemarie tapfer.

»Ja,« sagte Joachim traurig, »und wie meinst Du, daß einem zumute ist, der nicht mehr denken kann? Oder der nur noch einen Gedanken hat, den manchmal ein zweiter ablöst; aber der zweite ist noch schmerzhafter als der erste, und so kommen und gehen die beiden, einer um den anderen, und werden immer grausamer und immer qualvoller. Aber das verstehst Du ja nicht.«

Annemarie sah gerade aus an ihm vorbei in die Regenflut; ihre Lippen zuckten vor Weh, und mit diesen zuckenden Lippen sagte sie: »O ja, ich verstehe es wohl. Seit ich mit offenen Augen ins Leben hinein gesehen habe, sind auch mir solche Gedanken gekommen, die quälen und sich nicht verscheuchen lassen: Reuegedanken, Sehnsuchtsgedanken –«

»Annemarie!« rief Joachim und griff mit beiden Händen nach ihrer Rechten. »Liebe Annemarie! – Du auch? – O Barmherzigkeit! Ich hab' nicht reden wollen, um Dich nicht zu verstören, aber Du bist es ja schon. O Du! Du Liebes, Geliebtes! Du Gottgeschenk, Du Trosteinsamkeit! – Du auch – wir haben uns beide verlaufen, wir hätten beide auf unserem Berg bleiben sollen.«

Er legte sanft seinen Arm um sie, drückte ihren Kopf an seine Brust, und seine Lippen auf ihr Haar.

Einen Augenblick hielt sie fassungslos still, dann machte sie sich von seinem Arme frei, und er sah an ihrem verwunderten Blick, daß sie ihn nicht verstand, und daß er sie mißverstanden hatte.

Da packte ihn der Zorn – über sie, über sich selber. – An was hatte sie denn gedacht, wenn nicht daran? Nach was sehnte sie sich denn, wenn nicht nach ihm? Nur nicht zugeben wollte sie es in feiger Scham.

»Wo ist Deine Ehrlichkeit, Annemarie,« sagte er heftig. »Du sprichst von offenen Augen und willst nicht einmal wissen, daß Du mich liebst? – Schweig! Lüge nicht! Rede nicht dagegen: Du liebst mich! Diese Gewißheit lag in mir wie eine tröstliche Hoffnung, sie hat mein leidiges Leben erträglich gemacht – bis es doch unerträglich wurde.«

Annemarie sah Joachim entsetzt an. »Ich liebte Dich?« stammelte sie.

»Du liebst mich, wie ich Dich liebe. Das hat all die Frühlingsjahre in uns verborgen gelegen; ich – ich weiß es seit vorigem Sommer. Zu spät, und doch noch früh genug für einen letzten, wärmenden Sonnenstrahl. Ich habe mich gequält und habe damit fertig werden wollen; aber das ist ja Torheit, es ist nur immer gewaltiger empor gewachsen, je mehr ich's zu Boden drückte, und der Durst ist unerträglich geworden in meiner Dürre. Dennoch würde ich in meinem Käfig geblieben sein, wenn nicht die andere Erkenntnis gekommen wäre. – Eine Henkersmahlzeit wird dem ärgsten Verbrecher zugestanden. Seit ich – aber das kümmert uns ja nicht – heute noch nicht – uns kümmert nur, daß wir uns lieben.«

»Ich liebte Dich?« – Annemarie rührte sich nicht; als habe ihr ein Zauber die Glieder gebunden, stand sie da. Mit flackerndem Licht fuhren draußen die Blitze nieder, wild rannten die Donner hinter ihnen drein, Annemaries Nerven zitterten. »Ich liebte Dich?«

Joachim schwieg und wartete; sie starrte ihn an, sah seine fiebernden Augen, sah das blasse Gesicht mit den tiefen Schatten, sah den schmerzlich bebenden Mund.

›So litt er um dich,‹ dachte sie. Aber es war nicht mehr Joachim Rinkhart, den sie sah, Wendelin war's, der vor ihr stand. Wendelin streckte seine Arme nach ihr aus, Wendelin sprach: ›Ich liebe dich, und du liebst mich.‹

Und dann war auf einmal ein Jubel in ihr und eine Erlösung, als wären Ketten von ihrer Seele gefallen. ›Ich liebe dich, und du liebst mich!‹ Mit dem Geliebten sah sie sich, wie sie die beiden am Libellentümpel gesehen hatte; Wendelins Lippen fühlte sie auf Stirn und Wange, wie sie Morsach gefühlt, und nichts war mehr häßlich, nichts war Trunk und Rausch, alles Schönheit und Gottesgabe. ›Ich liebe dich, und du liebst mich.‹ Das war die Glorie, die das Irdische zu Himmlischem verklärte.

Annemarie hob Wendelin die Arme entgegen, Joachim faßte ihre Hände mit leidenschaftlicher Zärtlichkeit und zog sie an sich.

