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Neuntes Kapitel.

Es wurden in diesem Sommer viele Briefe geschrieben von denen, die um Hermann Rinkhart trauerten, und es schien allen mehr oder weniger, als schrieben sie in die leere Luft hinein, denn das erwünschte Echo blieb aus.

Man schickte aber auch nicht alle Briefe ab, die geschrieben wurden, und an die heftete sich die Hoffnung: Wenn sie abgeschickt worden wären, vielleicht hätten sie den rechten Erfolg gehabt, und es kam wohl einmal eine gute Stunde, wo man das Versäumte nachholen konnte.

Ehe man aber so weit war, tat vielen das Herz weh.

»Annemarie Rügemer geht,« sagten die unten in der Stadt. »Die Rinkharts lassen sie fort, wo doch sonst jedes Herz an ihr hing, und man auf dem Professorenberg nicht leben konnte ohne das Licht ihrer blauen Augen. Gönnt man ihr die Erbschaft nicht? Es sind schon engere Bande um des Geldes willen locker geworden.«

Im Altweiberhaus des städtischen Hospitals flossen ehrliche Tränen.

Die auf dem Berg hatten sich äußerlich ergeben. Zeitkrankheit war's, der auch der Gesundeste nicht völlig entgehen kann. Aber wenn irgend ein Weib, so würde Annemarie sie überwinden und wieder heimkommen, wie sie gegangen war.

Die Scheidende wußte es besser. – ›Nun hab' ich keine Heimat mehr,‹ dachte Annemarie, als der Zug sie nach Norden führte, an die See, wo sie sich, wie man Fragenden sagte, von dem erschütternden Schrecken erholen wolle. Für sie selbst war es irgend ein Ort, an dem die Zeit bis zum Beginn ihrer Arbeit hingebracht werden mußte.

Nur Nöhring, der ihr feuchten Blickes nachschaute, meinte ganz genau zu wissen, wo ihre Heimat sei. Seit der Professorenberg sie verlieren sollte, fühlte er, daß sie die einzige Frau für ihn war, soweit gefreit wurde auf Erden. Aber Überlegung und Unbehagen genug bereitete ihm diese Erkenntnis. Denn so jung schon zu freien, war gegen seinen Lebensplan.

Dennoch – als sich nur eine knappe Woche nach dem Begräbnistag die Sonne des letzten Abends neigte, schien ihm der Gedanke, Annemarie zu entbehren, so schmerzhaft, daß er den Bergweg im Sturmschritt nahm: werben, festhalten, nicht fortlassen!

Aber dort fand er das Wort nicht, angesichts ihrer traurigen, achtlosen Augen.

Laß sie in Frieden trauern – es ist ja nicht anders, als ob sie in die Sommerferien ginge, – schweig und warte, bis sie sich wieder freuen kann.

Und er schwieg nicht mehr um seinetwillen, sondern ihr zuliebe.

So von Rücksicht und Zartgefühl war er unterjocht, daß er am anderen Tag nicht einmal Blumen mit an die Bahn nahm. Gekauft hatte er welche, aber nachher nicht mitnehmen können, durchaus nicht – elender Zustand.

Und er hätte alle so schön damit ausgestochen, denn der Familienabschied war beklommen und sträflich nüchtern. Die alte Marlene, die sich's erkämpft hatte, wenigstens noch auf dieser Reise um ihren Liebling zu sein, maß alle mit vorwurfsvollen Blicken: So gleichgültig laßt ihr sie gehen?

Nöhring bereute.

Wenn ich meine Blumen mit hätte, wenn ich geredet hätte! – Elender Zustand.

Auf dem Nachhauseweg kam ihm zum Bewußtsein, daß Hartmut Wendelin schuld war. Schuld an seinem Schweigen, an seinem Ungeschick, an den daheimgelassenen Blumen. Denn sowie er Annemarie Rügemer irgendwie über seine Gefühle verständigen wollte, sah er Hartmuts spöttisch vorwurfsvolles Gesicht so deutlich vor sich, wie das nur irgend ein Phantast fertig bringen konnte.

Es tat ihm wohl, als er nur erst wußte, daß Wendelin schuld war. Der Philister in ihm schalt gewaltig auf das zartfühlende Etwas, aber der Philister unterlag auch dann noch, als Nöhring den Lohn für sein Zartgefühl haben wollte und einen Brief schrieb, sehr deutlich in seinen Wünschen und Begehren; das Zartgefühl litt nicht, daß dieser Brief abgeschickt wurde.

