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Achtes Kapitel.

Hartmut stand im Bären am Fenster und wartete auf die Stunde der Beerdigung. Hinauf wollte er nicht mehr. Er war noch einmal oben gewesen, hatte Annemarie nicht gesehen und das Getriebe von Einheimischen und Auswärtigen wie eine Karikatur des Jubiläums empfunden.

Deshalb wollte er auf dem Friedhof Abschied nehmen und mit dem ersten besten Zuge abreisen, einerlei in welchem Nest er sich dabei festfahren würde.

Nöhring kam über den Platz; Wendelin nahm den Hut, um ihm entgegen zu gehen, der hatte aber so geeilt, daß sie sich noch auf der Treppe trafen.

»Ja, ich will Dich abholen. Außerdem komme ich noch im Auftrag von oben. Da der Medizinalrat das Testament kannte, so hatten sie in diesen Tagen alles auf sich beruhen lassen. Heute nun fiel einem ein, es könne sich vielleicht etwas finden in bezug auf die Beerdigung –«

»Natürlich nicht,« sagte Wendelin, »sollte ihm wichtig sein, wie sie mit seinem Leichnam umgehen?«

Nöhring sah den Altersgenossen mit unbehaglichen Gefühlen an, er kam sich wieder einmal ganz klein neben Hartmut Wendelin vor.

»Hm – nein – es fand sich nichts. Aber mein Auftrag. Du hast eine so verzwickte Art, den Menschen irre zu machen.«

»Also dein Auftrag.«

»Sie lassen Dich bitten, nachher mit auf den Berg zu kommen. Statt jener Bestimmungen hat sich ein Testamentzusatz gefunden, dessen Hauptperson Du bist. Dir ist sein gesamter schriftlicher Nachlaß vermacht, Du sollst davon herausgeben und nutzbar machen, was Dir wünschenswert scheint.«

»Ich?« – Hartmut Wendelin starrte Nöhring an. Ein leiser Zug von Kränkung lag über dem Gesicht des Kameraden, der natürlich nur ein Widerschein der Kränkung der Rinkharts war. Wenn dem Medizinalrat Zeit und Frische für diesen Nachlaß fehlten, Joachim hätte beides gehabt. – Es tat Wendelin leid und war ihm doch eine große Freude.

»Du mußt Dich entscheiden, ob Du annehmen oder ablehnen willst –«

»– Wer wird eine Ehrenpflicht ablehnen!«

Wendelin gab dem Kellner Befehl, daß seine Sachen nicht zur Bahn geschafft werden dürften, dann gingen sie nach der Universität.

Unterwegs sagte Nöhring: »Ja, es ist ein Zusatz. Sonst ist alles an Fräulein Annemarie gefallen, aber am Tag nach dem Jubiläum hat er diesen Zusatz geschrieben.«

Das Begräbnis Hermann Rinkharts hatte die ganze Stadt auf die Gasse gebracht. Etliche kamen um des historischen Pompes willen, die meisten des Mannes wegen. Feierlich bewegte sich der Zug durch die schweigende Menge, schwerflüssig führten Chopins Trauertöne ihn an, dumpf klangen die Trommeln. Schleppender Flor umhüllte Hut und Stab des Pedellen, goldene Ketten blitzten auf, die sonst das Licht des Tages nicht sahen, schlaff ließen die umflorten Fahnen ihre buntlustige Seide in der heißen Sommerluft hängen, scharf duftete der sterbende Lorbeer der Ehrenkränze.

Sie zogen auf den alten Friedhof und füllten Reihen und Wege. Ring um Ring schloß sich um das frische Grab: Bluts- und Herzensfreunde, Abgesandte gelehrter Körperschaften und strebsamer Vereine, feurige Jugend, die Abschied nahm von einem geliebten Lehrer, Leidtragende, die ihres eigenen Endes dachten, Gewohnheitsmitläufer und Pflichttrauernde, bis sich Schaulustige und Zaungäste in weitem Bogen zwischen den Gräbern hinschoben.

