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Erstes Kapitel.

Obwohl Hartmut Wendelin am Fenster saß und seine klaren grauen Augen auf die Landschaft richtete, sah er doch nichts von dem freundlichen Fluß, an dessen Ufer der D-Zug talein fuhr.

Welch geschwungene Hügel, fröhliche Städte, ragende Burgen in allem Schmuck des Frühlings glitten unbeachtet vorüber, weder die Musik der Räder, noch der Lärm der Mitreisenden kamen ihm zum Bewußtsein. Die verlassene Arbeit hielt seine Gedanken zu fest, als daß sie den Bericht der Sinne hätten vernehmen können.

Er war ungern gereist.

Die letzten Versuche hatten ihm eine Überraschung gebracht, über die er noch nicht völlig klar sah; er sehnte sich nach dem Laboratorium. Aber nicht nur deshalb war ihm die Reise leid. Und das ganze Mißbehagen, unter dem er sich dennoch dazu entschlossen hatte, überfiel ihn aufs neue, als der Zug hielt.

Jetzt sah er die Landschaft, sah die Türme, die ihm die Stunde des Doktorexamens geschlagen hatten.

Durch, sagte er und stieg aus.

Seit seinem Doktorschmaus war er der fröhlichen Musenstadt fern geblieben. Sehr absichtlich, denn er wollte sich die strahlende Erinnerung nicht verderben lassen. Hier hatte er den Schläger geschwungen, hier hatte er seinem Meister feurig Gefolgschaft geleistet, hier hatte ihn der Ehrgeiz gepackt, diesem Meister ähnlich zu werden, hier hatte er geschwärmt und zuerst Glück und Qual schöpferischer Arbeit gespürt.

Das war seine Jugend gewesen, die Jugend war leider vorbei; aber ihr Bild sollte ihm wenigstens bleiben, ohne daß die gleitende Zeit Tag für Tag etwas davon abbröckeln und abblassen durfte, bis er selbst mit dem besten Willen nicht mehr zu erkennen vermöchte, wie schön es einstmals gewesen war.

Also fernbleiben – die Ferne schenkt uns den blauen Duft der Schönheit und verhütet Entzauberung.

Durch zehn Jahre hatte Hartmut Wendelin danach gelebt, nun aber kam der Zwang. Seinem alten Lehrer mußte er die Ehre geben, zu Hermann Rinkharts Jubiläum durfte er nicht fehlen, Hermann Rinkhart zuliebe dachte er sich mit Anstand durch alle Enttäuschungen hindurch zu schlagen.

Und er würde viel guten Willen dabei aufwenden müssen, denn das Leben hatte einen hämischen Haß gegen jede Art von heilig und heimlich gehaltenen Idealen. Nur alles hinaus, an Licht und Luft der kühlen Wirklichkeit, auf daß es keinen Stimmungs- und Erinnerungswinkel mehr gebe – nur alles hinaus, und wenn's Edelsteine wären. – Ja so, Edelsteinen würde weder Luft noch Licht etwas schaden, und für einen Edelstein hielt er Hermann Rinkhart noch heute.

Nach einem flüchtigen Rundblick gab Wendelin dem Hausdiener des Bären seinen Gepäckschein und schickte sich eben an, zu Fuße in die Stadt zu gehen, als eine fröhliche Stimme hinter ihm sagte: »Da bist Du ja, amicus meus. Mit diesem Zug hatte ich Dich erwartet. Übrigens höchste Zeit, Du wirst bereits vermißt.«

Wendelin wandte sich erstaunt dem Sprecher zu, schüttelte dessen ausgestreckte Hand und fragte: »Heute schon, Nöhring? Das Fest ist doch morgen?«

»Natürlich. Nur Vorfeier. Etliche Koryphäen und Familienansammlung. Dazu gehören wir zwei von den Zeiten her, wo wir mit dem Haussohn »wir drei« waren. Das heißt: nein! Du gehörst schon mehr zu den auswärtigen Berühmtheiten. Sie grüßen, ich soll Dich mitbringen.«

Einen Augenblick zögerte Wendelin, dann sagte er: »Nun denn, also heute schon.« Und nach ein paar Schritten setzte er hinzu: »Wie ist denn der Jubilar?«

