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Vierzehntes Kapitel.

Am nächsten Montag kam Annemarie eine Viertelstunde zu spät zur Arbeit. Sie hatte rote Backen vom schnellen Laufen und reuevolle Augen. Ihre Entschuldigung war: »Morsach spielte. Heute früh ist er eingezogen.«

»Dacht' ich mir; ich hab' ein paar verlorene Töne bis herüber gehört. – Und das war so schön?« – Die Frage klang gelassener, als Wendelin zumute war. Denn eben bei diesem Horchen und Warten hatte er zum erstenmal gespürt, daß Annemaries Gegenwart kein Zwang mehr für ihn war, sondern eine Freude. Eine warme, weiche Gewohnheit, die man, wenn sie auch bindet, doch nicht mehr als Kette fühlt.

»Seltsam schön,« antwortete Annemarie. »Ich habe alles darüber vergessen.« Und jetzt klang die Reue auch in ihrer Stimme. Dennoch fuhr Wendelin fort: »William Weibezahn spielt besser.«

»O! –«

»Morsach kann nur sich selber spielen, Weibezahn gelingt es mit vielerlei Art Musik.«

»Haben Sie Morsach Chopin spielen hören?«

»Ja. – Das kann er. Chopin ist ihm aber auch am ähnlichsten.«

Annemarie war Chopin am fremdesten, deshalb fühlte sie eine geheimnisvoll grübelnde Bewunderung, wenn sie ihn hörte. Hier war etwas, mit dem sie sich nicht auf Du und Du stand. Die Jugend verehrt das, was anders ist, das Alter versucht es zu ertragen. Der »alte Herr« konnte sich eben jetzt darin üben.

Schweigend nahm Annemarie ihren Hut ab und setzte sich auf das rote Sesselchen. Dabei dachte sie: ›Morsach und Chopin von Doktor Wendelin unterschätzt. Schade.‹

Wendelin aber dachte: ›Du bist ein Narr. Warum redest Du gegen den Rattenfänger? Damit sie sich um so sicherer von seiner Melodie verlocken läßt? Einer Melodie, mit der sie nichts anzufangen weiß, die sie auf steiniges Land, nein, nicht einmal das, sondern auf schillernde Sümpfe führen könnte. Wo sie so gar keine Sumpfpflanze ist. Wo sie eher noch mit Kraft und Trotz zwischen Steinen einwurzeln würde. – Hätte ich lieber die Kathinka zu den Ameisen ziehen lassen, dann wäre das Zimmer besetzt gewesen. – Man muß nicht zu klug sein wollen, man muß auch den unsichtbaren Mächten etwas überlassen, sie sind weiser und weitsichtiger als unsere armseligen Augen. – Hoffentlich gehst du mit Rinkharts anderem Nachlaß geschickter um.‹ Forschend sah er Annemarie an: sie neigte den Kopf ein wenig über die Korrekturen, die auf ihrem Tische lagen; deren durfte sie jetzt öfter als Nachmittagsarbeit mit hinüber nehmen: die ersten Bogen zu Hermann Rinkharts nachgelassenen Schriften. Sie freute sich darauf, und in dieser Freude sah sie zu Wendelin auf: »Wollen wir anfangen?«

Ihre lächelnde Ruhe gab ihm auch die seine zurück. Er griff nach dem Manuskript, las vor, was er gestern für Rinkharts Lebenslauf entworfen hatte, hörte, was Annemarie, was die Tagebücher von dem behandelten Zeitabschnitt wußten.

Trotz Guido Morsach wurde dieser Arbeitsmorgen, wie seine Vorgänger gewesen waren: er fügte einen Stein zum Denkmal des Verstorbenen und spann einen Faden zu dem Band, mit dem Rinkhart die beiden Kinder seines Herzens hatte binden wollen.

Als es aber Eins schlug, wußte Wendelin wieder, daß drüben Tür an Tür mit Annemarie Chopin gespielt wurde, daß man die Zeit darüber vergaß, daß man den Spieler überschätzte.

Sollte er sich nicht wenigstens Gewißheit verschaffen können, ob Morsach eine Gefahr war? – Um ihretwillen.