Nöhring schloß das Schriftstück ins Pult, las es vier Wochen lang jeden Tag einmal, schob es vier Wochen lang Tag für Tag wieder beiseite und zerriß es endlich.

Warten, vernünftig sein, Auge in Auge reden, und arbeiten bis dahin, für die Liebste arbeiten. – In Ermangelung eines winterlichen Ofens verzehrte der Spirituskocher die Fetzchen des Liebesbriefs. Nöhring hatte ein zärtlich poetisches Gefühl dabei und außerdem die sichere Überzeugung, daß die Zeit still stehe und warte, bis er seine Hand nach ihren Früchten und Blüten ausstrecken werde.

– Es wurden noch viel andere Briefe geschrieben in diesem Sommer, von denen, die um Hermann Rinkhart trauerten, aber keines schrieb sich das Herz frei. Sie trugen alle schwer an einer Enttäuschung, an einer Sorge oder an einer Hoffnung.

Lida schrieb schon, als Annemarie noch im Zug saß, und schrieb am nächsten Tag zum zweitenmal – schwärmerische Backfischbriefe.

Die Brüder schrieben lustig, stürmisch, fordernd – sie wollten Annemarie mit ihren Briefen an den Professorenberg binden.

Aber sie taten ihr nur weh damit, denn sie konnte nicht antworten, wie's ihr ums Herz war.

›Ich soll ja nicht, ich darf ja nicht, das was sie mir hier bringen und anvertrauen, will ja die Mutter haben.‹ Also schrieb sie kurze, nüchterne Antworten, deren manche sie wieder zerriß, weil sie ihr nicht einsilbig genug schien.

Diese kühlen Briefe legten sich wie graue Schleier über Annemaries strahlendes Bild: sie war ja gar nicht so lieb gewesen, sonst hätte doch etwas davon auf dem Papier stehen müssen.

Die Briefe vom Professorenberg wurden ruhiger und seltener. Und Annemarie sah manch liebes Mal dem vorübergehenden Postboten nach und dachte: ›Ich bin vergessen.‹

Von denen, die nicht abgeschickt wurden, kam ihr kein Trost.

Auch Joachim schrieb solche.

Sowie er hörte, daß sie auf Wangeroog angekommen sei, schrieb er ihr. Ein Trostbrief sollte es werden, ein Liebesbrief wurde es. Wie er ihr all ihre ein- und angeborenen Reichtümer vorgezählt hatte, an denen sie sich freuen, mit denen sie Ersatz gewinnen würde, kam er sich so bettelarm vor, daß er den Kopf in die Hände drückte und Tränen in den Augen spürte.

Das gibt es – das stand dicht neben dir, und das mußt du entbehren.

Als er den Brief noch einmal las, fühlte er mit scharfem Schmerz, wie einzig er Annemarie liebte, wie einzig er sie immer geliebt hatte. Wußte aber auch, daß er ihr die Last dieser Erkenntnis nicht zu ihren anderen Kummerlasten aufs Herz legen durfte, und zerriß den Verräter.

Danach ging er aus dem Haus und erstieg die Höhe hinter seiner Wohnung, von wo man hinunter auf den See schauen konnte. Er sah ihn nicht, er brauchte nur Bewegung – Zwischenraum zwischen sich und seine Frau.

Wie sollte er Albertinen begegnen, wie sollte er ihr's verbergen?

Im Gehen und Vor- und Rückwärtsdenken kam ihm die Erkenntnis, daß Albertine ja dies alles schon wisse, eher gewußt habe, als er selber.

Aber dann hatte sie ja recht, wenn sie Annemarie nicht ins Haus ließ. Man wirft doch nicht Funken ins dürre Gras.

Und die Mutter zu Hause? – Vielleicht war es da auch Notwehr gewesen? Vielleicht ging es seinem Vater wie ihm? Es war kein Wille dabei und kein Leichtsinn, man konnte so viel Schönheit und Liebreiz nicht um sich haben, ohne ihnen rettungslos zu verfallen. – Rettungslos.

Und Joachim sagte sich nicht: ›Ich will damit fertig werden,‹ er dachte: ›Ich will ihr einen stillen, heimlichen Altar in meinem Herzen errichten.‹

Dann ging er nach Hause und war seiner Frau ein dienstwilliger, höflicher Ehemann. –

Der letzte »der drei« saß in München in seiner bequemen Junggesellenwohnung und arbeitete schärfer, als er es sonst zu Sommerszeiten zu tun pflegte, – um dem Nachlaß Hermann Rinkharts so bald als möglich gerecht zu werden.