»Prachtvoll!« rief Nöhring, und seine blanken, braunen Augen leuchteten in neidloser Freude. »Er wurde zwar zum Unterschied von seinem Bruder schon vor 25 Jahren der Alte genannt, er ist's aber heute noch nicht.«

»Unverändert?«

»Seit Du nicht hier warst? – Durchaus. Aber Du? Sag' mal, ihr habt euch wohl irgendwie verkracht – wissenschaftlich natürlich. Weil Du nie wieder nach uns gesehen hast. Damals bist Du doch täglich oben bei ihm gewesen.«

Wendelin strich sich langsam über den spitzen Kinnbart und sagte nach kurzem Schweigen sehr warm: »Ich verehre und bewundere den Geheimrat über alle Gelehrten, die unseren Planeten bewohnen.«

»Ach?« rief Nöhring mit sichtlichem Staunen, weshalb Wendelin nachdrücklich wiederholte: »Er ist der schärfste, klarste und fesselndste Denker, den ich kenne. Sein Arbeits- und Kenntnisfeld ist von verblüffender Weite, er geht eigene Wege und setzt sich selber das Ziel, er ist Naturwissenschaftler und Philosoph, ohne daß der eine den andern verwirrte. Er hat den Chemikern Nüsse geknackt und den Physiologen Geheimnisse enthüllt. Die Art, wie er Pflanze und Tier auf Ähnlichkeit und Unterschiede beobachtet und erforscht hat, sucht ihresgleichen, seine Arbeiten über unsere Sinne geben eine Fülle von Anregung. Die Brosamen, die mir von seinen Gedanken über Funktionen und Veränderungen des Blutes zugefallen sind, haben meinen Arbeiten jahrelang die Richtung gegeben –«

»Ja aber, Mensch! Weshalb –«

»Ich bin, nachdem ich meinen Doktor gemacht hatte, gereist. Durch Laboratorien und Krankenhäuser, durch staatliche und private Institute, im Ausland und Vaterland, von Berühmtheit zu Berühmtheit, – einen Hermann Rinkhart fand ich nirgends, sie kochten alle mit Wasser statt mit Geist.«

»Aber Hartmut!« rief Nöhring in fassungslosem Staunen, »warum bist Du denn dann nicht wiedergekommen?«

»Um mich nicht unterkriegen zu lassen. Jeder hat nur einen Weg zum Ziel, seinen eigenen. Zum Schatten passe ich nicht.«

»Na, hör' mal!« Nöhring ärgerte sich, und in diesem Ärger fuhr er fort: »Ich an Deiner Stelle hätte mich doch sehen lassen. Du habest Joachim die Professur übelgenommen, denken die Leute. Auch beworben hättest Du Dich in Zürich und wärst unterlegen, und –«

»Nörkelchen, das hättest Du lieber nicht sagen sollen,« antwortete Wendelin gemächlich, als Nöhring stockte. »Wer mich kennt, glaubt das nicht. Wer es glaubt, ist nicht wert, daß wir ihn kennen.«

Nöhring ärgerte sich abermals. »Na weißt Du, das ist schon beinahe Größenwahn. Auch das andere ist's, das alles allein tun wollen – geht nicht! In der Wissenschaft so wenig wie im Leben: wir brauchen Meister, wir wollen Schüler haben. Größenwahn, Wendel; die Anlagen hattest Du übrigens schon.«

Hartmut Wendelin lachte leise.

»Ärgere Dich nicht, Nörkelchen, das ist nun so. Deiner Natur ist es gemäß, dem Manne, den Du verehrst, unserm trefflichen Chirurgus Rinkhart, als rechte Hand treu und ergeben zur Seite zu stehen. Und die Klinik braucht Dich. Mein Rinkhart braucht keine rechte Hand.«

»Oho! Er hat sogar etwas Ähnliches!«

Nöhring sah schalkhaft vergnügt aus, als er das sagte.

Wendelin blieb mit einem Ruck stehen. »Der Geheimrat? – Hermann Rinkhart?«

»Es gehört gewissermaßen zur Familie.«

»Ach so – einer der Neffen. Natürlich, deren gibt es ja vier. Lauter naturgegebene rechte Hände. Aber welcher? Joachim ist in Zürich. Der zweite ist ja wohl Psychiater geworden. Der dritte –«

»Studiert in Berlin, der vierte ist noch Schulfuchs,« vollendete Nöhring lächelnd den Bericht.

