Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Joachim sah übel aus und pochte auf die Rücksicht, die man einem Kranken schuldig sei. Zu jeder Tageszeit verlangte er Gesellschaft, denn sowie er allein war, drangen alle versäumten Stunden, alle unerfüllten Lebenspläne, alle ungenossenen Daseinsfreuden wie Folterknechte auf ihn ein. Und je feiger er seinen Gedanken auswich, statt sie mannhaft zu bestehen, auf desto bösere Martern besannen sie sich, falls sie seiner in der Einsamkeit der Nacht habhaft wurden.

Wendelin versuchte die Last dieser Unruhe von Annemarie auf Ferdinand zu schieben; damit hinderte er eine kopflose Abreise des Studenten, ohne daß er sich aufdrängen mußte. Er machte es freilich damit beiden nicht recht. Joachims eigensinniges Herz verlangte nach Annemarie, Ferdinands verliebte Unruhe dachte, des Bruders Bärenführer könne jeder andere besser machen. Als ob Brüder einander nicht immer langweilten.

Da aber die Mangolds oben ihre Zunge hüteten und außerdem am nächsten Morgen ein buntes Kärtchen Kathinkas kam, ›an den ganzen hochhorstenden Helikon‹ überschrieben, beglaubigt durch den Poststempel Innsbruck und eine tantenhafte Mitunterschrift, so wurde er williger und widmete sich Joachim, ›mit rührender Gründlichkeit‹ nannte er's selber.

Aber je ›gründlicher‹ Ferdinand dabei war, desto matter und verstimmter kam der andere am Mittag und Abend zu den Ameisen.

Annemarie sah Wendelin vorwurfsvoll an: ›Versprachst du mir nicht?‹ Und um dieses Blickes willen schob Wendelin am dritten Abend den Studenten beiseite und geleitete Joachim nach seinem Quartier mit der festen Absicht, diesmal aufdringlich zu sein.

Joachim fühlte die Absicht und begann mit nervöser Hast nach Hermann Rinkharts Vermächtnis zu fragen.

›Das ist er seinem Neffen geworden,‹ dachte Hartmut, ›ein Vorwand, nichts weiter.‹ Unwillkürlich blieb er stehen; Joachim wiederholte gereizt seine Frage.

Da antwortete Wendelin ernst: »Es ist seiner würdig,« und fügte schnell, ehe eine zweite Ablenkung kommen konnte, hinzu: »Aber liegt uns nicht anderes näher? Wir haben uns bis jetzt feige daran vorbeigedrückt, – sollten wir nicht lieber einmal wie Männer und alte Freunde davon reden?«

Joachim stöhnte. »Siehst Du es auch schon?«

»Ich vermut' es. Dein Hiersein muß doch einen Grund haben. Du willst Dich von unserer hiesigen Berühmtheit untersuchen lassen, den Vater schonen, Deine Frau nicht voreilig ängstigen.«

Joachim wollte von Wort zu Wort dazwischen fahren, aber Wendelin sprach unbeirrt weiter, als sei jede andere Meinung unmöglich, und seine Ruhe beruhigte den nervösen Mann.

Sie standen inmitten der Straße, über die sich die erste leichte Dämmerung breitete; es war sehr still in der großen Stadt; was lärmen wollte, war Busch und Baum nachgezogen. Irgendwo in der Nähe wurde das Don Juan-Menuett gespielt: leichte Anmut, dazwischen der Wissende schon die ernsten Klänge der Vernichtung vernimmt. Aus einer Hausflur klang leises verliebtes Gekicher. Über eine Mauer herüber schwebte der Duft einer einsamen Linde.

»Wollen wir ein Glas Wein zusammen trinken?«

Als sie dann in dem kleinen Wirtsgarten einander gegenüber saßen und der duftende Blütenstaub in ihren Rüdesheimer flog, berichtete Joachim zum erstenmal sachlich von dem, was ihm Leib und Seele marterte, und das offene Wort nahm etwas von dem Grauen weg, durch das er sein Schicksal wie durch einen verwirrenden Schleier sah.

Wie erst gegen die Aussprache, wehrte er sich dann gegen den Trost. Aber es war nur ein Scheingefecht, denn der Jugendfreund gab ihm, was er von Annemarie erhofft, sich aber durch die Leidenschaft der Gewitterstunde verdorben hatte.

Am anderen Morgen bekam Annemarie abermals einen Zettel Wendelins, auf dem stand: »Eben geht er zum Arzt«.

Mittag wartete sie auf dem Vorsaal, bis Wendelin kam.

