Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.

Hartmut Wendelin hatte in den vergangenen Jahren sehr selten mit Geheimrat Rinkhart Briefe gewechselt und nie etwas verspürt, was man hätte Sehnsucht danach nennen können.

Jetzt war er seit vier Tagen wieder zu Hause und meinte, es ohne Nachricht schlechterdings nicht mehr auszuhalten.

Also schrieb er an den alten Freund. Es stand kein Wort Wissenschaft in dem Brief, er war auch nicht lang, aber man mußte ein sehr bestimmtes Verlangen aus ihm herauslesen: Hier bin ich, ich darf nicht vergessen werden, ich stehe neben Euch, so dicht wie möglich. Ich werde sehr wenigen, am liebsten keinem gestatten, daß er zwischen uns trete.

›Euch‹ – Hartmut hatte diesen Brief mehrfach an zwei gerichtet, ohne es überhaupt zu merken.

Als er abgeschickt war, dachte Wendelin, das Schreiben sei eine Dummheit gewesen, und grub sich wieder in seine Arbeit ein. Nicht mit dem Schwung der ersten Tage, aber mit warmer Freude, und nur abends, wenn er seinen Gewohnheitslauf durch den englischen Garten machte, gingen die fernen Freunde an seiner Seite.

Sowie sich der grüne Rasen und das malerische Buschwerk der Anlagen vor ihm ausbreiteten, sah er das Wertherbild und hörte Nöhring Annemaries Lob verkünden. Und dann erklangen nacheinander die Stimmen Ferrys und Joachims und der kleinen Mama Rinkhart, bis sie von der des Geheimrats abgelöst und übertönt wurden: ›Die Frau, die weiß und kann und sich dennoch vom Herzen regieren läßt.‹ – Wissen und können – ein junges Ding von zwanzig Jahren.

Aber das sollte ja auch in der Zukunft liegen, nur die Fähigkeiten hatte der gute Gärtner ausbilden wollen, und Wendelin fühlte ein freventliches Gelüst in sich, Annemarie zu prüfen und zu verwirren – ob sie wohl dabei das Lebens-Examen summa cum laude bestehen würde.

Wenn er so weit gekommen war in seinen schweifenden Gedanken, nannte er sich frivol und sah Minna Schäftleins vorwurfsvolle Augen. ›Sie haben recht, Fräulein Minna, ich bin ein häßlicher Mensch: Aber ich habe auch recht, denn was soll einem Kämpfer das Harmonische. Wenn sich's wirklich einmal in unser verknittertes Dasein verläuft, macht es uns unruhiger als die Unruhe. Wie sollten wir zum Wechsel Gebornen die ewige Ruhe des gesättigten Dreiklanges ertragen. Er klingt wohl einmal als Himmelsgruß in unsere Feierstunden, aber im Nu stürzen die Widersprüche des Alltags wieder vernichtend auf ihn ein. Ich bin neugierig, von wo aus und wie bald das Ungetüm Leben diese Annemarie niederschlagen wird.‹ Und gleich darauf sagte er so laut, daß der Zaunkönig erschrocken vom nächsten Busch wippte: »Ich bin ja gar nicht neugierig, ganz gemeine Furcht ist's, die ich spüre, als sei ein edles Kunstwerk den Fäusten einer rohen Menge preisgegeben.«

War er auf irgend einem Wege bis zu diesem Punkt gekommen, so ging er schnellen Schrittes nach Hause, fühlte reine Luft in seinen Gedanken und in seinen vier Wänden, wie nach einem Gewitter, und konnte arbeiten.

Heute hatte er's besonders lange draußen getrieben, es war schon dunkel, als er aufschloß, und seine Wirtin, wie immer um diese Zeit, auf einem Nachbarschaftsbesuch.

Er fand beim blassen Schein, den die Laterne heraufschickte, gerade noch die Schreibtischlampe, drehte sie auf und sah eine Depesche vor sich.

Er erschrak.

Gleich darauf lachte er sich aus. – ›Ich bin wahrhaftig nervös. Das ist die erste Depesche, über die ich jemals erschrocken bin.‹

Als er sie aufgefaltet hatte, las er: ›Geheimrat Rinkhart heute morgen am Herzschlag gestorben. Nöhring.‹

Zunächst dachte Wendelin gar nichts. Wie eine schwere Kappe legte sich's ihm über Kopf und Schläfen; vor den Augen war Nacht, in den Ohren ein stumpfer, dumpfer Trommelton.