Wendelins Gedanken waren von der »rechten Hand« abgeschweift und bei dem Studiengenossen hängen geblieben. Aber ehe er des Näheren nach Joachim Rinkhart fragen konnte, zog Nöhring lebhaft den Hut und wandte sich zur Seite, so daß er mit voller Front gegen eine alte fliederüberhangene Gartenmauer stand.

Über diese Mauer schauten zwei Frauen. Eine sah reichlich behäbig aus, und es fehlte ihr nur die altdeutsche Haube, sonst hätte sie als Faustens Gelegenheitsmacherin auf die Bühne steigen können.

Die andere lohnte die Betrachtung schon eher. Eine biegsame Gestalt, flimmernde Augen, schimmernde Haare, gleichsam alles bewegt und jede Bewegung sprach: bitte! Und jeder Blick bettelte: komm!

Unwillkürlich zog auch Wendelin den Hut. »Reizend,« sagte er eben so unwillkürlich und fügte dann bedachtsam hinzu: »Falls Du noch weißt, daß dies viel mißbrauchte Wort eigentlich Schönheiten der Bewegung bedeutet.«

Nöhring lachte. »Auch Du bist unverändert. Gründlich und Schulmeister überall und allerorten, sogar schönen Frauen gegenüber.«

»Warum schönen Frauen gegenüber nicht? Haben wir dummen Fliegen es da nicht am nötigsten, daß wir unsere Gedanken zusammen nehmen? Das heißt – ehrlich gesagt: allen anderen Lockungen des Lebens würde ich eher zutrauen, daß sie mich vorgefaßten Plänen untreu machen könnten.«

Nöhring schickte noch einen Blick zurück: »Na, na! Versprich nicht zu viel. Dies ist wirklich ein Ausbund. Ich kenne sie; wir haben den Vater in der Klinik wieder auf ein paar Jahre zusammengeflickt. Reiche Leute. Sie war mit der Mutter so lange hier, und die ganze Stadt nannte sie: die schöne Kathinka.«

»Dann freilich!« Wendelin lachte, sah aber doch noch einmal zurück und sah dabei, daß ihm die flimmernden Blicke unverwandt folgten: Komm! – Komm!

In demselben Augenblick rief Nöhring: »Holla! Ich glaube gar, Du hast den Weg auf den Professorenberg vergessen.«

Sofort kamen Wendelins Gedanken aus dem Fliedergarten wieder zur Familie Rinkhart, und er lenkte auf den Fußweg ein, der rechts hinauf in das Villenviertel, mit dem Beinamen der Professorenberg, führte. Die Fahrstraße leitete in breitem Bogen um die Anhöhe; dies war ein kurzer, steiler Weg, an dessen Eingang des jüngeren Rinkhart Privatklinik, an dessen oberem Ende in einem parkartigen Garten das Wohnhaus der beiden gelehrten Brüder lag.

Das bewohnten sie seit einigen dreißig Jahren zusammen, heute noch so, wie sie es anfangs unter sich geteilt hatten: Erdgeschoß und Garten waren neutrales Gebiet, »Gastopolis« nannten's die Freunde.

Das erste Stockwerk gehörte dem jüngeren Rinkhart, der damals als erster Assistent die Tochter seines Meisters heimgeführt hatte. Das zweite dem einschichtigen Gelehrten.

Dem ersten Stockwerk war lebendiger Wechsel beschieden. Ein Mägdlein schlug seine blauen Augen dort auf und schloß sie wieder. Zwei Knaben bewohnten nacheinander des Mädchens Wiege, gediehen und wuchsen und merkten kaum, daß die Mutter ihrem Erstling nachging. Denn es zog eine neue Hausfrau auf dem Professorenberg ein: ein rundes behagliches Weibchen für eine nervöse Frau, deren Gedanken sich schwer zu Kinderspiel und Kinderlust gefunden hatten.

Die zweite Frau Doktor Rinkhart legte noch zwei Knaben in die Wiege und zuletzt auch ein Mädchen, das sich von vier Brüdern necken und verziehen ließ, als gehöre das zu den unzweifelhaftesten Menschenrechten.