Dabei dachte er ebensosehr an Annemarie Rügemer, wie an die Kisten voll Schriftwerk, die in seiner Bücherei standen.

Was tat sie? Was litt sie? Schlug sie sich tapfer durch ihre einsamen Tage?

Nur dachte er nicht mehr mit der tiefen Bewegung an sie, wie in den ersten Wochen ihrer Bekanntschaft. Seine Arbeit, die er diesmal auch während der Ferien um ihretwillen mit allen Kräften förderte, hatte ihm die unpersönlich friedliche Stimmung zurückgebracht, die er sich als die Grundstimmung seines Daseins wünschte.

Daß dazu ein einschichtiges Leben nötig war, wußte Wendelin nicht erst seit ihm die unzeitgemäße Schönheit für kurze Zeit zur Ruhestörerin geworden war. Jetzt dachte er nur noch an Annemarie, wenn er an Hermann Rinkhart dachte, und dann kam ihm allemal der herzliche Wunsch ihr zu helfen, wie Rinkhart einst ihm geholfen hatte, als er ein heißer junger Bursch war, der an den guten Gaben seines starken Temperaments ebenso litt, wie an dem, was ihm mangelte.

Eines Nachts, als er aus dem Bienenstock heimkam, wo sie des langen und breiten von einem hilflosen Menschenkind geredet hatten, beschäftigte ihn das so stark, daß er ihr schrieb. Erst als er den Brief schloß, fiel ihm ein, daß er nicht wußte wohin damit. Ins Blaue wollte er ihn nicht schicken, also ging erst eine knappe Anfrage um ihre Adresse an den Medizinalrat.

»Wendelin läßt es sich angelegen sein mit Hermanns Nachlaß,« sagte der. »Freut mich, ich habe es nicht gedacht, ich hielt ihn für reichlich selbstgerecht und hochfahrend.«

Als Annemaries Adresse in München ankam, stak Wendelin gerade tief in der Arbeit. Er mußte sich besinnen, wozu er das gewollt hatte.

Annemarie Rügemer. Was ging ihn Annemarie Rügemer an?

Aber sowie er ihren Namen aussprach, sah er sie in all ihrer Schönheit vor sich auf dem Rasenplatz stehen, und sah sie noch einmal daneben in ihrem Leid und hörte Hermann Rinkharts Stimme: Das ist meine beste Arbeit.

›Und seiner Arbeit Erbe bin ich.‹

Wendelin lächelte, als er das dachte, las den jüngst geschriebenen Brief an Annemarie noch einmal durch, nickte seinen eigenen Worten Zustimmung und schickte ihn nach Wangeroog.

Dort auf der kleinen Insel lebte Annemarie mit Gestorbenen und Abwesenden; saß zwischen den Dünen, wanderte den Strand entlang nach dem alten Leuchtturm, der den gierigen Wellen dereinst sein trotziges: Ich steh' und bleibe! zugerufen hatte, als sie ihn im wilden Sturmgang von seiner Insel trennten.

Es fehlte nicht an solchen leibhaftig Anwesenden, die bereit waren, die schöne Trauernde zu bewundern und zu unterhalten, aber da sie jeden Versuch mit einem ehrlich erstaunten oder gar befremdeten Blick beantwortete, so erlahmte die Teilnahme, und man überließ sie ihrer Einsamkeit.

Sie hatte Hermann Rinkharts Tagebücher mit und schrieb an der Hand dieser rein sachlichen Aufzeichnungen nieder, was ihr dabei aus den Gesprächen einfiel, die sie über seine Arbeit zusammen geführt hatten und über das, was der Zufall ihnen sonst noch ins Haus trug.

Wenn sie zu lange darüber gesessen hatte, ließ die alte Marlene ein Mahnwort vernehmen: Jugend braucht Luft, Jugend muß sich regen!

Es war gegen den Respekt, aber wozu hatte man sie mitgenommen, als daß einer bei Vernunft bleibe?

Dann ging Annemarie hinaus und versuchte, die Welt um sie her mit Hermann Rinkharts Augen zu sehen.