»Nun?« fragte sie leise und hastig.

»Professor X sagt, eine Operation sei zu wagen und könne bei seinem Vater oder in Zürich mit ebensoviel Aussicht auf Erfolg ausgeführt werden wie hier.«

»Und?«

»Joachim ist ohne jede Entschlußfähigkeit. Ich konnte nicht weiter, meine Geduld war zu Ende – wenn er auch krank ist, er ist doch ein Mann.«

›Er will nicht nach Hause,‹ dachte Annemarie und konnte nicht antworten, denn Joachim kam selber.

Wendelin ging mit kurzem Gruß ins Eßzimmer, Annemarie blieb auf dem Flur. Als Joachim ihr die Hand bot, fragte sie: »Wann reisest Du nun?«

Er ließ ihre Hand los, als könne er sich damit von ihrem Einfluß befreien und sagte schnell: »Ich bleibe in München.«

»Joachim,« antwortete sie ernst. »Du bist nicht allein auf der Welt, und Dein Vater hat das erste Recht auf Dein Vertrauen.«

»Ich will nicht dorthin, wo sie Dich vertrieben haben.«

Annemaries Herz klopfte bis zum Hals hinauf. Warum ließ Wendelin sie im Stich! Endlich sagte sie hart: »So wirst Du Dich in Zürich operieren lassen.«

Ihre Härte drängte ihn zu jähem Entschluß. »Ich lasse mich überhaupt nicht operieren; ich will hier bei Dir sterben.«

Annemarie schloß die Lider und sah mit geschlossenen Augen Qual, Unfrieden und Mißtrauen herankommen, die nicht sein mußten, die das große Leid, das ihn schuldlos traf, verknitterten und beschmutzten und ihnen allen die Kraft nehmen würde, die sie so nötig brauchten.

Leise begann sie ihm zuzureden. Von Genesungshoffnung sprach sie und von der Pflicht gegen sein Leben und seine Talente, und weil es ihre Stimme war, die so in sanfter Geduld auf ihn einsprach, kam auch noch die Hoffnung auf eine Art Glück in dies Zukunftsbild, von dem sie selbst nichts hineingetragen hatte.

»Gut,« sagte Joachim mit tiefem Atemzug, »ich will mich operieren lassen.«

Annemarie lächelte ihn dankbar an. »In Zürich?«

Da war er schon wieder heftig. »Nein! Hier! Albertine soll mir nicht die letzten Monate zu Schanden quälen. Ich will Stille um mich und in mir haben.«

»Mit solchem Zwiespalt Stille?« rief Annemarie leidenschaftlich. »Nicht hier, Joachim! Um deinetwillen und meinetwillen nicht.«

»Um deinetwillen? Bin ich Dir so zuwider, seit Du mich krank weißt?«

»Joachim! – Aber sollen sie von mir sagen, ich hätte Dich gelockt? Ich hätte Dich Deinen Nächsten abspenstig gemacht?«

»Und darum? Das kümmert Dich? – Wo Du erlebt hast, daß doch jeder den anderen verkennt, doch jeder über den anderen herfällt mit kleinen Gedanken und gemeinem Verdacht, und daß jeder dem anderen nur mit der Kleinlichkeit mißtraut, die er selber begehen könnte? Wo Du weißt, wie sehr sie lügen und wie allzusehr Du schuldlos bist? Deshalb soll ich um meinen letzten Trost und um meine letzte Freude betrogen werden? Du bist eine Egoistin, Annemarie, auch du.«

»Ich bin ein Menschenkind wie die anderen,« antwortete Annemarie zürnend. »Ich leide wie die anderen, ich quäle mich wie die anderen und kämpfe mit mir und dem, was mich zu Boden werfen will, wie die anderen. Du bist der« – sie hielt inne und wandte sich nach dem Zimmer, aber das Mitleid kam doch wieder oben auf. Nach kurzem Kampf sagte sie sanft: »Dein Vater hat mir nie etwas zuleide getan – willst Du nicht zu Deinem Vater gehen?«

Aber mit dem ganzen Eigensinn des Kranken wiederholte er: »Ich bleibe hier. Weder Kleinlichkeit noch Klugheit soll mich verdrängen.«

Damit ging er schnell hinein, er wollte nichts weiter hören.

›So muß ich gehen,‹ dachte Annemarie und fühlte bei dem Gedanken eine leidenschaftliche Zärtlichkeit für alles, was dies buntfröhliche München umschloß.