So stand er eine geraume Zeit, dann sah er wieder, aber nicht die hastigen blauen Buchstaben der Depesche und das grünverhangene Licht seiner Studierlampe: Er sah Morgensonnenschein, sah Hermann Rinkhart in olympischer Kraft und Frische und sah Annemarie Rügemer neben ihm in strahlender Schönheit und ruhigem Vertrauen zu der gütigen Mutter Natur.

Da lachte er auf.

So also – auf diesem Wege. Ihr selbst konnte die Tückische nichts anhaben – nun glaubte er es – sie war wirklich so gut wie schön, so kraftvoll wie anmutig, so gesund wie tapfer – und weil in ihr kein Keim des Verderbens war, durch den sie ihr beikommen konnte, so griff sie von außen nach ihr; nahm ihr die Sonne, nahm ihr den Gärtner.

Wendelins Lippen zuckten, das Blatt in seiner Hand bebte, von dem grimmigen Lachen war keine Spur mehr in dem jungen Gesicht.

Nun wird das Häßliche kommen, das sich auf ihre geschützte Höhe nicht hinaufwagen durfte, wird über sie herfallen und sie waffenlos finden.

Noch während er das dachte, packte er sein schwarzes Zeug ein, halb unbewußt dessen, was er tat.

Als er den Zylinder suchte, stutzte er und besann sich.

Diesmal würden Rinkharts sein Kommen weder erwarten noch bedürfen, und die andern? – die mochten sich wundern.

Aber das Bedenken dauerte nur einen Augenblick, dann legte er den Hut in den Koffer.

›Wenn ich ihn angejubelt habe, werd' ich ihn doch auch mit begraben dürfen.‹

Als er endlich im Nachtzuge saß, überfiel ihn eine bleierne Müdigkeit. Nur im Beginn der Fahrt dachte er noch kurze Zeit in traumhaft huschenden Sätzen:

›Du hast ihn zehn Jahre gemieden, unwiederbringliche Jahre.‹

Und dann: ›Ich will Deinem Liebling Waffen schmieden. Ich will ihr helfen im Kampf mit den Ungeheuern.‹

Bald aber kam der Schlaf und brachte ihn über die langen Reisestunden hinweg. Erst beim Aussteigen merkte er, daß die Züricher Rinkharts im gleichen Zuge gesessen hatten.

Sie begrüßten sich hastig und wortkarg. Wendelin wurde sich kaum bewußt, daß er Joachims Frau zum erstenmal sah.

Frau Albertine dagegen richtete ihre klugen Augen forschend auf den Mann, den Joachim heute überschwenglich pries und dann wieder auf ein halbes Jahr völlig vergaß.

Joachim und Hartmut beschlossen gleich hinauf zu gehen und schickten das Gepäck in den Bären.

Frau Albertine wurde nicht nach ihren Wünschen gefragt, beide Männer waren zu sehr von dem einen Gedanken beherrscht, als daß sie hätten an Höflichkeiten denken können.

Erst Nöhring, der ihnen kurz hinterm Bahnhof atemlos entgegen kam, hatte Sinn dafür.

»Sie sind erschöpft, gnädige Frau, Sie sollten ausruhen, ehe Sie hinauf gehen.«

Nun fiel Wendelin ein, daß dies Joachims Frau war, prüfenden Blickes sah er sich um. Er fand sie schmal und rassig gebaut, eine Blüte alter Kultur; alle Linien waren edel. Die Stirn wölbte sich frei, – nur daß sie an den Schläfen zu sehr einsank; der Mund war klein, – nur für seinen Geschmack zu schmallippig und nervös. Überhaupt die ganze Erscheinung zu nervös. Klug und nervös.

Schade; erstlichmal war ihm das persönlich unsympathisch und zweitens hätte Joachim, der sich auch in dieser Richtung zu entwickeln schien, ganz etwas anderes zur Hausgenossin bedurft.

Aber reizvoll ist sie, schloß er seine Beobachtung, als ihr jetzt auf Nöhrings Vorschlag hin das Blut ins Gesicht stieg und sie sehr nachdrücklich antwortete: »Ich bin nicht erschöpfter als mein Mann, ich gehe natürlich mit hinauf.«

»Klug und nervös,‹ dachte Hartmut noch einmal, ›dergleichen Menschen leisten mitunter am meisten.‹

Und dann, als sein Blick von der Frau zu dem Manne glitt, in dessen schönem weichen Gesicht dieselben Zeichen standen, dachte er weiter: ›Wenn sie ein zäher Wille mit Sporn und Peitsche antreibt. Mit dem Willen war bei Joachim nicht allzuviel los.‹

Die vier gingen sehr schnell durch die Stadt, wo an jeder Ecke und jedem Übergang jemand stehen blieb, um ihnen nachzusehen.