Oben, im zweiten Stock, liefen währenddem achtunddreißig Jahre gleichmäßig von Sonnenwende zu Sonnenwende. Der Gelehrte hatte dort Raum und Ruhe, und wenig veränderte sich in seinem Reich.

Nur die Bäume vor den Fenstern und die Bücherbretter hinter den Mauern wurden höher; sein Haar wurde weiß, der Diener, der ihm auch im Laboratorium zur Hand ging, bog sich krumm. Und dann zog die rechte Hand ein, von der Nöhring hatte erzählen wollen, als Wendelin ihn unterbrach.

Nöhring kam auch, als sie nun den richtigen Weg bergan stiegen, nicht zu seinem erwünschten Bericht, denn Wendelin griff die Frage nach Joachim, dem ältesten Sohn des Chirurgen, wieder auf.

»Also, wie hat sich unser Dritter entwickelt?«

Maßloses Erstaunen sprach aus Nöhrings Augen. Wenn jetzt nicht Hartmut Wendelin gefragt hätte, der ›anständigste Kerl‹, der ihm in seinen dreiunddreißig Lebensjahren begegnet war, so würde er ein Aushorchen gewittert haben. »Das weißt Du nicht?« stotterte er.

»Zu Privatbriefen hatte ich keine Zeit, zu seiner Hochzeit konnt' ich nicht kommen. Äußerlich haben wir uns auseinandergelebt.«

Diese zwei? Während dreier Jahre die Unzertrennlichen?

Auf Nöhring stürmten hundert Verwunderungsfragen ein, aber er schob sie beiseite und antwortete mit dem Vergnügen des Wissenden: »Joachim ist erfreulich beliebt in Zürich, er trägt anregend vor und experimentiert sehr elegant. Auch literarisch ist er hervorgetreten, und seine Frau legt sich für seine Arbeit ins Zeug wie ein Mann.«

»Kinder?«

»Nein.«

»Deshalb.«

»Bewahre. Angeborene Neigung. Familienader. Mir ist immer etwas bange vor ihr, als müsse gleich ein hochnotpeinliches Examen losbrechen.«

Hartmut lachte. »Sie sind natürlich da.«

»Noch nicht, aber sie kommen. Du wirst Gnade vor ihren Augen finden, denn Du bist ja in allen Sätteln gerecht und kannst Dich im Notfall für einen Highlifeman ausgeben. Das verlangt sie. – Aber nun ist die Reihe des Ausfragens an mir. Wie geht es Dir in München? Wie lebst Du? – Ich frage nicht nach Deiner Arbeit, über die sind wir im laufenden: redet von sich selbst und macht sich auch beim Senior bemerklich. So fein Joachim die Feder führt, etwas Neues wird er kaum finden, er faßt zusammen, nützt aus, räumt auf, rückt ins rechte Licht – hm – hat gewissermaßen etwas Weibliches an sich, und au fond sind wir alle darin einig, daß Du weit eher eine Professur –«

»Nörkelchen, das hättest Du wieder nicht sagen sollen.«

»Ach was, ich rede wie mir's gegeben ist, und Du sollst mich ausreden lassen, Zickzackläufer. Also: Der Mensch lebt nicht vom Kolleglesen allein, und das andere Deines Lebens will ich wissen. Gefällt Dir München?«

»Es gefällt mir,« antwortete Wendelin und griff nach seiner Zigarrentasche.

»Interessanten Kollegenverkehr?«

»Nicht, wenn es sich vermeiden läßt.«

»Aber Hartmut! Warum denn?«

»Vielleicht weil man von seinesgleichen am wenigsten lernen kann.«

»Paradox.«

Wendelin lächelte und wählte sehr sorgfältig unter seinen Zigarren.

»Und was tut denn Dein Umgang?« fragte Nöhring mißtrauisch.