Und weil es sie, trotz aller Enttäuschung, mit tausend Fäden in dem Hause hielt, dessen Fenster in Hartmut Wendelins Zimmer schauten, so fiel ihr während des Essens immer noch etwas ein, weshalb auch sie bleiben müsse. Kleines und Großes, Wichtiges und Unwichtiges, Notwendiges und Vorgespiegeltes. Das Wundern der Bienen, wenn sie vor der Pflege des kranken Verwandten davonlief; das Sticheln der Unfreundlichen, die sagen könnten, ohne Morsach sei ihr der Ameisenhügel langweilig geworden; das Behagen der blassen Lore, Elsabeths Aufheiterung, Fräulein Minna und Ferdinand Rinkhart. Und das rotseidene Sesselchen, dem sie die Wiederkehr versprochen hatte.

Endlich, nach langem Wirrwarr der Gedanken, fiel ihr das Rechte ein.

›Ich muß seine Frau holen.‹

Da verstummte alles andere. Weder ihr Mißfallen an Albertinen, noch die Erinnerung an jene bittere Zwiesprache verdarben ihr den Entschluß. Sie packte sich ein Handtäschchen, sah nach den Zügen und sagte Fräulein Minna Bescheid.

»Nur für Sie! Niemand darf darum wissen, am wenigsten unser Kranker.«

»Da haben Sie sich ja was Nettes aufgebündelt,« sagte Fräulein Minna in ihrem unliebenswürdigsten Ton und sah Annemarie dabei mit Liebesblicken an.

Annemarie brauchte diesen Blick nicht zur Bestätigung ihres Entschlusses, aber gut tat er ihr doch, denn ihr war nicht siegesgewiß zumute.

Sie fuhr in eine heiße, mondlose Nacht hinein, die kaum Kühlung brachte. Da schon allerlei Ferien begonnen hatten, wurde der Schnellzug bis aufs letzte ausgenützt.

›So arg sind wir Menschen uns überall im Wege,‹ dachte sie schmerzlich unter dem Drucke der Glut und dem Bangen vor ihrer Aufgabe.

›Aber wir können einander auch helfen,‹ dachte sie dankbar, als sie beim leichten Schauer der Morgenfrühe in Lindau aufs Dampfschiff stieg und einer Mutter ihre schlaftrunkenen Küchlein hüten durfte.

Der Bodensee lag noch farblos in bleichem Dunst vor ihr, als die Räder zu schaufeln begannen. Sie saß auf dem Radkasten und sah ihrem verhüllten Ziel entgegen. Nach und nach färbte ein freundlicher Schein die fahle Ferne, bis hinter ihr die Sonne emporstieg. Nun lag die Welt in Glanz und Licht, alle Schönheit war wieder da, und die Hoffnung spannte rosige Flügel aus: wie schwül und schmerzhaft auch die Nacht gewesen ist, immer aufs neue erbarmt sich die Sonne ihrer winzigen Erdenkinder.

In Zürich nahm sich Annemarie einen Wagen und fuhr ohne Verweilen nach Joachims Wohnung. Die lag schön und frei auf halber Höhe am See, und das Erdgeschoß, in das Annemarie geführt wurde, war zu einem Gelehrtenparadies eingerichtet, soweit es Geschmack und Geld nur irgend vermochten.

Albertine war zu Hause. Seit Tagen kämpften Sorge und Empfindlichkeit in ihr, denn Joachim hatte sich für eine kurze Bergwanderung verabschiedet und noch keinerlei Nachricht gegeben.

Als sie jetzt Annemarie vor sich sah, erschrak sie. Sie wußte sofort, daß hier Nachricht von ihrem Mann kam. Üble Nachricht. – Hatten sich die beiden verabredet gehabt? War ihm ein Unglück geschehen?

»Wo ist Joachim?« rief sie ohne jeden Gruß.

Und Annemarie antwortete ebenso, ohne an irgend eine der schirmenden, dämpfenden Gesellschaftsformen zu denken: »Er ist in München. Du mußt zu ihm kommen. Ich will Dich holen.«

»Ich zu ihm?« rief Albertine, und das klang noch härter als sonst, weil sie ihre aufflammende Leidenschaft niederzwang. »Hierher gehört er, dies ist seine Heimat. Soll ich hinter ihm drein laufen wie ein Hündchen hinter dem Herrn, gar noch ungerufen?«

Annemarie legte ihr Täschchen, das sie noch in der Hand trug, auf den nächsten Stuhl. Dann sagte sie leiser als vorher: »Du hast recht und unrecht, Albertine. Unrecht, weil Joachim krank ist« –

»Verunglückt! – Er liegt – er ist tot.«

Das war ein Aufschrei leidenschaftlicher Zärtlichkeit.