Dort lauschten sie der Trauermusik, den Chorgesängen und mancherlei Reden.

Hartmut Wendelin hörte nur die Stimme seines Innern und sah nur Annemarie Rügemer. Sie trug heute ein schwarzes Kleid, wennschon ohne irgend ein Abzeichen der Trauer. Veränderte sie dies Schwarz so? Oder was sonst machte sie ihm fremd?

Zerstört sah sie aus. Als sei Sturm und Regen über ein Rosenbeet gefahren.

Schon? – Schon!

Aber das ist nicht der Abschied allein. Das war gestern anders. Gestern war es ein Schmerz, der zum Wohltäter des Menschen werden kann, wenn man sich nicht gegen ihn wehrt, sondern ihn geduldig in den Tiefen des Herzens ruhen läßt, wo die Perlen wachsen. – Dies war Qual und Krampf. Dies sah aus, als laure Verzweiflung im Grunde und warte auf den Augenblick, wo sie vorbrechen und ihr Opfer anfallen dürfe.

Wendelin hätte sie anrufen und wecken mögen. – Meine beste Arbeit, hatte sie Hermann Rinkhart genannt. Aber auch diese Arbeit war unvollendet geblieben.

›Und ich bin sein Erbe.

›Also muß ich auch ihr helfen. – Müßt' ich sie nicht einfach mitnehmen – wie seine Blätter und Hefte?‹

Ein leidenschaftliches Verlangen kam ihm, sie ganz buchstäblich bei der Hand zu nehmen, zum nächsten Zug zu führen und sie nach München in Frau Kartlmayers kleine Mietwohnung zu verpflanzen.

›Recht so,‹ sagte er sich gleich darauf, ›auf daß du noch grausamer seist als die anderen. Sie dort oben wegnehmen – vom Professorenberg. Ihr überhaupt eine derartige Entscheidung zumuten, jetzt wo sie nicht ein noch aus weiß, und ganz gewiß nicht Bescheid weiß in ihrem eigenen Herzen. Damit wartest du Jahr und Tag – ihretwegen – und auch um deiner selbst willen. Denn du bist in Erregung und weißt nicht mehr, was deiner Alltagsnatur dienlich ist.

›Aber helfen – zu helfen suchen – ohne selbstsüchtige Nebengedanken und dumme Jungenstreiche, das ist deine Pflicht.‹

Da huben die Studenten, die Hermann Rinkhart vor vierzehn Tagen das Ständchen gebracht hatten, zu singen an.

›Über den Sternen wohnt Gottes Friede‹ – schwang sich's von den blühenden Gräbern empor und nahm Wendelins Gedanken mit in das unbekannte Land.

Als es vorüber war, wollte er zu den Rinkharts, um mit ihnen hinauf zu fahren, aber das glückte ihm nicht.

Bekannte und Unbekannte, solche, die ihm beim Jubiläum begegnet waren, und andere, die schon von seiner Erbschaft gehört hatten, verstellten ihm den Weg und hielten ihn auf.

Als er endlich frei wurde, war die Familie längst auf dem Professorenberg und hoffte nach Erregung und Erhebung wieder auf den Alltag, in dessen gemäßigter Luft die Menschen allein zu dauern vermögen.

Annemarie aber stand unten im Gartensaal und dachte: ›Jetzt muß es sein!‹ Sie fror und fürchtete sich vor dem kommenden Sturm.

»Armes Kind,« sagte Joachim, »dich müssen wir vor allem pflegen. Komm, trink ein Glas Wein.«

Lida, die an Annemaries Arm hing, zog sie zur Teemaschine, die wartend summte. »Lieber Tee, nicht wahr?«

Annemarie nickte.

Lida bereitete ihr eifrig die Tasse, Ferry brachte Rotwein, Karlmann mischte Selters mit Kognak, Joachim schob einen Lehnstuhl an den Tisch. Es war, als sei niemand Hilfsbedürftiges weiter auf der Welt als Annemarie.

