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Dreizehntes Kapitel.

»Heute haben wir den Tag der Ereignisse,« sagte William Weibezahn und schüttelte seinen grüngrauen Filz. »Der erste Schnee ist gefallen, Morsach ist angekommen und unser Dicker –«

Das weitere verhallte, denn der dicke Dichter hielt ihm den Mund zu. Es blieb nur ein Gemurmel übrig, nach dem keiner hörte, denn die Neuigkeit Morsach schlug ein.

»Und nicht nur bei den Damen, was ich gelten lassen würde, weil es in die Naturgeschichte gehört, gegen die man nicht bocken kann,« sagte Weibezahn ärgerlich, »auch die Männer gebärden sich, als käme ein Messias, das –«

»Weckt den Neid,« fiel Wendelin ein. »Ärgern Sie sich nicht, Weibezahn, Sie können Ihr Teil und Sie leisten was. Ist es die allgemeine Schreierei, die glücklich macht? An die gewöhnen sich die Ohren schließlich so, daß es nach nichts mehr klingt, und dann jammert das Herz nach mehr, und der Eitelkeitsmagen kriegt Heißhunger: ein gesundheitswidriger Zustand.«

Weibezahn lachte, schüttelte Wendelin die Hand und setzte sich zu ihm.

»Sie sind ein wohltuender Umgang, Doktor, für jedes Fieber haben Sie das nötige Eisstückchen bei der Hand.«

»Aber wo mit Wärme kuriert werden müßte, versag' ich,« antwortete Wendelin und blickte unwillkürlich zu Annemarie hinüber, die immer noch am Professorenberg litt.

Allemal, wenn er sie im bunten Betriebe des Bienenstocks sah, kam ihm das wieder zum Bewußtsein, mochten die Arbeitsstunden der Woche noch so hell und freundlich geleuchtet haben. Und es kränkte ihn, daß sein Einfluß nicht kräftiger war.

Darüber versäumte er Guido Morsachs Eintritt. Der stand einen Atemzug lang neben dem Kleiderrechen und musterte die Versammlung. Da hatte er alle Blicke gefangen, alle Hände winkten ihm zu, alle Lippen riefen ihm Willkommen entgegen.

Langsam, lachend, im Vollgenuß seines Einflusses, ging er durchs Zimmer zu Monsieur und Madame. Nach allen Seiten ließ er Scherzworte fliegen, Neckereien, Grüße, kleine, feingeschliffene Wortjuwelen. Aber mit Mangolds sprach er.

›Armes Unbereitlein,‹ dachte Annemarie lächelnd, ›es wird doch auf dem Helikon für ihn geklopft werden.‹

Morsach fühlte diesen lächelnden Blick, wandte sich langsam nach ihr hin und verstummte. Erst als Madames Frage ihm zum Bewußtsein brachte, daß er ihr einen halben Satz schuldig geblieben war, ließ er den Blick weiter gleiten. Dann sagte er: »Ich sehe zwei neue Gesichter.«

Mangolds berichteten; sie unterstrichen dabei ihre Schönheit und forderten den Virtuosen auf, »selber herauszufinden, was auf den Helikon gehöre«.

Ein ermutigender Schlag auf die Schulter des Wohnungslosen redete deutlich, Morsach war aber eben jetzt arg zerstreut. Er nickte Monsieur gedankenlos Zustimmung, dann drehte er kurz zu Wendelin bei und setzte sich an dessen Linke, Aug' in Auge mit Annemarie Rügemer.

Es wurde ein »goldener Abend«. – »Der Honig troff«. – »Es duftete nach Rosen und Jasmin«. Und diesmal war es Morsach, der alle mit sich fortriß. Sein bartloses, bewegliches Gesicht, das durch die tief brünetten Farbenkontraste unter all den milderen deutschen Übergängen etwas ganz Besonderes versprach, schien jede leiseste Empfindung zu verraten und verbarg doch eben mit diesem leichten, losen, aufreizenden Wechsel den eigentlichen Morsach durchaus.

Annemarie war es, als sähe sie einem glänzend ausgeführten Scheingefecht zu. Hell und scharf, wie Stahl an Stahl, klang die Wechselrede, und gab doch keine Wunden.