Da hörte sie ein kurzes scharfes Klingeln, schreckte zusammen und erwachte.

Vor ihr stand nicht der Geliebte ihres Herzens, ihr kranker Bruder stand dort, dem sie mit ihrer Gesundheit helfen mußte. Das Brausen ihres Blutes verstummte, sie hörte die Straßenbahn unten vorüber fahren und den Hund im Nachbarhof heulen; sie sah der Schäftlerin vergessenen Handschuh und Käsmodels Zigarrenreste im bunten Aschenbecher. Und als der nächste Blitzstrahl Joachims Gesicht grell beleuchtete, sah sie zwei begehrliche Männeraugen, deren Liebe um keinen Schatten anders aussah als die, vor der sie geflohen war. – Und war doch auch in ihrer reinen Bergluft aufgewachsen.

Ihre Unsicherheit hatte ein Ende, sie machte ihre Hände frei; er wollte auffahren, aber ihre Ruhe gab ihr Gewalt über den erregten Mann.

»Nein, Joachim,« sagte sie langsam, »ich liebe Dich nicht, und Du liebst mich auch nicht. Du hast Dich mit Albertinen verärgert, da denkst Du an unsere Ferientage auf dem Professorenberg und vergißt, daß man den Alltag nicht am Feiertag messen darf. Laß uns diese letzte Viertelstunde vergessen. Du siehst überarbeitet aus, dazu hat Dir das Wetter die Nerven in Aufruhr gebracht. – Setz' Dich, Achim. Ich will sehen, wer geklingelt hat, und dann erzählst Du mir, wie Du nach München kommst.«

Sie hörte ihn lachen, als sie aus dem Zimmer ging, es klang häßlich und schmerzhaft, aber sie ließ sich nicht irre machen. Sie ging nach der Flurtür und sah hinaus. Da war niemand mehr, aber ganz unten in der Hausflur ging einer.

›Es klingt wie Wendelin,‹ dachte Annemarie, und wollte rufen. Aber das war ja ganz unmöglich.

›Denk ich an ihn, weil ich möchte, er wäre da und hülfe mir?‹

Plötzlich, wie sie sich vorstellte, er wäre da, stieg ihr das Blut heiß in die Wangen. Wie sollte sie ihm in die Augen sehen, nach der Erkenntnis der letzten Stunde? Hastig schloß sie die Tür und ging in die Küche.

Als sie zehn Minuten später mit Selters und Mosel, Zwieback und Erdbeeren zurückkam, saß Joachim in sich zusammengesunken im Armsessel.

›Er ist krank, das Fieber hat aus ihm geredet,‹ dachte sie und verzieh ihm alles.

Sie schenkte ein und schob ihm die Beeren zur Hand. Dabei erzählte sie, wo die anderen waren.

Wo Wendelin sei, fragte er mitten in ihren Bericht.

»Bei den anderen,« antwortete Annemarie. Mißtrauisch horchte Joachim auf den Ton ihrer Stimme. So beherrscht sie geklungen hatte, irgend etwas beunruhigte ihn. Er spürte den Feind und plötzlich sagte er leidenschaftlich: »Denke nur nicht, daß Du noch fürder Tag für Tag Wendelin opfern darfst. Jetzt brauche ich Dich, ich!«

»Ihr braucht mich nicht, und ich – bleibe in München.«

»Ich bleibe auch.«

Mit fassungslosem Schrecken sah sie ihn an.

»Ja, ich bleibe. Sei vernünftig, Annemarie, sei barmherzig! Sterbenden schlägt man nichts ab. – Ich rede nicht im Fieber, mit mir ist's vorbei. Als Sohn des Arztes schöpfte ich Argwohn, ein Kollege hat meine Vermutung bestätigt. Und ich gehe nicht zurück, ich kann nicht unter Albertinens Augen sterben. Ihr Ehrgeiz hat mich müde gehetzt, ihr Hochmut hat mich erfrieren lassen. Ich bin ein Baum, der seine Äste frei im Frühlingswind wiegen will, sie hat mich mit der Schere ihrer Meinungen und Redensarten zum Krüppel gestutzt, so daß ich weder Kraft noch Willen mehr habe, gegen die Krankheit anzukämpfen.«

Die dumpfe Klage griff Annemarie ans Herz. Sie sah Joachim, wie er in strahlender Glückshoffnung an seinem Hochzeitstag von ihr Abschied genommen hatte, und sah daneben den gebrochenen Mann im Lehnstuhl sitzen, der mit verhaltenem Groll vom Elend seiner Ehe sprach.

Und sie glaubte ihm alles, denn sie hatte die erbarmungslose Willenskraft seiner Frau gespürt. Damit hatte Albertine sie aus der Heimat vertrieben, wie sie sich jetzt den Mann von Herd und Herzen vertrieb.

›Strafe der Gerechtigkeit,‹ dachte Annemarie, und ein leidenschaftliches Haß- und Triumphgefühl flammte in ihr auf; ihre Hand ballte sich fest zusammen, als wolle sie etwas erwürgen.

