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Fünftes Kapitel.

Der Bienenstock, wo Helikonasten und Ameisen allsonnabendlich »ihren Honig eintrugen«, war ein schmuckloses, graues Zimmer. Die allgebräuchliche Wirtshaustafel in Hufeisenform stand darin, nüchterne Gasflammen erhellten reizlos alle vier Mauerecken; aber die beiden Fenster waren verhüllt: »Wir wollen keinen Ausblick, wir wollen Einblicke in Freundesherzen.«

Der Regulator, diesen Fenstern gegenüber, wurde beim Schlage acht mit einer schalkhaften Feierlichkeit angehalten: »Die Uhr schlägt keinem Glücklichen.« – Die einzige Tür war durch einen Kleiderrechen verstellt: »Ungesehen naht die Freude.« Und zu Häupten der Tafel, dort wo heute Monsieur Mangold als ›getreuer Imker‹ den Vorsitz führte, hing ein grotesker Bienenstock als Symbol der Versammelten.

Monsieur hatte ihn gemalt. Da dies eine gänzlich uneinträgliche Arbeit war, zu der ihn niemand drängte, gab er sich viel Mühe damit, und die ab- und zufliegenden Bienen seines Bildes stellten porträtähnlich sämtliche Sonnabendgenossen dar.

Man behauptete zwar, Monsieur habe alle Helikonasten mit sträflicher Vorliebe verschönert und alle Ameisen karikiert, aber Spaß hatten diese wie jene an ihrem »Plakat« und kamen gerne, wenn das »Samstagsgesumse« begann.

Die einen kamen oft, die anderen seltener. Nie fehlte Monsieur. Er vertrat seinen Helikon.

Nie fehlte Magdalene Schäftlein, die jüngere der beiden nahrhaften Schwestern, von denen Wendelin auf dem Wege nach dem Professorenberg erzählt hatte – sie vertrat ihren Ameisenflügel und war in ihrer anmutigen Fülle und Freundlichkeit ein gutes Aushängeschild für ihre gute Küche, während die magere Minna rechnend zu Hause blieb.

Nie fehlte auch ›die Böhning‹, ein schlankes Fräulein, Mittelalter; sie nannte sich bei jeder Gelegenheit ›die allergetreueste Biene‹ und zog Nutzen aus ihrer ›Treue‹, wie sie aus allem Nutzen zu ziehen verstand, was ihr in den Weg lief. Eine verunglückte Schauspielerin, die sich mit Stundengeben durchs Leben half. Aber es ging ihr nicht übel dabei. Sie wohnte im eigenen Quartier, unter lauter Schülergeschenken, deren sie sich sehr entschieden zu wünschen verstand. Den Mittagstisch teilte sie mit den Ameisen.

›Tante Pinchen‹ – auch ein Ameislein, und eines, das Gelehrsamkeit eintrug, nicht Süßigkeiten – behauptete, die dramatische Böhning habe eine so sichere Witterung davon, ob ein Mensch oder ein Unternehmen leistungsfähig sei, daß man sie als Wünschelrute für Bankgeschäfte und Kolonialämter verwenden könne. Wo nichts zu holen sei, würde sich die Böhning gewiß nicht rühren. Den Doktor Wendelin behandelte sie mit besonderer Hochachtung, folglich prophezeiten ihm die Bienen Ruhm, Ehre und eine baldige Professur.

Als der künftige Professor hinter dem Kleiderrechen vortrat, rief Mangold vom Hochsitz herüber: »Er ist da, er ist da, es behielt ihn nicht!« stand würdevoll auf, nahm den Hausgenossen beiseite und fragte, ob er schon auf dem Helikon gewesen sei.

Wendelin bejahte, und Mangold kümmerte sich nun nicht weiter um ihn, war aber so auf der Höhe seines Humors und seiner geselligen Talente, daß der dicke Fritz dem Musikgelehrten zuflüsterte: »Monsieur hat Geld gefaßt, wir werden morgen Mittag Roastbeaf bekommen.«

Eine Aussicht, die Wustrau leichter verschmerzen ließ, daß man seinen Vortrag über ein wiedergefundenes, höchst interessant notiertes Schäferspiel des Corelli nicht hören wollte.