Oder als säße sie im Theater und bekäme ein Stück vorgespielt: modern, realistisch und doch phantastisch schimmernd in einer schwebenden Stimmung. Man konnte ihm nicht auf den Grund kommen, es bewies nicht, was es beweisen wollte, es widersprach sich von Viertelstunde zu Viertelstunde, aber es enthielt viel glänzende Spruchweisheit.

Einmal versuchte es Wustrau, kalt Wasser in die Begeisterung zu gießen, er fragte spöttisch nach der ewig unvollendeten Sinfonie.

Aber Morsach lehnte mit solch schulbubenmäßiger Fröhlichkeit jede Erinnerung daran ab, daß er auch hierbei die Lacher auf seiner Seite hatte.

Nur Fritzchen sagte noch, wenn schon mit lachendem Mund: »Aber Morsach, anfangs ging die Sache doch äußerst flott.«

»Aller Anfang ist leicht, damit will es uns locken und verlocken! Aber, ›wenn dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht‹, lehrt uns ein weiser Mann. Also lasse Dich nicht locken von Deinen allzuleichten Anfängen.«

»Sondern gehe hin zur Ameise, Du Fauler, und siehe, wie man sich's sauer werden läßt,« deklamierte Monsieur mit dem Pathos eines Predigers in der Wüste.

Morsach fing den Hieb ritterlich auf: »Auch unter den Ameisen gibt es Flügelgeschöpfe.«

»Solang es Mutter Natur in Gnaden gestattet.«

»Mutter Natur!« Morsach reckte die Arme empor wie der sonnenanbetende Knabe. »Du liebe Mutter Natur. Spenderin aller Wärme und aller Fülle, aller Nahrung und aller Kräfte, aller Wunder und aller Wonnen.«

»Aller Schneeflocken, aller Gebirgswinde und aller Katarrhe,« rief Fritzchen und hustete kräftig.

»Lästerer, verstumme!«

»Bringt sie nicht erbarmungslos um, was sich zart erweist?«

»Soll sie es hätscheln? Sie ist verschwenderisch, wie jeder, der seine Kraft und Fülle spürt. Schwäche gebiert den Geiz. Der entkräftete Kulturmensch will retten, was das Retten nicht lohnt, weil ihm die Schöpferkraft fehlt, die lachend Neues gebiert. Der brave Handarbeiter in Noten vollendet ängstlich all seine Moll- und Duranfänge, weil ihm bange ist, es könnte das Letzte sein, was ihm einfällt. Mutter Natur schreibt nicht jede Sinfonie zu Ende, die sie beginnt.«

»Oho!« – »Aha!« – »Er hält sich für eine Naturkraft.«

Und Morsach antwortete mit fröhlichem Spott: »Mich? Wer wird allezeit von sich selber reden?«

Dabei schickte er einen der Seitenblicke, wie sie die kleine Konservatoristin beschrieben hatte, zu Annemarie hinüber. Sie erkannte den Blick sofort, nur sahen seine Augen jetzt schwarz aus in funkelndem Übermut. Und es war, als trachte er danach, sie in diesen Übermut hineinzuziehen: sie allein, mit ihm gegen alle die anderen.

»Beim Himmel, dieses Kind ist schön,« sagte er plötzlich halblaut.

Wendelin ärgerte sich, es gefiel ihm heute nicht im Bienenstock. Und nun kam auch noch Kathinka Birk mit den bettelnden Augen auf seine Ecke zu und setzte sich neben Annemarie.

Morsach sah sie sich gründlich an, und Wendelin war es heute noch leidiger als sonst, die beiden Schönen nebeneinander zu sehen.

Die Böhning aber ging vorüber, neigte sich ein wenig zu Morsach und flüsterte: »Wie gefällt Ihnen der Paradiesvogel?«

Morsach drehte sich mit ganzem Leibe herum – die dramatische Lehrerin sah er nicht mit dem berühmten Seitenblick an – und antwortete: »Mir gefällt stets am besten, was anders ist als ich.«

»Haben Sie damit viel Glück?«

»O Wendelin! Doktor Hartmut Wendelin! Sind Sie unter die Beichtväter gegangen? Oder unter die unangenehmen Menschen, die einen immer gerade das fragen, was man sich nicht einmal selber beantworten möchte, geschweige denn anderen?«

›Warum hab' ich sie hierher gebracht‹, dachte Wendelin, sah Annemaries rötere Wangen und glaubte Hermann Rinkharts vorwurfsvollem Blick zu begegnen.