Die Klinke in der Hand, blieb Wendelin stehen und sah Annemarie forschend ins Auge. »Sie sind nun drei Monate hier. Ist Ihnen besser zumute? Sind Ihre Tage wieder reich und bunt und gesegnet?«

Annemarie sah an ihm vorbei in das Wintergrau hinaus. Sie schalt sich undankbar und konnte doch nicht ja sagen. Gerade heute nicht, wo die Musik alle Sehnsucht und alle dunkeln Gefühle in ihr aufgescheucht hatten, die sich duckten, wenn sie bei ihrer Arbeit war oder mit wacher Kraft und hartem Willen im Kampf gegen sie stand.

Wendelins Frage weckte die schwermutsvollen, erschlaffenden Melodien wieder, und in dem schönen Gesicht, das nicht lügen konnte, stand Leid und nichts als Leid.

Über Wendelin kam eine nervöse, zornige Angst. Sah es so in ihr aus? Dann hatte er ihr freilich gar nichts zu geben vermocht, dann war nicht nur Morsach eine Gefahr, sondern jeder andere bunte Vogel, der ihr über den Weg flog, auch. Seine Sorge versteckte sich hinter Schulmeisterei.

»Aber jetzt bin ich unzufrieden mit Ihnen. Sie sind gesund und haben Ihre Arbeit, eine Arbeit, die Sie nicht um des Lebens Notdurft treiben, sondern von Herzen. Das ist doch das beste, was uns Erdenkindern werden kann.«

Annemarie schloß die Augen. Sie durfte ihm doch nicht sagen, wie bange ihr vor der Zeit war, wo diese Arbeit zu Ende sein würde, und daß dies Bangen selbst in ihre reichsten Stunden seinen Schatten warf, trotz aller Tapferkeit.

»Also das ist alles nichts,« sagte er traurig.

Da sah Annemarie bittend zu ihm auf. »Ich bin undankbar. Aber soll ich Sie anlügen? Heute morgen habe ich mich sogar nach meinen Spittelweiblein gesehnt.«

»Wonach?«

»Sie wissen das wohl nicht. Ich hatte daheim meine Weiblein. Jeden zweiten Nachmittag ging ich zu ihnen. Es tat ihnen gut, daß sich jemand um sie kümmerte, dem es nicht oblag; und wie sie sich nun erst an mich gewöhnt hatten, taten sie mir alles zu Gefallen und trugen mir all ihre Sorgen zu. Kleine enge Spittelsorgen; große warme, die hinaus führten zu ihren Angehörigen, die sich noch in der Welt abmühten. Da mußte ich manche Botschaft übernehmen und manchen Bescheid bringen, durfte schlichten, trösten und raten. Und ich brauchte eine Menge Lebenskunst dabei. Manchmal wurde sogar eins eifersüchtig, denn sie waren mir alle gut.«

Annemaries Augen leuchteten, nun erlosch das wieder, als sie schwieg.

›Die taten ihr wohl,‹ dachte Wendelin, ›ich vermag es nicht.‹ Und dann fragte er, wie sie darauf gekommen sei.

»Eine alte Magd von – unten zog ins Spital; bald danach wurde sie krank, und ich kümmerte mich um sie. Da sah ich, wie es stand, und daß so viel Alter beieinander ein bißchen Jugend brauchen konnte.«

»Damals sahen Sie – und jetzt sehen Sie nichts?« fragte Wendelin leise.

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein. Mir scheint, ich kann niemand mehr wohl tun. – Aber,« fügte sie hastig hinzu, als müsse sie etwas verbergen, »ich finde wohl auch noch unter Bienen und Ameisen ein paar – Spittelleutchen, denen ich hie und da eine Freude machen kann.«

»Dabei sind Sie ja schon. Bin ich nicht längst für einen spittelreifen alten Herrn erklärt worden?« Aber das klang spöttisch, und Annemaries Augen schweiften zu der leeren Vase hinüber. – ›Nein,‹ dachte sie, ›ihm kann ich nicht wohltun, aber vielleicht hab' ich bisher über dem einen versäumt, auf die Nöte der anderen zu achten.‹

An diesem Nachmittag ging sie zum erstenmal mit Tante Pinchen in Dederichs Atelier. Bisher hatte ihr davor gegraut, heute besiegte das heiße Verlangen, jemand froh zu machen, ihr Widerstreben.