»Es ist merkwürdig,« sagte er auf dem Nachhauseweg, wo Wendelin ihm nicht hatte entgehen können, »da reden sie alle vom Honigeintragen, und wenn man vorweisen will, wie einem die Wochenarbeit die Waben gefüllt hat, so wehrt sich männiglich dagegen.«

Wendelin mußte seine Gedanken vom Professorenberg holen, ehe er antworten konnte, dann sagte er: »Nehmen Sie's sachlich und nicht persönlich, ich würde mit einem Bericht über die Tätigkeit unserer Nervenstränge auch nicht zu Worte kommen, obwohl ihnen die weit buchstäblicher auf dem Rücken hocken, als Ihr braver Corelli, der ja wohl seit drei Jahrhunderten vermodert ist und beinahe ebenso lange verschimmelt. Unsere Bienen wollen Süßigkeiten.«

Wendelin hätte vor acht Tagen ganz dasselbe geantwortet und ärgerte sich darüber, daß ihm heute die Antwort bitter schien und daß sie auch bitter klang.

Das aber tat Wustrau gerade wohl, er schüttelte dem ›alten Herrn‹ besonders lebhaft die Hand zur Gute Nacht, fühlte sich ihm durchaus gesinnungsverwandt und ging mit einem sehr behaglichen Gefühl zu Bett.

Desto leidiger war Wendelin zumute. Er stellte fest, daß er schon wieder aus dem Gleichgewicht war, und zwar stak er zu tief in allerlei Gefühlen, um sich sofort Rechenschaft über seine Verstimmung zu geben.

Gefühle haben etwas Nebelhaftes an sich. Nebel macht undeutlich, vergrößert, täuscht und gönnt uns keinen reinen Atemzug.

Wendelin trat ans Fenster und sah auf die stille Gasse hinaus. Drüben bei den Ameisen verlosch Licht um Licht, auch das Schreibtischfenster, hinter dem Fräulein Minna Schäftlein allnächtlich als Letzte in ihrem Hausbuch den vergangenen Tag abschloß und den neuen vorbereitete, war dunkel.

Warum verdarben ihm die Bienen den Humor wieder, nachdem ihn das bißchen München und der Happen Helikon vorher so schnell von aller seligen und unseligen Torheit geheilt hatten?

Geheilt, eben weil es nur ein Bissen und ein Happen gewesen war. Ein Stückchen Armut, Leichtsinn und bequemes Behagen.

Die Masse davon hatte ihn verletzt, die vielen Kleinen wirkten schmerzhaft in ihrer Winzigkeit gegen den Vollmenschen vom Tage vorher; das Ich-Ichgeschrei der fröhlichen Eintagsfliegen war zu anmaßend gegen das Du und Wir des Mannes, der sein Leben lang an sich selber gearbeitet hatte, um sich für die anderen zu einem immer vollkommeneren Werkzeug der Erkenntnis zu machen.

›An sich selber arbeiten – das einzige, womit man sich das Recht an Glück erkaufen konnte. Und darin bist auch du noch so sehr Stümper, daß du dich mit nichten über die Eintagsfliegen im Bienenstock erheben darfst. Vielleicht haben sie dich überhaupt nur gestört, weil du dich in ihnen wie in einer Art Hohlspiegel verzerrt zu sehen bekamst.

›Überdem bist du noch ungerecht. Sie sind gar nicht alle Nichts – es sind gute, harmlose, tapfere und eifrige Menschenkinder unter ihnen, denen du zuzeiten willig Gerechtigkeit widerfahren läßt. Dir war nur eben jetzt der Appetit auf diese Sorte verdorben.

›Man soll nicht geringen Wein auf Edeltrauben trinken, darunter leiden Zunge und Magen und Hirn.

›Ich werde morgen nicht zu den Ameisen gehen, ich muß ihnen erst wieder gerecht werden können.‹

Wendelin schickte hinüber und verbiß sich in seine Arbeit. Das hatte alles ein anderes Gesicht bekommen, seit er mit Rinkhart darüber gesprochen. Nicht, daß irgend etwas Sachliches umgefallen oder erschüttert gewesen wäre, aber Ausblicke hatte er gewonnen in Gegenden, die ihm vorher fernab zu liegen schienen und die nun seine Arbeit weit über die Monographie einer kleinen Beobachtung hinaushoben.

Er las das schon Geschriebene, überschaute seine Anmerkungen, ordnete und sichtete seinen Stoff frei und sicher wie der Herr, nicht wie der Zufallsbesitzer mit seinem Eigentum schaltet.