Ja, da kamen sie wieder und anders wie das letzte Mal – sic transit gloria mundi.

Unten am Eingang des Bergweges verabschiedete sich Nöhring: er müsse in die Klinik.

Stumm stiegen die drei andern bergan. Nur einmal blieb Frau Albertine stehen, sah ins Tal hinunter und sagte: »Sie haben sich das hier mit raffiniertem Geschmack zurecht gemacht.«

Wendelin verletzte das Wort; er fuhr mit dem Kopf herum wie ein Pferd, das scheuen will, hatte sich aber gleich wieder in der Gewalt und ging nun noch schneller voraus.

Wie konnte er sich heute über Nichtigkeiten ärgern. Was ging ihn die Frau an, was kümmerten ihn die Rinkharts, nun der eine nicht mehr unter ihnen lebte!

So kam's, daß er oben am Pförtchen den Medizinalrat sprach, ehe das Ehepaar in Sicht war.

Der schüttelte ihm hastig und kräftig die Hand. »Da sind Sie ja wieder. – Aber natürlich. Ich wußte gar nicht, wie nah Sie sich gestanden haben.«

Wendelin schwieg.

»Jaja;« der lebhafte Mann strich sich übers Haar und über die Augen. – »Und so schnell und so leicht. Und so hatte er sich den Tod gewünscht. Einen Blitzstrahl, der den Baum verzehrt, ehe die Äste dürr werden und das Mark verdorrt, ehe er noch selber ans Sterben denkt. Immerhin, es ist doch, als ob er geahnt habe –«

Wendelin atmete kurz. »Was?«

»Im Grund sind's ja nichtssagende Zeilen, aber seine letzten Worte sind's doch. Ich will mich nicht beklagen, er war ein Bruder in des Wortes herrlichster Bedeutung.«

»Was?« stieß Wendelin hart heraus, er konnte das Gerede nicht ertragen.

»Ein angefangener Brief,« – da sah Heinrich Rinkhart seine Kinder und brach ab. »Wir sprechen noch davon.«

Wendelin nickte und ging aufs Haus zu. Mochten die drei reden, was sie ertragen konnten.

Unten im Gartensaal war's leer und traurig, die Türen standen halb auf, als sei der Schrecken hindurch gelaufen.

Im ersten Stock kam ihm die kleine Medizinalrätin entgegen, verwirrt und hilflos und dennoch redselig.

Nach den notwendigsten Worten fragte Wendelin nach Annemarie.

Da weinte Mama Rinkhart, wischte sich die Augen und sah nach Karlmann, der in der Tür stand und auf die alte Haushälterin aus dem oberen Stock einredete, sie solle Annemarie herunter holen.

»Das arme Kind, das liebe Kind.« Frau Rinkhart schluchzte noch einmal auf. »Oben war sie zu Hause. Aber nun ist ihre Heimat hier, sie gehört zu uns wie unser allereigenstens Töchterchen; sie steht mir näher als meine Stiefsöhne.«

Annemarie kam. Wendelin erkannte den Schritt, er klang leicht und sicher wie vor vierzehn Tagen, nur langsamer schien er geworden zu sein.

Nun sah er sie auch – war sie nicht noch schöner geworden? Er wollte sich klar machen weshalb, wollte grübeln und zergliedern und konnte nicht. Es war ihm ganz unmöglich zu denken, er fühlte nur: er litt in ihrer Seele.

Sie sah ihn gar nicht – Karlmann hatte sich ihr in den Weg gestellt, griff nach ihren beiden Händen und drückte die an seine Brust.

»Annemarie,« sagte er herzlich, »liebe Annemarie – so grausam.«

»Ja,« sagte sie leise. »Grausam. Und doch gütig, gütig für ihn.« – Ihre Lippen zuckten dabei, aber die Stimme war fest.

Wendelin fiel ein, was ihm der Medizinalrat von seines Bruders Wünschen gesagt hatte. Sie kannte also diese Wünsche, und das gab ihr Kraft. Dann war sie in Wahrheit seine Schülerin gewesen.