Nicht die Menschen, die sich im Vergleich zu ihm alle noch gar zu winzig ausnahmen, aber die Natur – das Meer und die Wolken, den rinnenden Sand und die wunderlichen Geschöpfe, die Well' um Welle anspülte und zurückriß zu ihrem schaukelnden Leben – oder ausgeworfen verschmachten ließ.

Sie sah hier alles ursprünglicher, einfacher und deutlicher als daheim in der verwirrenden Fülle von Wald und Feld, Blüten und Früchten, in dem Gewimmel der fliegenden, kriechenden und rennenden Geschöpfe, unter der gleichmachenden Hand des ackerbauenden Menschen.

Sie sah, wie eins vom anderen lebte und eins am anderen starb. Sie sah, wie sich dürftige Halme an trotzigem Widerstand stärkten und zärtliche Prachtgewächse vom Winde zerschlagen wurden. Sie sah das Weichen und Wachsen der Wellen in ewigem Wechsel und ewigem Gleichmaß. Sie ließ den Sand durch die Finger rinnen, Korn für Korn, eins wie das andere, wie sich auch das Auge darum mühte, herauszufinden, was dieses Korn ehedem gewesen war, ehe die ebbenden und flutenden Wellen ihre Schleifarbeit begonnen hatten. – Eine Marmortreppe am Ufer der Adria? Eine geborstene Säule in Montezumas Reich? Eine berstende Klippe an Norwegens Fjorden? Eine prunkende Muschel im Stillen Ozean? Ein Korallenriff im Indischen Meer? Der Edelstein im Ring einer schiffbrüchigen Braut? – Korn um Korn, eins wie das andere stumm und glatt.

Annemaries nachdenkliche Blicke sahen in dem abgeschliffenen Sande die Vergangenheit und in dem modernden Tang die Zukunft.

Schiffe sah sie vorübergleiten, deren Kraft von längst verstorbenem Leben kam, und Dünste sah sie zum Himmel steigen, deren Segenskraft künftige Jahre speisen würde.

Es war auch hier und auch heute alles, wie es ihr Hermann Rinkhart auf dem Professorenberg gezeigt hatte. Gesetz und Regel und Ordnung; weise Sparsamkeit, nützliche Wandlung, königliche Verschwendung. Seit Jahrmillionen war es so gewesen, hatte vorbereitet für heute und schaffte heute für sternenferne Stunden.

Und sie hatte früher gedacht, als sie noch in Glück und Fülle saß, das sei ein schöner, erhebender Gedanke, einer der die Welt groß und weit mache und mit Frieden erfülle.

Nun aber? Nun, wo sie mit ihrer jungen Weisheit zum erstenmal das Leben allein bezwingen sollte?

Nun schufen die Gedanken ihr Unruhe und verstärkten das Gefühl der Heimatlosigkeit, das nirgends zum Ziele kommen konnte, denn jedes Ende war zugleich ein neuer Anfang.

Sie suchte nach alledem, was sie sonst erquickt hatte, aber es half ihr nichts, Redensarten waren es ihr und leere Worte, denn sie litt und konnte nicht von sich selber loskommen.

Was half ihr, daß die Wälder, deren blühende Pracht einst ein widriges Schicksal vernichtet hatte, jetzt stolze Schiffe über den Ozean trieben und frierenden Mütterchen den Ofen, erhitzten? Was nützte das jenen Geschöpfen, die damals zugrunde gegangen waren?

›Ich – ich!‹ rief es in Annemaries wehem Herzen – ›ich leide. Was kümmern mich die kommenden Geschlechter!‹

In solcher Stimmung empfing sie Wendelins Brief, und der Brief tat ihr gut, denn er war anders als die anderen, die sie bekam, und sie meinte Hermann Rinkharts Stimme aus ihm zu hören.

Sie antwortete.

Erst dachte sie nur um der Höflichkeit willen, im Schreiben merkte sie, daß sie es gern tat. – Da füllten sich ihre Augen mit Tränen, sie sah durch die funkelnden Tropfen in den weiten Himmel hinaus und dachte an den, dem sie auch diesen Brief verdankte.

Wendelin merkte ihrer Antwort an, daß er ihr gut getan hatte, und schrieb weiter, wie Annemarie weiter antwortete.

Auf dem Professorenberg, im Ameisenhügel und auf dem Helikon würden sie diese Briefe belächelt haben, in denen er über die Flugkraft der Möwe, über die Lebensäußerungen des phantastischen Quallenvolks kleine Aufsätze schrieb, derengleichen man wohl für eine volkstümliche Zeitschrift verfaßt, aber nicht als briefliche Wechselrede im Jahrhundert der Postkarte.