»Nein, nein! Er geht umher wie Du und ich.«

»Nun also!« Das klang noch matt von dem großen Schrecken.

»Und doch unrecht, Albertine, auch in dem, worin Du recht haben könntest. Wer einen Edelstein besitzt, darf ihn nicht umherliegen lassen. Was wir haben, müssen wir festhalten und werthalten, damit wir nicht das Recht darauf verlieren.«

Als Annemarie das sagte, weil sie angesichts der Angst Albertinens nicht den Mut zum Notwendigsten hatte, fiel ihr Wendelin ein, dessen Vertrauen sie besessen und verloren hatte. Und nun sie an Wendelin dachte, wurde sie mit einmal beredt: Albertine mußte kommen!

Und sie sagte alles, was ihr nicht weh tun konnte; sie sagte ihr, wie Joachim an Ferdinand geschrieben gehabt und wo er wohne und daß Wendelin für ihn sorge.

Albertinens Herz zitterte. ›Ferdinand, Wendelin, ja – und doch: warum München? Warum der Ort, wo Annemarie zu Hause war?‹

Annemarie redete weiter. Als sie Wendelin einmal genannt hatte, wurde er unversehens zur Hauptperson: Wendelin hatte Joachim die Ursache seiner Bedrückung entlockt, Wendelin hatte ihn zum Arzte beredet, Wendelin hatte alles getan. Ohne daß sie es wußte, wurde ihr Bericht ein Lobgesang auf Hartmut Wendelin. Sie log und färbte und schmückte; und log doch nicht, denn sie sagte ihres Herzens tiefste Meinung, und noch weniger ahnte sie, daß gerade dies Albertinen willfährig machte und reuevoll und empfänglich für jede gute Saat.

Und Annemarie sprach weiter. Zögernder jetzt, mit zarter Scheu sagte sie Albertinen, daß Joachim vor ihr geflohen sei, weil ihm seine Krankheit die Rücksicht und Freundlichkeit unmöglich mache, die er schuldig zu sein glaube, und die sie von ihrem Mann verlangen könne.

Die ich von ihm verlange, dachte Albertine und begriff mit jähem Schrecken, was ihn von ihr getrieben hatte.

Das erschütterte sie. Nun sollte sie nicht nur ein Leid tragen, das der widersinnige Zufall ihr ohne Ursache auf die Schultern legte, nun hatte sie etwas gut zu machen. Etwas, wozu sie Klugheit und Güte und Überlegenheit brauchte, und einem Kranken gegenüber, wo es sie nicht mehr verletzte, wenn sie sich als die Überlegene fand.

»Der arme Joachim, warum sagte er mir nicht« –

Da brach sie ab – ob sie ihm dann nicht doch geantwortet haben würde: Nimm Dich zusammen? – Ein heißer, fester Vorsatz füllte ihr Herz: »Ich muß ihn trösten! Ich muß zu ihm! Wann geht der Zug?«

Am Nachmittag konnten sie fahren. Und nun war Albertine eine tapfere entschlossene Frau. Sie bestellte das Haus, sie packte für sich und ihn, beides auf lange hinaus, und fand auch noch Zeit, für Annemarie zu sorgen.

Annemarie mußte ruhen, Annemarie mußte essen, Annemarie durfte keine Hand rühren. – Zwei Nachtfahrten! Und wenn sie auch jung war, selbst Jugend darf ihre Kraft nicht ohne Not verwüsten. – Annemaries Gegenwart hatte Albertinens Eifersucht vertrieben, wie der Mond die Wolken vertreibt. Nun freute sie sich an ihr, sie war sogar stolz auf diese Verwandte und gab ihr, was irgend sie in ihrer kühlen Art zu geben vermochte.

Während die beiden Frauen zusammen in der Bahn saßen, besprachen sie miteinander, was kommen mußte und was kommen konnte, als kennten sie einander bis in die innersten Falten ihres Wesens.

Und sie kannten sich jetzt auch, weil sie beide von einer gewissen Gradheit und Einfachheit waren, und jede kannte die andere besser als sich selber. Annemarie sah, daß Albertine ihren Mann liebte, so warm sie überhaupt zu lieben vermochte, und Albertine wußte, daß Hartmut Wendelin jedem anderen Mann den Weg zu Annemaries Herzen verlegen würde, heute und immerdar.