»Aber so leg' doch ab! – Aber so laß Dich doch pflegen. – Annemarie, sei lieb! – Du hast doch uns! – Du tust uns doch weh! – Sind wir Dir gar nichts? –«

Eins nach dem anderen tröstete und schalt auf sie ein.

Sie aber blieb unruhig stehen, wie jemand, der auf den Zug wartet, und als sie Albertinens Blick fühlte, stieg langsam das Blut in ihr bleiches Gesicht. Der Blick sprach: ›Hab' ich nicht recht? Du reißest sie alle an Dich.‹

Da setzte sie die halbgeleerte Tasse hin und sagte angstvoll: »Ich will hinauf.«

»Unsinn, was willst Du denn oben? Grillen fangen, Dich in Betrübnis einbohren – das ist ungesund, damit tust Du Onkel Hermann den allerschlechtesten Gefallen.«

Ein leidenschaftlicher Schmerz kam über Annemarie: Dort, wo sie hingehen mußte, würden die Menschen nichts von Hermann Rinkhart wissen, würde niemand voll Dank und Ehrfurcht von ihm sprechen.

›Mach ein Ende,‹ dachte sie, ›alles ist besser als die Furcht davor,‹ und dann fragte sie nach der Medizinalrätin.

Da kam sie eben herein; das Blut stieg ihr ins Gesicht, als sie Annemarie sah, – jetzt würde es kommen! – Lida blickte verwundert von einer zur anderen, in ihrem jungen Herzen war ein banges Vorgefühl, und als Annemarie leise und doch sehr deutlich begann: »Tante Barbara, willst Du Onkel Heinrich sagen, daß ich fort gehe« – schrie sie auf: »Nein, nein! Das ist nicht wahr! Das tust Du nicht! So häßlich bist Du nicht! Wo willst Du denn hin? Wen hast Du denn lieber als uns?«

Da war der Sturm. Er erschütterte das friedliche Haus auf dem Professorenberg vom Dach bis zum Keller. Er fiel mit Bitten, Klagen, Fragen, Gegenreden und Vorwürfen über Annemarie her, bis sie in den stillen Oberstock entfloh. Hier hielt er auf ein paar Minuten den Atem an, um darauf mit neuen Kräften auf sie einzudringen.

Joachim wollte zuerst hinter ihr drein, erregt redete er auf seine Frau ein, die sich sehr leise eine Tasse Tee zurechtmachte.

»Aber das ist ja Wahnsinn! Das dürfen wir nicht dulden. Annemarie ist überhaupt an keinem Platz der Erde zu denken als auf dem Professorenberg. Darüber bin ich mir stets klar gewesen. Hier ist sie ein Kunstwerk von seltener Vollendung. Getrennt verlieren beide ihren höchsten Reiz. Einfach festbinden muß man sie, bis sie zu Vernunft gekommen ist. Wo soll sie denn hin? Sie weiß ja nichts von der Welt.«

»Joachim,« sagte Albertine, »willst Du mich einmal ruhig und mit Vernunft anhören?«

Joachim war so gewöhnt, auf seine Frau »zu hören«, daß er sie auch jetzt schweigend und erwartungsvoll ansah.

»Komm, setz Dich zu mir, damit ich leise reden kann, es ist nur für uns beide. – Joachim,, Du bist ein feinfühliger, rücksichtsvoller Mann, Du hast nicht die grobe, gedankenlose Art der Kraftmenschen, die meinen, weil sie am lautesten schreien können, seien sie zum Regiment der Welt berufen. Deshalb habe ich Dich lieb gewonnen. – Und dies hier ist eine Sache, die sehr zart behandelt sein will. Laß uns nicht die Störenfriede machen, wo ein guter Entschluß gefaßt worden ist: Die Mutter atmet auf, wenn Annemarie geht.«

Joachim sah seine Frau verständnislos an, und als er aus ihrer halben Verlegenheit endlich herauslas, was sie meinte, schämte er sich für seines Vaters Frau.

Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, wieder und wieder. Dann sagte er: »Nun gut. Mama war immer klein. Also soll Annemarie zu uns kommen.«

Albertine erschrak; trotz ihrer unbestimmten Eifersucht – diese Wendung hatte sie nicht gefürchtet. »Joachim!« rief sie. Und dann setzte sie hastig hinzu: »Aber nur nicht heute und morgen. Nur nicht so etwas fest machen ohne Überlegung. Sie ist mir sehr, sehr fremd – ich bin leidend – ich habe mir mit den Aufregungen dieser Reise um deinetwillen viel zu viel zugemutet – wir wollten diese Ferien uns und unseren Liebhabereien leben –«

Sie hielt inne und wußte nicht, hatte sie zu viel oder noch nicht genug gesagt. Joachim schwieg. Er sah seine Frau an und verstand sie nicht, weil er gar nicht auf ihre Worte achtete. Er dachte nur: ›Annemarie hier fort. – Annemarie bei mir in Zürich – das wäre möglich? – Das hätte ich haben können? – Sie – sie und ich? – Aber dann dürfte niemand weiter –‹

Mit der Kraft der Furcht bezwang er diesen Gedanken, aber er sah seine Frau an, lange, prüfend, wie einen fremden, gleichgültigen Menschen, über den einem ein Urteil abverlangt worden ist.

»Du hast recht,« sagte er endlich traurig, »es ist besser, sie geht anderswohin.«

Ehe Albertine antworten konnte, war er hinaus, matten Schrittes ging er die umbuschten Wege entlang, nach der Wiese hinüber. Dort saß er lange und sah Annemarie in Haus und Garten, auf den Plätzen und Wegen des Professorenbergs, wie sie durch diese zehn Jahre gegangen war: wachsend und erblühend, ein schmächtiges Kind, ein verträumter Backfisch, eine Wunderblume. Und dann sah er sie den Heckenweg hinabgehen, sah sie die Straße entlang wandern, wandern, wandern und in Dunst und Nebel verschwinden, wie die Heimatlosen verschwinden.

Inzwischen tobte im Hause der Sturm, den er nicht beschwichtigen durfte, tobte in allen Stockwerken und in allen Herzen.

In der Gesindestube sagte des Geheimrats alte Marlene: »Ist das wahr? Es kann doch nicht wahr sein! Jagt sie denn eins fort? Sie ist doch treu! Jagt sie eins fort? Dann jagen sie's Glück fort!«

Und Buschwerk, des Geheimrats altes Faktotum, stimmte kopfschüttelnd bei: »Es is nich wahr un es is nich gut.«

Dabei blieben sie, obgleich Annemarie ihnen den Trost gab, sie sollten im oberen Stockwerk bleiben und das für sie in Ordnung halten, so wie er es gern gehabt habe.

»Dann habt ihr eure Arbeit; für mich aber gibt es hier keine mehr, also muß ich mir anderwärts welche suchen. Ich kann doch nicht müßig gehen.«

Das war das einzige, was ihr einfiel. Und das hielt sie allen entgegen, die kamen, »um ihr die Sache auszureden.« Das war wie ein Schild, unter dem sie alles Weh und alle Verzweiflung barg und alle Hilflosigkeit.

Mit jedem Mal, wo sie diesen Schild hob und führte, wurde er fester und härter. Er wehrte jeden Streich.

Der Student war seiner Sache am sichersten: »Buschwerk! Mensch! Heulen Sie nicht, ich red' es ihr aus!« klang seine Stimme siegesgewiß durch die Tür. Und dann ließen seine überströmenden Worte alle vergangene Glückseligkeit, alles miteinander Streben und Leben vor ihr aufsteigen, rüttelten an ihrem Herzen, rüttelten an ihrer Fassung.