Das Frohmachen glückte ihr. Dederichs Zunge schlug Freudenpurzelbäume, so stockbayrisch, wie es nur irgend ein alter Münchner konnte. Dann verstummte sie und ließ den leuchtenden, bohrenden Augen das Wort.

Auch die redeten deutlich. Annemarie war fröhlich an diesem Abend, die Luft schien ihr leichter und der Weg glatter, die Ameisen waren unterhaltsamer, und ein feiner Sonnenschimmer zog sich über die grauen Nebel, die Chopin aufgescheucht hatte.

Sie fand auf einmal in allen Stuben und in allen Herzen zu helfen, denn sie wollte es mit leidenschaftlicher Kraft, sie wollte sich frei machen von den Ja und Nein, die von außen kamen, wollte sich retten vor ihm, dem sie so gern etwas gewesen wäre und der sie nicht brauchte.

Darüber machte sie sich nicht klar, daß auch die anderen, die abends und mittags beisammen saßen, immer farbiger und beweglicher wurden. Es gab eigentlich gar keine Ameisen mehr, sie waren alle etwas helikonadisch angehaucht.

Unbereitlein aber flüsterte Annemarie zu: »Mischt sie Morsach nicht wundervoll auf? Und, Fräulein Rügemer, wie finden Sie seine Augen?«

»Er ist ein guter Gesellschafter, und seine Augen sind wechselnd wie die Wellen der Nordsee. Ich würde mir etwas Beständigeres zum Schwärmen aussuchen.«

Elsabeth hatte die Arme um Annemaries Nacken geschlungen, legte ihr Köpfchen zurück und sah zu ihr auf. »Aber das ist doch gerade so aufregend schön, daß man nie weiß, was die nächste Minute bringen wird. Und, daß er nicht Ihr Geschmack ist, finde ich geradezu romantisch, denn er betet Sie natürlich an.«

Annemarie lachte. »Aber Elsabee! Das muß Ihnen geträumt haben.«

»Nein,« sagte das Unbereitlein melancholisch. »Träumen tu' ich andere Sachen, aber ich seh' es. Obgleich er es in einen Mantel von wundervoller Hochachtung hüllt und Sie anbetet wie Tasso die Prinzessin im ersten Akt. Und es ist ganz gut so: es liegt Gerechtigkeit drin. Sie mögen ihn nicht und – andere bemühen sich vergeblich um ihn.«

›Gefall' ich ihm wirklich,‹ dachte Annemarie, ›und mag ich ihn wirklich nicht?‹

Die hochachtungsvolle Verehrung merkte sie wohl, aber die war sie gewöhnt.

Und wer bemühte sich um ihn?

An diesem Mittag wanderten ihre Augen prüfend die Tafelrunde entlang.

Die Schwestern Schäftlein? – Sie sahen vergnügt aus, denn ihr Weizen blühte, in Flammen stand keine.

Tante Pinchen? – Noch weniger. Ihr Humor wurde von Tag zu Tag behaglicher. Humor und Behagen gedeihen nicht über dem schwelenden Feuer einer unglücklichen Liebe.

Auch aßen jetzt noch zwei junge Dinger da, Schwestern, die Käsmodel eingeführt hatte. Dora, die jüngere, war mit Maschinenschreiben und Korrekturlesen in seinem Verlag beschäftigt. Die blasse Lore arbeitete an der Post. Wo die beiden wohnten, wußte niemand, denn sie hätten ihr Bodenkämmerchen keinem zeigen mögen. Sie arbeiteten sich heute müde, um sich morgen satt essen zu können. Die hatten keine Zeit für Tändelgedanken.

Erst am nächsten Sonnabend sah Annemarie, wer sich um Morsach bemühte.