Einen Atemzug lang, dann erschrak sie vor sich selber. War sie das gewesen? Hatte sie Albertinen Vergeltung und Reue und alles Leid dieser Erde gewünscht?

Annemarie stöhnte auf und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Du liebst mich nicht, und Dir tut mein Schicksal weh,« sagte Joachim leise. »Albertine behauptet mich zu lieben, und erwürgt mich durch ihre Verständnislosigkeit. Aber ich ertrage sie nicht mehr. Im Leben hat sie mich bezwungen, sterben will ich im Schutz deines Friedens.«

Annemarie ließ die Hände sinken, jetzt war sie wieder mit allen Gedanken bei Joachim und suchte ihn mit sanfter Vernunft zu beeinflussen. Denn seine zwiefache Not weckte alle mütterlichen Instinkte ihrer Natur.

Sie ging mit ihm in die Stadt, mietete ihm ein Zimmer, ließ seinen Koffer vom Bahnhof holen. Sie aß mit ihm, damit er esse, und packte ihm das Notwendige aus, wie sie es einst daheim dem Studenten getan hatte. Beim Abschied mußte er ihr in die Hand versprechen, daß er gleich zu Bett gehen werde mit dem guten Willen zum Schlaf.

Joachim tat alles und versprach alles, denn ihre Sorgsamkeit weckte eine leise süße Hoffnung in ihm.

Als Annemarie heimkehrend die Flurtür des Ameisenhügels öffnete, drang ihr Gelächter und Fröhlichkeit entgegen. Aber sie entkam ungesehen in ihr Zimmer, schloß hinter sich ab und lehnte sich atemlos, mit zitternden Knieen gegen den Türpfosten. Nun sie keine Tapferkeit mehr für andere brauchte, drangen alle Schrecken dieses Nachmittags wieder auf sie ein.

Jetzt fürchtete sie sich. Fürchtete sich vor den Menschen und fürchtete sich vor der Einsamkeit. Fürchtete sich vorm Denken und fürchtete sich vor dem Unbestimmten, Ungeheuerlichen, das in ihr lauerte und das nur mit ruhiger Überlegung verscheucht und besiegt werden konnte.

»Schlafen,« sagte sie vor sich hin, »schlafen«.

Als sie sich aber niederlegen wollte, überkam sie die Scham vor ihrer Feigheit. ›Woran Du Dich vorbeidrückst, das wird Dich hinterrücks anfallen,‹ hatte Hermann Rinkhart gesagt.

So blieb sie auf der Bettkante sitzen, drückte die Stirn in die Hände und versuchte nüchtern und gelassen zu bedenken, was sie erlebt hatte; draußen und drinnen.

Da stand plötzlich Wendelin vor ihr, wie er im Gartenzimmer des Professorenbergs mit gutmütiger Überlegenheit und leisem Mitleid auf sie herab sprach: ›Sie haben den panischen Schrecken noch nicht gespürt.‹

Den kannte sie nun: dreifach hatte er sie überfallen. Draußen im Wald, vor der entschleierten Natur der anderen, drinnen bei Blitz und Schlag vor dem Unhold in der eigenen Brust; und abermals in dem Grauen, das sie vor dem Tode empfand, der seine Hand nach der Jugend ausstreckte, nach dem unausgelebten Leben, nach der Blüte, die nicht Frucht werden durfte.

Als das reife Alter dahin ging, war ihr Empfinden nur Schmerz gewesen, ein tiefer heiliger Schmerz. Hier fühlte sie Empörung und Schrecken über das Widersinnige. Sie litt und widerstrebte in Joachims Seele, sie suchte nach einem Ausweg und haderte mit der Natur, die ihr eigenes Werk vor der Vollendung zerschlagen wollte. Haderte und litt, bis sie erschöpft aufs Bett sank; aber ihre Augen blieben weit offen, als sei der Schlaf ein Feind, dem sie wehren müsse.

Da hörte sie auf einmal eine müde, alte Stimme – eindringlich, unabweisbar. Annemarie konnte die Worte noch nicht verstehen, weil ihre Seele zu unruhig war, aber sie horchte mit scharfer Spannung, bis sie deutlich wurden.

›Krause Wege, glatte Wege – weiche Wege, harte Wege – kurze Wege, lange Wege – und immer dasselbe Ziel. Aber das ist sehr tröstlich, mein Kind.‹

Das zitternde Stimmchen verklang, das düstere Tor tat sich auf, durch das keiner gehen wollte, und dahinter leuchtete eine sanfte Klarheit.

Flüsternd sprach Annemarie die Worte nach, die ihre Unruhe stillten, ihre Glieder streckten sich, ihre Lider fielen zu.

Kurze Wege, lange Wege und immer dasselbe Ziel – darüber schlief sie ein, wie bei einem Wiegenlied.


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