Eines Tages wurde sich Wendelin dessen bewußt: ›mir scheint, ich werde auch unzeitgemäß‹.

Das nächste Mal schrieb er ihr: »Jede Zeit hat ihre besonderen Krankheiten, von deren Gifthauch sich nur die ganz Gesunden frei halten können oder die, deren Leben nichts mehr mit dem Alltag zu tun hat. Haben Sie schon einmal überlegt, woran es der unseren gebricht?

»Sie kann nicht mehr mit Größe irren.

»Sie kann nicht mehr entschlossen Ja zu ihren Meinungen sagen, sie schwankt auf einem bedenklichen Werweiß? Oder auf dem noch bedenklicheren Vielleicht herum, und wird nicht satt und nicht froh dabei.

»Sie hat nicht mehr Glauben genug zum Martyrium.

»Sie arbeitet auf allzunahe Ziele, denn sie will all ihre Früchte selber genießen.

»Sie will raffen und haben und hat das Zugreifen verlernt.

»Oder sie greift zu und weiß nichts mit dem Reichtum zu beginnen.

»Deshalb schelten die einen und die anderen, seufzen und sehnen sich.

»Gerade als ob keiner mehr wisse, daß man sich selber mit seiner ganzen Kraft und seinem ganzen Glauben einsetzen muß, wenn man ein Ziel erreichen will.« –

Das Unpersönliche der Wendelinschen Briefe tat Annemarie wohl, und doch verengte und verdichtete sie sich als echtes Weib seine allgemeinen Sätze sofort auf das, was sie gelebt hatte, leben sah und zu leben wünschte.

Also fand sie überall Gleichgültigkeit und Schwäche, Unzufriedenheit und lässige Hände – außer bei Hermann Rinkhart – und fühlte neue Kräfte wachsen in dem Wunsch und Willen ihm ähnlich zu werden – wie Wendelin ihm ähnlich geworden war.

Aber sie sah keinen Weg und keinen Menschen, an dem sie ihre Kräfte hätte üben können.

Das nächste Mal schrieb Wendelin:

»Offene Augen und warme Herzen finden überall Arbeit – nur daß man wohl seine Augen mit Willen offen halten kann, aber die Herzenswärme ist eine feine Gabe, die aus dem Unbewußten kommt, mit der kann mich der kräftigste gute Wille nicht beschenken.«

›Hab' ich nicht ein warmes Herz?‹ dachte Annemarie. ›Ich glaube, es ist weder warm noch kalt – nur leer, weil all sein Inhalt dem Fernen nachgezogen ist.

›Und offene Augen? – Ich mache sie wohl auf für Licht und Schatten, aber ob ich auch sehe – das Richtige sehe, ohne mich zu belügen? – Sie kennen ja die Welt gar nicht, hat er mir gesagt, damals, als ich meinte, alle Herrlichkeiten und alle Abgründe lägen offen vor mir – und zwei Wochen später merkte ich, wie recht er hatte. – Kenne ich sie nun? Oder ist wieder ein Trugbild, was ich sehe?‹

Die Flut kam und ging, der Sand wehte und wanderte, Wolken stiegen auf und schwanden dahin.

Wenn die Sonne nicht ihren Bogen an dem weiten Himmelsgewölbe kleiner und kleiner, tiefer und tiefer gezogen hätte, würde Annemarie nichts vom Schwinden der Zeit gemerkt haben.

Aber ihre einsamen Tage wurden kürzer, die Nächte wurden lang und frisch, und eines Morgens las sie einen Brief Wendelins, der ihrem einsamen Sommer ein Ende machte.

Die Vorbereitungen für sein Winterkolleg habe er beendet. Mit des Geheimrats Verleger sei das Notwendige besprochen. Der wolle außer den nachgelassenen Schriften einen Lebenslauf des Verstorbenen haben als Gedächtnisschrift.

»Bald werd' ich Sie brauchen. Sind Sie bereit? Darf ich Ihnen die Wohnung besorgen? Damit Sie sich vor unserer Arbeit, die in etwa zehn Tagen beginnen kann, etwas eingelebt haben.«

Als Wendelin dies schrieb, war ihm nicht ganz wohl zumute. Er hatte ein starkes Verantwortlichkeitsgefühl Annemarie gegenüber, denn er rief sie in die neue Umgebung, und allerlei Verwickelungsmöglichkeiten gingen durch seine Gedanken. Als er aber den Brief in den Kasten steckte, war er fertig damit: ›Eins ist gewiß, sie ist Hermann Rinkharts rechtes Kind, sie kommt ohne Hintergedanken, ohne Netze und Fallstricke. Sollten sich zwei ehrliche, tapfere Menschen nicht aneinander freuen, einander nicht helfen können, ohne sich Unruhe zu schaffen? – Ich freue mich auf ihr Kommen.‹

Und er freute sich wirklich.