Nicht laut, nicht auffällig, aber mit zäher, willenskräftiger, unverscheuchbarer Geduld. Und mit ganz der gleichen unauffälligen, zähen Geduld wehrte sich Morsach gegen Kathinka Birk. Es war ein stummer Kampf, Angriff und Abwehr – freilich, er mied ihn nicht, er suchte ihn beinah.

Und wenn sich Morsach wehrte, war es, als würde dürres Rosenholz in eine Flamme geworfen: es loderte und duftete. Wehrte sich Wendelin, war es ein kalter Wasserstrahl, nichts blieb zurück als schwelende Asche.

Kathinka wußte nicht mehr, weshalb München sie gelockt hatte.

›Arme, kleine, dumme Elsabee‹, dachte Annemarie und wünschte Ferry und Karlmann herbei als Tröster und Gutwettermacher.

Dabei kam ihr zum Bewußtsein, wie völlig sie das Leben von dem unteren Stockwerk des Professorenhauses getrennt hatte, daß die bunten, fröhlichen Bilder ihrer Jung-Mädchen-Stunden täglich mehr verblaßten.

Wie fremd ihr Rinkharts geworden waren, empfand sie reuevoll, als sie ihre Weihnachtsgeschenke besorgte. Kaum, daß ihr etwas einfiel, sie konnte sich nicht mehr besinnen, was ihnen Freude zu machen pflegte, und Lida hätte sie in ihrem Christnacht-Heimweh so gern etwas recht Liebes, Zärtliches geschickt.

Am vierundzwanzigsten kamen dann mancherlei Lebenszeichen vom Professorenberg, wo alle Kinder vereint waren, und Neujahr blieb in der alten Stadt keine Gasse stumm. Selbst die Spittelweiblein hatten nach langem Beraten, Federnversuchen und Papierverderben einen »honorigen Glückwunsch« fertig gebracht.

Aber alles dies mutete Annemarie an wie Botschaft von einem anderen Stern. Die einzige Nachricht, die lebendiger wirkte, kam ihr nach Ferienschluß von Ferdinand aus Berlin.

›Ich wollte Dich in den zwölf Nächten besuchen, aber die Familienempörung darüber, daß ein filius Rinkhart einige dieser zauberkräftigen Tage vom Professorenberg abwesend sein wolle, war so groß, daß ich meine Münchner Spritze auf Fastnacht verschoben habe. Dann aber lasse ich mir von niemand dreinreden, und wenn ich nicht irre, wird noch ein anderer mitkommen.‹

Der Gedanke an diesen Besuch machte Annemarie unruhig. – Ob Ferry heimlich kommen will? – Das durfte er nicht. – Und wenn er darf, wie wird er sein? –

Sie nahm den Brief mit zu Wendelin, in der sicheren Erwartung, daß sie sich dort zu Ruhe reden werde.

»Freut Sie das Wiedersehen?« fragte der alte Herr und sah sorgenvoll in ihr erregtes, rotwangiges Gesicht.

»Sehr, wenn es noch der alte Ferry ist.«

»Käme er sonst?«

Da fühlte sie schon die Ruhe und Zuversicht, die sie erhofft hatte. Wendelin aber dachte: ›Da ist nun wieder ein Störenfried. Das Schicksal will unserer Arbeitsruhe nicht wohl, und ihr wird's die alte Bitterkeit wieder reichlich in den Lebenstrank mischen.‹

Annemarie fand Wendelin heute zerstreut, ihre Arbeit förderte nicht. Aber warm und gut war ihr zumute, als sie nach Hause ging; diesmal allein, denn er mußte noch nach der Post.

Unwillkürlich sang sie leise im Treppaufgehen, sie wußte nicht was, und das Volksliedchen, das ihr in die Kehle kam, hatte nichts mit der Art ihrer Stimmung zu tun. Sie mußte singen, wie der Vogel, wenn ihm das Herz warm wird.

So traf sie Morsach. Er hatte sie ins Haus gehen sehen, außer Atem kam er hinter ihr drein.