Als er das dachte, sah sie auf und erblaßte. Bei Wendelins Anblick stieg plötzlich der volle Glanz der jüngst vergangenen Tage vor ihr auf, und daneben drohten fahl und unfaßbar die Schatten der Entbehrung.

Diesmal verstand er sie sofort, aber ehe er ihre kleine tapfere Hand drücken oder ihr ein Wort sagen konnte, trat das Ehepaar Joachim ins Zimmer. Ein rührender Ausdruck dankbarer Zärtlichkeit kam in Annemaries Gesicht, lebhafter als vorher ging sie den beiden entgegen und ergriff Albertinens Hand.

»Du kommst!« sagte sie warm und herzlich. »Obgleich Du so erschöpft bist, kommst Du. Ich danke Dir.«

Frau Albertine sah wirklich erschöpft aus, jede Bewegung war matt, nur die Stimme klang kräftig, als sie fragte: »Du trauerst nicht?«

Erst da bemerkte Wendelin, daß Annemarie ein graues Sommerkleid trug, ganz schlicht und schmucklos, aber kein Trauerkleid.

»Er wollte es nicht,« antwortete Annemarie, ließ Albertinens Hand los und wandte sich langsam zu Joachim, der stumm, gequält und hilflos neben seiner Frau stand.

Jetzt war jedes Licht in den jungen Augen erloschen, und als nun Mama Rinkhart mit vorbrechenden Tränen auf das Ehepaar einsprach, machte Annemarie unwillkürlich eine Bewegung zur Seite, die sie aus dem Kreise der anderen ausschied.

Wendelin schwieg und schaute. Mit einem starken Mißfallen beobachtete er Joachims Frau.

Will sie wehtun? Weiß sie nicht, daß sie weh tut? Fragt sie überhaupt nicht nach Weh und Wohl ihrer Mitmenschen? – Eins so schlimm wie das andere.

Er trat zu Annemarie und fragte leise: »Darf ich hinauf?«

Sie sah ihn gütig an und antwortete ebenso leise: »Kommen Sie.«

Nur Joachim hatte die Zwiesprache verstanden und wollte mit; aber seine Frau legte ihm halb bittend, halb befehlend die Hand auf den Arm. »Warte auf mich, Joachim – ich möchte mit Dir hinauf; aber ich muß Atem holen vorher, ich bin erschöpft.«

Da blieb er unten, und sie sorgten und pflegten alle an der jungen Frau herum.

Die beiden oben gingen durch den lichten Vorraum und traten in das Studierzimmer des Geheimrats. Beides war unverändert. Auf dem Schreibtisch lagen Blatt und Feder, wie er's im Sterben benutzt hatte. In der Bibliothek war er aufgebahrt.

Annemarie ging bis zur Tür voran, öffnete sie und trat dann zur Seite, um Wendelin einzulassen.

Sie folgte ihm nicht, sie ging mit leisen Schritten zu dem Fenster, das noch gestern früh dem Arbeitenden Licht gegeben hatte. Aber sie sah nichts von dem, worauf sie den Blick gerichtet hielt. Ihre starren Augen sahen Bilder, die sie nun leibhaftig nie mehr sehen würden.

Lange stand Wendelin drüben vor dem schönen Greisenantlitz und versprach sich und ihm, daß er seinem Meister Ehre machen wolle im Denken und im Handeln.

Plötzlich überfiel ihn die Angst, die anderen könnten heraufkommen und wieder mit täppischen Worten auf ihn einschlagen, ehe er davonlaufen durfte; da ging er raschen Schritts hinüber.

Annemarie kam ihm entgegen, vor dem Schreibtisch trafen sie sich, und ihre Linke faßte die Lehne des Sessels, als müsse sie sich dort festhalten, aber ihre Stimme klang ruhig.

»Er hat Sie sehr gern gehabt. Ich wußte es schon früher, weil wir Ihre Broschüren und Aufsätze immer zuerst lasen und nicht das Kleinste, was von Ihnen gedruckt wurde, verlieren durften. Aber letzthin hab' ich es auch gesehen, und seitdem hat er täglich von Ihnen gesprochen. – Ich denke, es macht Ihnen Freude,« sagte sie zaghaft, als müsse sie sich entschuldigen, weil seine Antwort ausblieb.