Auch Annemarie fühlte einen warmen Strom durch die Adern rinnen, als sie den Ruf zur Arbeit erhielt. Mit kurzem Wort gab sie Wendelin das Recht, alles nach seinem Gutdünken einzurichten, meldete ihr Kommen für den dritten Tag und ließ sich nicht durch Marlenens Abschiedsschmerz rühren. Gewaltsam drängte sie den Gedanken fort, daß die Haushälterin nun wieder dahin gehe, wo es für sie kein Heimkommen mehr gab.

Wendelin war am Bahnhof, als sie ankam, ein wenig kurz und trocken, aber wie ein alter Freund mit lebenslänglichen Rechten. Sagte Guten Abend, als hätten sie sich gestern getrennt, und sah geduldig zur Seite, als Annemarie Tränen in die Augen stürzten, denn auch auf ihn drang eben jetzt die Erinnerung an ihre letzte Begegnung stürmisch ein.

»Also gehen wir zu Fuße,« sagte er, da sie sich nur mühsam faßte; sorgte für ihr Gepäck und geleitete sie in den Lärm der abendlichen Großstadt hinaus. Dabei dachte er mit einer ganz leisen Zutat von Hochmut: ›Ich werde deine beste Arbeit erst vollenden müssen, Hermann Rinkhart.‹

Annemarie schwieg und ging schnell. Erst als sie auf dem Maximiliansplatz in dämmerige Stille kamen, blieb sie stehen und tat einen tiefen Atemzug.

»Wohin führen Sie mich?«

»Zu den Ameisen. Da sind Sie ordentlich aufgehoben, dort seh' ich Sie täglich bei Tisch und kann Ihnen raten, wie Sie die Zeit bis zu unserem Arbeitsanfang nützlich und angenehm –«

Wendelin brach ab. Das Schulmeistern Aug' in Auge mit einem schönen Mädchen war doch etwas anderes als einen weisen Brief schreiben über Berg und Tal und Watten hinüber.

Und so sagte er plötzlich sehr zart und gar nicht schulmeisterlich: »Sind Sie wieder zu Hause auf der Erde?«

Annemarie atmete schwer, die Tränen stiegen wieder auf.

»Haben Sie kein Zutrauen zu mir?« fragte Wendelin leise. »Denken Sie an seine letzten Worte. Haben die mir nicht die Sorge für Sie anvertraut, wie für seine Schriften? Nun glauben Sie auch an meine ehrliche Freundschaft, selbst wenn ich einmal anders bin als Ihnen lieb ist. Wir wollen doch jetzt zusammenhalten für ihn.«

»Ja,« antwortete sie ebenso leise. »Wir wollen, – aber wenn Sie mich solche Dinge fragen – ich bin nirgends mehr zu Hause – ich bin heimatlos.«

»Im Weiten verloren?« fragte er tastend.

»Nein, o nein! In schmerzhafter Enge gebunden. Überall Kerkermauern, über die ich mich allein nicht hinaufschwingen kann. Überall verschlossene Tore. Viel Schönheit, o ja, viel Weisheit, viel Größe; aber ich weiß nicht hinüber zu kommen. Diamantene Tore, goldene Tore, Tore voll glänzenden Zierats – aber sie sind verschlossen, und kein Schlüssel paßt, und kein noch so qualvolles Rütteln hebt sie aus den Angeln. Nur eines steht offen, durch das keiner gehen will, weil es ins Dunkel führt –«

Wendelin sah Annemaries Gesicht nicht, aber in ihrer Stimme klang so viel Sehnsucht, Schmerz und Hilflosigkeit, daß er alles vergaß, was er über sie gedacht und geurteilt hatte, alles was er an ihr formen, zerstören und vollenden gewollt. Nichts war da als ein zärtliches Erbarmen, das antwortete: »Und wenn uns die Türen verschlossen sind – wir haben Fenster, Fenster, durch die wir in eine himmlische Welt hinausschauen dürfen.«


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