»Grüß Gott!« rief er und schüttelte ihr die Hand. »Macht Sie Ihre Arbeit da drüben so froh?«

Nachdenklich sah Annemarie Morsach an. Seine Augen waren voll und fragend auf sie gerichtet, nicht so wie auf gleichgültige Menschen, und nicht mit dem lockenden Seitenblick, mit dem er Unfug treiben wollte. Er kam ihr fremd vor, weil er sich ganz unmittelbar gab.

Endlich sagte sie: »Bin ich froher als sonst? Dann muß der Brief von zu Hause schuld sein.«

»Ein Zuhause haben Sie auch noch!« rief Morsach unwirsch.

Annemarie mußte über seine Zornmiene lachen, obwohl sie sich mit dem gedankenlosen Wort eben selber weh getan hatte. Sie war ja nirgends zu Hause.

»Nun lachen Sie, Fräulein Rügemer, ich finde Sie unheimlich vielseitig.«

»Weil ich sogar lachen kann?«

»Nein, weil – aber ich wollte ganz was anderes sagen, ich wollte sie fragen, was Sie eigentlich drüben arbeiten? Oder ist das ein Staatsgeheimnis?«

›Das konnte er mich doch auch oben fragen‹, dachte Annemarie, ›weshalb verstellt er mir den Weg auf der Treppe?‹

Aber sie gab ihm freundlich Bescheid über Hermann Rinkharts Nachlaß und Hermann Rinkharts Lebensskizze.

»So, das?!« sagte Morsach. »Und da braucht der alte Herr Sie noch immer?«

In dem Augenblick hörten sie Wendelins Schritt im Hausflur, und Morsach schloß mit schnellem Griff die Vorsaaltür auf.

Hatte dies jähe Ende der Unterredung den Eindruck verstärkt, oder war Wendelins Zerstreuung vom Vormittag schuld daran, Annemarie kam nicht von dem Gedanken weg: ›Er braucht dich ja gar nicht mehr. Wenigstens nicht mehr Tag für Tag, er will dir das nur nicht sagen.‹

Am nächsten Morgen ging sie zur gewohnten Stunde hinüber, einen schweren Entschluß im Herzen.

Sie saß in ihrem kleinen Lehnsessel, mit dem Rücken gegen das Licht, den schmalen Tisch vor sich, auf dem ihr Griffel und ihre Blätter lagen. Aber sie sah nicht auf ihre Arbeit, sondern ins Zimmer hinein, als wolle sie sich etwas sehr Liebes zum Abschied einprägen.

Wenn sie den Kopf ein wenig wandte, sah sie Wendelins Schreibtisch, sah all die kleinen Dinge, die er brauchte und auf denen seine Augen ruhten, wenn die Gedanken zu schnell oder zu langsam kamen, als daß die Feder ihnen hätte dienen können. Sie sah die Bilder an den Wänden hängen, die er gern hatte, und die Bücher, mit denen er Zwiesprache hielt. Das war nun wieder ein lieber, heimatlicher Ort, von dem sie scheiden sollte, wieder etwas, was sie verlor.

»Sie sehen aus, als ob Sie etwas auf dem Herzen hätten,« sagte Wendelin.

»Das hab' ich auch,« antwortete sie schüchtern. »Ich will Ihnen sagen, daß ich nicht mehr herüberkomme.«

Er sprang auf und setzte sich gleich wieder nieder.

»Sie wollen von München abreisen?«

»Nein, o nein – soll ich denn fort?«

Das klang so traurig, daß er sich gar nicht mehr zurechtfand.

»Es hat Ihnen jemand gesagt, es sei – wunderlich, daß wir hier zusammen –«

»Nein, o nein.«

»Sie haben es satt?«

»Wendelin!«

Seine Stimme war immer härter geworden, jetzt stand er doch auf. »Nun also, weshalb?«

Annemarie sah still geradeaus und fühlte ihr Herz bis zum Halse hinauf klopfen, aber sie sagte tapfer, mit einem Versuch zu scherzen: »Jetzt sind Sie aber gar kein alter Herr, jetzt bin ich die verständige Alte, denn ich merke doch, daß nicht genug für mich zu tun ist, daß Sie im glatten Fluß des Schreibens gestört werden durch die Überlegung, was etwa ich Ihnen helfen könnte, und daß Sie mich nur noch aus Mitleid kommen lassen, um meinen leeren Tagen einen Zweck vorzutäuschen.«