»Nennt mich den alten Herrn.«

»Wie?!«

»Den alten Herrn.«

»Dich? Unsern Feurigen? Unsern Lebendigen? Dem wir ewige Jugend vorhersagten? Trotz aller Schulmeisterei!«

»Je nun.«

»Aber warum denn?«

Die Zigarre brannte, das Streichholz flog in den Sand. Wendelin tat ein paar Züge und sagte dann: »Vielleicht weil ich nicht mehr davon laufe, wenn der alte Pan zur Mittagsstunde über die Felsen schaut.«

»Na weißt Du! Das tu ich auch nicht, hab' ich nie getan. Und alt nennt mich noch heute keins.«

Nöhring war verdrießlich; Wendelin aber lachte fröhlich und klopfte dem Altersgenossen auf die Schulter. »Sei gut, Nörkelchen, das hab' ich Dir ja auch gar nicht zugetraut – das Davonlaufen mein' ich. Ein bißchen Phantasie gehört schon dazu.«

Und dann erzählte er mit beruhigender Sachlichkeit.

»Ich wohne für mich, bei einer reinlichen Wittib, die münchnerisch redet und münchnerisch kocht, esse aber, um dieser bierbedürftigen Kost zu entgehen, an der Tafelrunde eines ältlichen Schwesternpaares. Keine Artustafelrunde, nur brave Leute von allerlei Art und Berufen, die sich ihre Bravheit irgendwie sauer werden lassen. Ameisenhügel nennt man die Genossenschaft, ich meine die Pension der beiden Damen. Und über meiner Bude, die den Ameisen in die Fenster schaut, ist eine dergleichen, der Helikon genannt. Diese beiden Pensionen pflegen Bekanntschaft. Die Ameisen sucht man auf zur Stärkung des Fleißes, die Helikonasten zur Stärkung der Flugkraft, und einmal wöchentlich treffe ich des Abends im Bienenstock Ameisen und Flügelgeschöpfe zu kurzweiliger Aussprache.«

»Das klingt allerdings phantastisch genug,« brummte Nöhring, »dort mag wohl der alte Pan ganz gern sein Wesen treiben.«

»Wenn man ihn zu kuschen versteht, ist er ein ganz guter Musikant.«

»Musikant! – Wahrhaftig, Du voltigierst noch eben so gern von Begriff zu Begriff wie in deinen Fuchszeiten.«

Wendelin antwortete nicht. Er stieß die Lattentür auf, die durch eine verschnittene Buchenhecke in Rinkharts Garten führte, und ging schnell bis zur nächsten Wegbiegung, von wo aus man den Blick auf das Haus und auf eine bunte Gesellschaft freibekam.

Dort blieb er stehen; sein Auge suchte den Jubilar, der in heiterer Greisenschönheit unter blühenden Glycinen saß. Neben ihm stand sein Bruder, um zehn Jahre jünger als die Hauptperson und sehr beweglich. Dennoch dachte man bei seinem Anblick weit eher an Altern und Vergehn.

»Er sieht aus wie das Werk eines Künstlers, dem Begriffe der Veränderlichkeit entrückt,« sagte Wendelin, und auch Nöhring wußte sofort, daß nur der Geheimrat mit diesem »Er« gemeint sein konnte.

Doch fanden seine jungen Augen anderswo bessere Weide, und er zog Wendelin am Arm, um auch dessen Blick nach dem Rasenplatz zu lenken. Im freien Sonnenschein stand dort ein Mädchen: licht das Haar, licht das Kleid, ein warmes Leuchten ging von ihr aus. Sie lachte nicht und doch war ihr ganzes Wesen strahlende Heiterkeit. Die andern drängten sich um sie wie Durstige um den Quell.

Dabei tat sie durchaus nichts Außerordentliches und bewegte sich ganz unauffällig. Sie teilte nur Krockethämmer und Tennisbälle unter die Drängenden aus. Aber sie war allen die Hauptperson, von deren Lippen und Augen man sich leiten ließ, und Hartmut Wendelin sagte plötzlich: »Lotte.«

»Wer?«

»Goethes Lotte.«

»Nun, ich dächte doch um sehr viel moderner.«

Wendelin wurde ungeduldig.