›Gerade als ob ich sie in den Kampf hätte stoßen wollen, zu dem ich selber ihr doch die Kräfte abgesprochen habe. Gerade als ob ich sie dem panischen Schrecken in die Arme zu jagen suchte.‹

Auf einmal war es, als sei das Wort aus seinen Gedanken herausgeflogen und draußen aufgefangen worden. Wie einen Spielball warf's einer dem anderen zu, fing's und besah sich's von allen Seiten.

Käsmodel voran mit vergnügter Wichtigkeit.

»Aber Onkel Käsmodel,« sagte Morsach schalkhaft, »was wissen Sie davon? Ihr Verlag gibt sich doch nicht mit Bocksfüßen, Panflöten und Faungesichtern ab.«

Es war schon spät, sie lachten durcheinander. Der dicke Fritz deklamierte Bierbaumsche Pangedichte. Kathinka Birk lächelte weich und träumerisch. Annemarie erschrak.

Das Wort war wie ein Blitz, der vergangene Bilder erhellte; alle dunkeln, bösen Worte, die Wendelin einst zu ihr gesprochen hatte, wurden lebendig.

Sie sah ihn an. Dachte er nicht auch an das Festmahl auf dem Professorenberg? –

Aber er hatte keinen Blick für sie, er füllte Gläser mit Punsch, den Morsach zum Willkomm gestiftet hatte.

Das war wieder eine Enttäuschung; Hermann Rinkhart vergaß niemals, was sie miteinander geredet hatten, ein Wort, ein Blick, und sie spannen jeden flatternden Faden leicht und sicher wieder an. Und wie Annemarie leise von Tag zu Tag mehr Wendelin mit dem Geschiedenen verschmolz, so war es ihr von mal zu mal schmerzhafter, wenn er sich anders zeigte als der, dem er gleichen sollte. Dann wachte sie aus dem Traumleben auf, in das sie die Morgenstunden am Fuße des Helikon einhüllten und schalt sich eine Närrin und rechnete sich vor, welch ein Nichts sie für Doktor Wendelin sei. Hatte sie das begriffen, so überfiel sie hilflose Trauer. Einsam war sie in einem dunkeln Raum, den sie durchmessen mußte; ihre Arbeit trug sie wie ein Steg, der ins Unbekannte hinausgeschlagen war, wenn die zu Ende ging, würde sie haltlos und weglos im Leeren hangen – ach, und Hermann Rinkhart war ihr so weit voraus, daß sie selbst seine Stimme nicht mehr hörte.

Und während Annemaries Gedanken aufgescheucht und flüchtig zwischen der Festtafel des Professorenbergs und Wendelins Bibliothek hin und her flatterten, tranken die anderen ihren Punsch aus und ließen ihre Worte um den panischen Schrecken gaukeln, »der eine durch und durch unmoderne, höchst klassische Angelegenheit sei, kaum noch von historischem Wert.«

Onkel Käsmodel wurde bös: »Ich muß Ihnen sagen, Herr Fritzchen, wer nichts von der Antike hält, ist ein Barbar. Natürlich meinen wir es jetzt anders. Griechen sind wir nicht mehr. Aber wir zerbrechen die schöne Schale nicht, die sie uns hinterlassen haben, wir stellen sie neben unser neues Gerät und füllen sie mit unserem eigenen Geist. Siehe Goethes holdselige Maid aus Tantalus' Geschlecht. So haben wir auch das Wort vom foppenden Pan aufgenommen, und das Wort hat sich mit uns gewandelt. Die alten Herrschaften hatten grobe Nerven und sehr gute Augen, das gab Natursymbole. Wir, Seelensucher und Gefühlstiftler, füllen die Schale mit unseren Stimmungen und Feinheiten, mit unseren Lüsten und unserem Grauen.«

»Vor allzulangem Gerede,« fiel Fritzchen ein. » Ich sage: Den gewaltigsten Schrecken spürt ein tüchtiger Kerl, wenn er seine eigene Natürlichkeit entdeckt.«

»Ich habe mich schon oft entdeckt und bin noch nie vor mir erschrocken.«

»Glaub ich, Morsach,« sagte Weibezahn, »aber vielleicht vorm Tod, wenn wir plötzlich spüren, daß wir seine Leibeigenen sind.«

»Oder vor der harmonischen Größe des Geschaffenen, an der die Menschlein zu verknitterten Zwergen zusammenschrumpfen,« knurrte Dederich in seinen Strubbelbart.