»Ja,« antwortete Wendelin mit tonloser Stimme. »Aber Sie – Sie sollen sich nicht weh damit tun. Es tut Ihnen ohnedem schon weh genug.«

»Sehr weh. Alles. Ich begreife es noch nicht, es ist so unwahrscheinlich, so unwirklich.«

»Es wird noch weher tun, wenn es Ihnen zur Wirklichkeit wird,« fiel Wendelin heftig ein. »Aber Sie müssen tapfer sein, Sie müssen die Zähne zusammenbeißen und sich nicht zerstören lassen.«

»Nein, nein, das nicht.«

»Sie dürfen auch nicht. Schon um seinetwillen nicht. Er hat sie seine beste Arbeit genannt. Sie müssen immer an das denken, was Ihnen von ihm bleibt, was er Ihnen geschenkt hat und eingepflanzt.«

Sie sah nach der Tür, hinter der er ruhte, und sagte leise, als spräche sie in einem Heiligtum: »Er hat mich gelehrt, daß wir uns trennen müssen ohne uns zu verlieren, und daß der Tod nichts Schlimmes sei. Den Kampf und das Bangen verglich er mit dem Schauer der Natur beim Sonnenaufgang. Und wie uns auch das Leben geworden sei, schwer oder leicht, grau oder licht, hinter diesem Morgenschauer erwarte uns ein neuer, glänzender Tag.«

»Und da finden wir uns wieder, hat er Ihnen gesagt.«

Wendelins Stimme klang, als fürchte er sich vor seinen eigenen Worten. Die schönen jungen Augen sahen suchend in die Ferne.

»Nein,« antwortete Annemarie langsam. »Nein. Das hat er mir nicht versprochen. Wir wissen nie, wie der kommende Tag sich ausleben wird, hat er gesagt – daß er kommt, ist genug, denn dasein ist alles.«

»Und so tröstlich ist Ihnen nun zumute?«

»Nein, o nein, o nein. Ich brauche ihn, ich sehne mich, es ist alles so leer –«

Die Stimme versagte, die großen klaren Augen füllten sich mit Tränen. Da sagte Wendelin sehr sanft und zart: »Fühlen Sie mit ihm – er leidet nicht. Schicken Sie Ihre Gedanken nach durch die dunkle Pforte – er ist uns nur voraus, er hat einen dumpfen Puppenzustand überwunden, der uns noch drückt, und er war wahrhaftig reif. Und hat er uns nicht genug dagelassen, mit dessen Hilfe wir unseren Weg nun allein finden können? Aber wir leiden, denn das Glück für den, der geht, ist so groß, daß nun wir, die wir bleiben, das Erdenleid, das ihm abgenommen wurde, auf uns nehmen müssen.«

Leidenschaftlich schluchzte sie auf und barg ihr Gesicht in die Hände.

Wendelin wurde irre an sich und ihr.

»Fräulein Annemarie,« rief er heftig. Sie weinte fort.

»Fräulein Annemarie, ich hab' Ihnen weh getan, ich habe es schlimmer gemacht, ich bin ein ungeschickter Patron – habe ich?«

»Nein,« rief sie unter Tränen, »wohl haben Sie mir getan – ich leide für ihn.«

Da schwieg er und ließ sie weinen.

Auch sah er sie nicht an, damit nichts sie stören möge, und wie seine Blicke zwecklos durch das Zimmer wanderten, gerieten sie auf den Schreibtisch des Verstorbenen, auf das Blatt, das dort lag, auf die letzten Worte, die Hermann Rinkhart geschrieben hatte.

›Mein lieber Hartmut‹, las er, ›ich habe Ihnen noch recht viel zu sagen, und seit gestern scheint mir auf einmal fraglich, ob ich es in den Ferien noch werde tun können. Von meiner Arbeit möchte ich mit Ihnen reden und von meinem Kinde, die beiden gehören zusammen und sind das Einzige, was mich noch hier –‹

Da brach es ab, die Feder war der führenden Hand entglitten, Hartmut Wendelin sollte nicht erfahren, was ihm in diesem Augenblick das Wichtigste auf Erden schien.

Er wollte Annemarie fragen, ob sie darum wisse, da kamen Schritte die Treppe herauf. Es war nur Karlmann, aber auch den meinte er nicht ertragen zu können. Er drückte Annemarie hastig die Hand und ging hastig davon. Ging ohne rechts oder links zu sehen die Treppe hinab, durch den Garten, den Berg hinunter, an der Klinik vorbei.

Nur jetzt keinen Rinkhart treffen, nur jetzt keinem Rinkhart Rede stehen müssen.


 << zurück weiter >>