Sein Herz brannte, sein Hirn war klar und kühl, und die Luft, die er fühlte, war leicht und rein wie Firnenluft. Er spürte die Gegenwart Rinkharts und rührte sich drei Tage lang nicht aus seiner Wohnung.

Wenn er ruhte, sah er Annemarie Rügemer auf der Wiese stehen, von der stürmischen Jugend umgeben, oder sah sie an Rinkharts Schreibtisch mit seinen Büchern und Heften verkehrend wie mit vertrauten Freuden. Die anderen sah er nie.

Dann kam die Erschöpfung und mit ihr das Verlangen nach Menschen. Er ging wieder zu Tisch nach dem Ameisenhügel.

Dort sah es anders aus als auf dem Helikon. Für Blumen war keine Zeit da. Großväterhausrat füllte das Zimmer, wohlerhalten, fleckenlos, aber aus der ärmlichen nachnapoleonischen Zeit, wo man nicht nur am Material, sondern auch am Geschmack gespart hatte.

Als Wendelin ins Eßzimmer trat, war schon alles versammelt, sogar Onkel Käsmodel, der einzige, auf den unter Umständen gewartet wurde, und der um dieses Hochgefühls willen hie und da ganz gerne einmal auf sich warten ließ.

Onkel Käsmodel war nicht nur die älteste Ameise, sondern wohnte auch schon seit neun Jahren bei den Schwestern Schäftlein. Er war Angestellter einer Verlagsanstalt, aber so einflußreich sich seine Stellung im Lauf der Zeiten entwickelt hatte, für die Ameisen war er mehr: Gewissensrat, Alterspräsident, Hausvater, Mittelpunkt. Ihm war wohl dabei, und die anderen fanden sich gut aufgehoben unter seinem Schutz.

Käsmodels Lebensformen waren etwas altmodisch, aber tadellos. Er begrüßte Wendelin besonders als von der Reise zurückgekehrt. Die leise Schattierung Vorwurf über drei versäumte Mittage konnte für reines Bedauern genommen werden, daß man seine Gesellschaft habe entbehren müssen.

Sowie er geendet hatte, bat Fräulein Magdalene mit liebenswürdiger Geschäftigkeit Platz zu nehmen, und das steife Fräulein Minna füllte der Schwester gegenüber am unteren Ende der Tafel die Suppe auf.

Dann nahm Fräulein Böhning mit der Wünschelrute die Führung: Sie sei letzthin im Bienenstock nicht dazu gekommen, aber es liege ihr doch sehr am Herzen von dem Jubiläum zu hören, denn Geheimrat Rinkhart sei doch eine Berühmtheit und die Illustrierte Zeitung habe eine ganze Seite für ihn, und sie habe immer eine Vorliebe für die Berühmtheiten der Gelehrtenrepublik gehabt, und –

Die Böhning wollte ihren schönen Satz mit Beifügung an Beifügung inhaltreich weiterführen, aber die anderen stürmten dazwischen und selbst Käsmodel, der Ausredenlassen für eine Menschenpflicht hielt, bat über die Böhning hinweg um einen Festbericht.

Wendelin gab ihn. Trocken, kaustisch, mit einem Humor, der manchmal zu salzig wurde.

Die Ameisen wußten ihn zu würdigen, man lachte und jubelte. Onkel Käsmodel kicherte in sich hinein, Tante Pinchen schüttelte vergnügt ihr braunes Haupt über die Männer der Gelehrsamkeit. Fräulein Magdalene merkte sich Jubiläumsanekdoten für ihre Gönnerinnen und bedankte sich nach Tisch bei Wendelin für den prächtigen Mittag.

Zwei Minuten später sagte Fräulein Minna, während sie dem alten Herrn den Mokka bot: »Ihr Bericht hat mir schlecht gefallen.«

Das hagere Gesicht war herb und unschön wie immer, die Schultern hatte sie eckig und unbeholfen zusammengenommen, so daß es aussah, als »geniere« sie sich, aber in den Augen war ein tiefer, ehrlicher Glanz.

Wendelin sah prüfend in diese Augen, dann hob er seine Tasse ein wenig und sagte: »Meine Hochachtung, Fräulein Minna.«

Bald darauf verabschiedete er sich durch ein kurzes allgemeines Wort von den Tischgenossen.

Als er nachher zu Hause auf seinem Langstuhl lag, rauchte und nach der Decke starrte, sah er Annemarie Rügemer zwischen den beiden Schwestern Schäftlein stehen und wußte nicht, welcher von beiden sie sich zuwenden wollte.


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