Wendelin hatte sich wieder in der Gewalt. Langsam durchmaß er die beiden Zimmer. – Sie hatte ja recht, es war verständig, es war gut beobachtet; seine Arbeit war Flickwerk gewesen in den letzten Wochen. Aber daß sie so klug und kühl hatte beobachten können, war doch schade. Er selber hatte kaum gemerkt, daß sie ihn hinderte; sie aber schob das leicht beiseite.

›Nun denn!‹

Er setzte sich ihr wieder gegenüber und sah sie mißtrauisch an.

»Und was werden Sie tun? Ist Ihnen nicht angst vor den leeren Zwischentagen? Hoffentlich gibt es nichts, was Sie hindert, sofort da zu sein, wenn –«

Er hielt inne.

»Wenn Sie mich für Onkel Hermann brauchen – nichts. Ich werde von einem Mal auf das andere warten. – Inzwischen,« fuhr sie tapfer fort, »bekomme ich natürlich unsere Korrekturen hinüber? Ich hab' auch eine Menge Bücher zu lesen, damit ich Ihre Arbeit besser verstehen lerne. Fräulein Pinchen kann eben einen Repetitor brauchen. Franz Dederich quält mich um Sitzungen –«

»Ach so, Sie haben die nötigen Spittelleutchen drüben entdeckt,« fiel Wendelin spöttisch ein. »Nehmen Sie sich nur vor der Eifersucht in acht. In dieser Richtung sind sie im Norden und Süden ganz gleich.«

Sein Ton verletzte Annemarie. Sie brachte mit Herzklopfen ein Opfer, und er spottete zum Dank. Davor verflog ihre Wehmut. Herb und kräftig stand sie vor ihm und sagte: »Also ich gehe – wenn Sie mich brauchen, so rufen Sie mich.«

Wendelin ließ sie ungeleitet davongehen, trat ans Fenster und sah ihr nach, wie sie über die Straße schritt und drüben im Ameisenhügel verschwand.

Wenn sie wenigstens in dem Vorderzimmer wohnte!

Wenn wenigstens die Kathinka neben ihr hauste!

Wenn dieser Grünspecht Ferdinand nicht käme!

Wenn sie nicht gar so leicht gegangen wäre!

Aber sie hat ja recht. Sie hat mit genialem Instinkt den Augenblick getroffen, wo sie Hermann Rinkhart hier im Wege war. Sie ist wieder gesund, sie ist wieder ganz und gar unzeitgemäß gesund. – Und sie hat sich selber ins Helle geholfen.

Du aber bist ein Narr gewesen. Bist draußen geblieben, als das Leben dir seinen blühenden Garten erschloß – nun hat es die Tür wieder zugeworfen, und kein Rütteln öffnet die Pforte zum zweitenmal.

Wendelin arbeitete mit leidenschaftlichem Eifer, aber den kleinen Lehnsessel ließ er stehen, und allemal, wenn er aufsah und ihn leer fand, kam er auf kurze Zeit vom Denken ins Träumen. Das war ihm nie geschehen, solange Annemarie ihm gegenüber saß.

Frau Kartlmeyer aber brachte einen Palmkätzchenstrauß vom Viktualienmarkt heim, steckte keck auf eigene Hand das schüchterne Frühjahrsversprechen in die Sehnsuchtsvase und stellte sie auf das Tischchen, an dem Annemarie gesessen hatte.

»Was soll das heißen?« fragte Wendelin unwirsch.

Da sah die Frau das leere Sesselchen an und antwortete: »Seitdem daß uns Freilein nimmer kimmt, hoab i so Zeitlang. I mein, Herr Doktor, dös muß Ehna akkurat so zumut sein, un do hoab i denkt, i muß suchen, ob i's mit dena Zweigerln ebbs aufbessern kann.«

Wendelin schüttelte den Kopf, brummte etwas von Phantasterei, aber die Weiden blieben im Glas.


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