Monsieur aber hob das Glas und sagte: »Kinder, redet in vorgerückter Stunde keine Leitartikel daher, sondern laßt uns Menschen sein.«

»Und einander lieb haben,« fiel Kathinka fröhlich naiv ein, als habe man ihr ein günstiges Stichwort gegeben.

Dafür war Morsach auch, stand auf und setzte sich zu Magdalene Schäftlerin.

Sowie er weg war, neigte sich Wendelin über den Tisch und fragte Annemarie: »Warum sagen Sie nichts dazu?«

»Es tut mir weh,« antwortete sie leise.

Da sah auch er den Festsaal mit der Jubiläumsgesellschaft vor sich.

Und obwohl so ziemlich jeder noch etwas über den alten Pan und seine Taten und Untaten auf dem Herzen hatte, zwang ihnen Wendelin doch binnen zwei Minuten ein anderes Thema auf.

Morsach konnte das Zwiegespräch der beiden nicht verstehen, aber seine besondere Art merkte er wohl.

»Ist das ein Brautpaar, Fräulein Magdalene?«

»O Morsach! Verloben auch Sie jedes Männlein und Weiblein, denen das Leben an ein und demselben Busch Beeren reifen läßt?«

»Jedenfalls glaube ich, daß Gelegenheit – Liebe macht.«

Darauf mietete er sich in dem Zimmer ein, das Wendelin Kathinka Birk ausgeredet hatte, und bestellte noch eine Terrine Punsch.

Etliche wehrten sich dagegen, etliche lobten den Einfall. Wendelin bestellte sie einfach wieder ab.

Als Morsach aufbrausen wollte, sagte er mit beschwichtigender Freundlichkeit: »Wenn Ihre Rückkehr noch weiter begossen werden muß, so lassen Sie uns Männer anderswohin gehen. Im Bienenstock wird nicht mehr getrunken, und die Damen wollen nach Hause.«

›Wollen wir wirklich?‹ dachte Kathinka. Aber niemand widersprach, und als sie erst an der Luft waren, gingen nur Wendelin, der dicke Fritz, Monsieur und Weibezahn mit. Die anderen hatten genug.

Wendelin nahm sich den dicken Dichter unter den Arm und ließ die anderen voraus. »So! nun beichten Sie, Fritzchen, was für eine dritte Neuigkeit Weibezahn nicht verraten sollte.«

Fritz bekam einen Hustenanfall.

»Fritzchen! Blamieren Sie sich nicht durch Feigheit und Hinterhältigkeit. Haben Sie das große Los gewonnen und sind nun bange vor Monsieurs weiten Taschen? Etwas können Sie dem armen Schlucker schon davon gönnen.«

Nun lachte der Dicke. »Glück hab' ich allerdings gehabt, wenn auch in anderer Weise. Das Schauspielhaus hat mein Lustspiel angenommen. – Bst! um aller panischen und sonstigen Schrecken willen, still! Fastnacht soll's aufgeführt werden, die Narrenkappe heißt's – aber bis Fastnacht ist noch ein Vierteljahr. So lange kann ich die Rederei darüber nicht aushalten. Gönnen Sie mir noch Schonzeit, Wendelin, Sie sind ja au fond ein guter Kerl.«

»Bin ich das wirklich?«

»Na, Sie haben doch ganz gewiß nie über sich selber zu erschrecken brauchen.«

»Wissen Sie was, Fritzchen, ich will Ihnen einen Stoff schenken. Sie können ihn Theorie und Praxis nennen; oder: Was er weiß und was er gern wüßte; oder: Die sieben Ecken, um die keiner sehen kann.«

»Nun, und –?«

»Der Held ist ein Menschenkenner, ein feiner, feinsinniger Seelendeuter. Er vermag jeden Charakter zu zergliedern und aufzubauen und folgerichtig sein Tun und Lassen zu entwickeln mit Künstlerhand. Allen Psychologen der Welt kann er unschätzbare Dienste leisten. Aber der Mensch, dem er gerade ins Auge sieht, ist ihm unter schillernden Schleiern verborgen.«


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