»Die Krockethämmer freilich. Mensch! Hast Du denn wirklich keine Spur Phantasie?«

»Bitte,« antwortete Nöhring, »erst recht. Ich habe Dich sofort verstanden und dachte mich in die Seele Werthers hinein. Diese Lotte hätte den törichten Jüngling nicht ums Leben gebracht, dieser wäre solch sentimentale Doppeltändelei unmöglich gewesen. Die andere – ja, sieh mal, die könnte ich mir einigermaßen verheerend denken.«

Die andere? Wendelin mußte erst überlegen, ehe ihm die Blonde von der Fliedermauer einfiel. Dann aber wunderte er sich, wie deutlich das flüchtig geschaute Bild vor ihm stand: die grazile Gestalt, das zitternde Haar, das dem Kopf jeden festen Umriß nahm und in seiner aufgebauschten Fülle das Gesichtchen noch kleiner und feiner aussehen ließ, als es war. Dort hatten wir den Reiz in der Bewegung, dachte er, hier haben wir die Schönheit der Ruhe.

Inzwischen schalt Nöhring in gutmütigen Philistertönen weiter: »Ich habe die nötige Phantasie, aber was nicht paßt, paßt nicht und die Wertherei ist überdem völlig unzeitgemäß.«

Statt jeder Antwort fragte Hartmut Wendelin: »Und wer ist dieses unzeitgemäße Mädchen?«

Nöhring ärgerte sich zum drittenmal. »Unzeitgemäßes Mädchen! Du bist unglaublich verwildert in deinem genialen München, bis zur Unverständlichkeit verwildert. Sie ist doch gerade das Zeitgemäße. Was soll das nun wieder heißen!«

»Ich nenne sie unzeitgemäß, Nörkelchen, weil sie so schön ist.«

Nöhrings Augen leuchteten. »Schön? Geradezu schön?«

»Ja – schön, wie es unsere heutigen Menschen gar nicht begreifen: Fest, klar, einfach; nichts Überdifferenziertes, Raffiniertes, Botticellihaftes; nichts Lockendes und Verwirrendes; nichts Knabenhaftes, nichts herausfordernd Üppiges – nur Harmonie, in sich ruhend und Ruhe gebend. Und deshalb stumm für die meisten, wie etwa Feuerbachs Malerei, deren klaren Linien Einförmigkeit und Langeweile nachgesagt wird.«

»Also schön.« Nöhring sah aus, als sei ihm geschmeichelt worden. »Freut mich von einem Kenner zu hören. Gefallen tut sie uns auch. Sie ist die Nichte der beiden Rinkharts.«

»Ach? Das spillrige, betrübte Ding, das eben noch, während ich den Doktor machte, als Waislein ins Haus kam?«

»Ja, damals ist sie elf Jahre alt gewesen, und ich erinnere mich noch, daß die unten meinten, es seien eigentlich schon genug Kinder auf dem Professorenberg. Jetzt lebt das ganze Haus von ihr und ihrer Liebenswürdigkeit. Zugeteilt ist sie dem ledigen Ohm und wohnt im oberen Stockwerk.«

»Wie recht und billig.«

»Ihre Sonne aber läßt sie über alle scheinen. Sämtliche Vettern Rinkhart sind brüderlich in sie verliebt. Der Student, auch einundzwanzig, nennt sie seinen Zwilling. Über den Backfisch hat sie hundertmal mehr Gewalt als die Mama. Dieser Mama ist sie das unentbehrliche Haustöchterlein. Dem Arzt Rinkhart ist sie der Sorgenbrecher für allen Klinik- und Kollegenärger, und dem Geheimrat ist sie – nun, ich sagte es ja schon: die rechte Hand.«

Wendelin sah Nöhring schalkhaft von der Seite an. Das brannte ja lichterloh. Neckend sagte er: »Da malt mir ja einer die ganze Lotte Buff, als ob der Werther höchst selber das Amtmannstöchterlein beschriebe.«

Nöhring wollte aufbrausen, hier ertrug seine Gutmütigkeit nicht alles, aber da faßte Wendelin besänftigend seine Hand. »Jetzt schweigt der Spötter, Nörkelchen. Du hast ja recht, weiter meinte ich ja vorher auch nichts mit dem Lottevergleich: Kraft und Schönheit, die zwei werden leicht mit dem Leben fertig. Denen gelingt alles und alle zehren an ihnen, wie der Sommer die Guttat fürs ganze Jahr besorgt.«

Darauf warf er seine Zigarre in den Rasen und ging schnellen Schrittes auf die Vorlaube zu, um den Jubilar zu begrüßen.

Diesmal war Doktor Nöhring mit seinem Jugendfreunde zufrieden.


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