Darum vergaben sie sich alles und vertrauten sich alles. Ja, als Annemarie sagte: sowie ihr Albertine genaueren Bescheid geben könne über Joachims Zustand und Pläne, wolle sie nach Hause, um die Eltern vorzubereiten, neigte die sich zu ihr und küßte sie.

Später, im Einschlafen, fiel Albertinen ein, daß dies außer ihrer Mutter die einzige Frau sei, die sie je geküßt hatte, und danach im Halbschlaf dachte sie, was ihr im Wachen noch nie geglückt war: ›Unser Leben ist ein wunderliches Geheimnis, seine unsichtbare Fäden binden und ziehen uns, und das, wogegen wir uns wehren, ist oft das beste Geschenk, das unser Leben für uns zubereitet hat.‹ –

Im Ameisenhügel kam Annemarie gerade zur Mittagsstunde zurecht. Magdalene Schäftlein empfing sie kühl, es war gegen alles Herkommen, daß Minna ihr vorgezogen wurde.

Die anderen begrüßten sie lebhaft und unbefangen, nur Wendelin fühlte die gleiche Kränkung wie die Schäftlerin, und da er hörte, wie Annemarie Joachim für Mittag entschuldigte, fragte er unwirsch: »Wo treibt sich Joachim herum?«

»Albertine ist da, heute abend kommen sie beide.«

»Und wo waren Sie?«

Sein Ton verletzte Annemarie, sein Blick tat ihr weh; sie wollte nicht antworten und sagte doch: »Ich habe Albertinen geholt, und morgen will ich nach Hause, ich will Onkel Heinrich vorbereiten – ich glaube an keine Genesung.«

Wendelin griff nach Annemaries Hand, er hatte das leidenschaftliche Verlangen, diese Hand zu küssen. Aber sie litt es nicht, und er dachte: ›So hat es dein Argwohn verdien.‹

Sie aber dachte: ›Du hast nichts getan, nur gesühnt hast du.‹ Und mit schmerzhafter Deutlichkeit empfand sie noch einmal, wie Haß und Zorn gegen Albertinen in ihr aufsprang, und hörte das Rollen des Donners, das ihre Rachegedanken begleitet hatte.

Dann kam ein tiefer Atemzug der Befreiung, und eine verklärte Freude strahlte aus ihren Augen, die alle wärmte.

Nur die Böhning hatte zu derbe Sinne dafür, spitz und spöttisch fragte sie über den Tisch: »Also heute ist der Tag der Wiederkehr? Hier unsere Hauptperson, drüben meine Schülerin und der Herr Student. Fehlt nur noch Morsach. Haben Sie den vielleicht irgendwo gefunden, Fräulein Rügemer?«

Wendelin wollte ein scharfes Wort über die Zunge, Fräulein Minna kam ihm kräftig zuvor.

Nach Tisch ging Annemarie Minna Schäftlein nach in die Küche.

›Sie weicht mir aus, sie hat mich aus ihrem Leben gestrichen,‹ dachte Wendelin, und ging nach Hause: ›auf daß ihr das keine Mühe mache.‹

Sie aber fragte draußen am Herd sorgenvoll: »War mein Vetter wirklich verreist?«

»Ja. Er ist doch wohl hinter der Kathinka drein gefahren. Er muß noch vor Ihnen weg sein.«

»Aber er ist heil wieder da?« fragte Annemarie angstvoll. »Er ist nicht mit Morsach zusammengeraten?«

»Ich hab' ihn heil drüben ins Haus gehen sehen, ganz wie sonst.«

»Und wissen Sie auch, wo Morsach ist?«

»Jedenfalls nicht mehr hier und jedenfalls ganz vergnügt. Seine Koffer gingen nach Süden. Jetzt sorgen Sie sich nicht etwa auch noch um den, als ob wir ihm ein Unrecht getan hätten. Solche Naturen finden immer ein neues Irgendwo, wenn's ihnen am alten Fleck zu heiß oder zu langweilig geworden ist. Morsach ist reich genug, im Kopf wie im Beutel, um sich noch eine Weile als Verschwender wohl zu fühlen; endlich heißt's aber doch einmal Rechnung machen. Ich wünsch' ihm nichts Übles – möge er dann noch nicht alles verwüstet haben.«

Auch Annemarie wünschte Morsach nichts Übles. Sie hatte weder Zeit noch Zorn für ihn, wenn er ihr nur ihren »dummen Jungen« in Frieden ließ.


 << zurück weiter >>