Aber sie streckte ihm ihren Schild starr und fest entgegen: »Ich darf nicht müßig gehen.«

Und dann wäre er ihr doch beinah aus der Hand gesunken: das war, als Ferdinand den Professorenberg verloren gab und ausrief: »Ich begreife Dich, Annemarie, es tut Dir zu weh, und das bunte Leben soll Dir helfen. Aber haben muß ich Dich. Zwilling, lieber Zwilling, komm mit mir nach Berlin!« – Worauf er ihr voll leidenschaftlichen Feuers ein Leben gemeinsamer Arbeit und gemeinsamen Studiums schilderte, bis sie »dereinst allesamt auf dem Professorenberg herbsten würden: Olympier von Onkel Hermanns Geschlecht«.

Annemarie senkte die Stirn. Berlin wäre möglich gewesen. Ferdinand machte es ihr unmöglich, weil sie dort der Mutter erst recht im Wege stünde, vor dem Herzen ihres Ältesten und Lieblings.

»Annemarie!« – Das frische Jünglingsgesicht leuchtete vor Freude. »Du gehst mit mir, Herrgott, soll das ein Leben werden!«

»Nein, ich will nicht nach Berlin.«

Eigensinnig klang die Antwort, so glatt, kalt und ohne Begründung. Da lief er zornig hinunter.

Annemarie aber schluchzte auf in einem verzweifelten Schmerz, der ihr auch die guten Stunden der Vergangenheit verdarb.

Hatte Albertine recht? – Riß sie an sich, was ihr nicht gehörte? – Mußten die anderen stoßen, um sich ihrer zu erwehren? – Hatte sie dies häßliche Schicksal verdient? – Es geschah doch nichts ohne Ursache?

Zum erstenmal ging ihr die glatte Reihe von Ursache und Folge in Stücken. ›Ach,‹ dachte sie, ›nur die Natur gibt, was sie geben muß, in unerschütterlicher Gerechtigkeit, Menschen sind grausam und unberechenbar. Das ist kein Leid, das kommen mußte, das ist kleines, häßliches, selbstgeschaffenes Leid – Menschenarbeit.‹

Menschenarbeit? – Menschenarbeit war auch ihr eigenes Tun und Lassen.

›Bin ich dennoch schuld? Stand ich so breit da, daß ich den anderen die Sonne nahm? Ich hab' ihnen doch allen nur Liebes tun wollen, hab' geben, hab' froh machen wollen und nichts für mich verlangt, als den Sonnenschein, der für alle Menschen Wärme genug hat.‹

Sie dachte an Hermann Rinkhart.

›Vater, lieber Vater, Du brauchtest ihn auch! – Oder hättest Du Dich behelfen können? Hättest Du ohne Sonne so groß, so gut, so warm, so reich sein können? O Du, der Du mich immer verstandest, der Du mir immer den Weg zeigtest, wie soll ich mich ohne Dich zurechtfinden? Bin ich schuld – o sag mir, bin ich?‹

Sie neigte den Kopf vor, als wolle und könne sie, und sei es aus noch so weiter Ferne, seine Antwort vernehmen.

Aber je mehr sie sich vorzustellen suchte, was er zu alledem gesagt haben würde, desto weiter und weiter schien er sich von ihr zu entfernen, und aufschluchzend rief sie: »Ich höre Deine Stimme nicht mehr.«

Und statt des Ersehnten hörte sie Joachim unten im Garten – Joachim, den einzigen, der nicht gekommen war, um sie zum Bleiben zu bereden.

Albertine natürlich, Albertine hatte ihn zurückgehalten. Aber daß er sich hatte halten lassen! Es schwoll wieder bitter in Annemaries Herzen auf, sie wehrte sich mit leidenschaftlicher Gewalt, wie ein Schwimmer gegen übermächtige Wellen. Sie drängte alles Gegenwärtige fort, sie wollte nichts denken, nichts hören, sie wollte ihn wiederfinden, den Fernen, den Geschiedenen, der doch bei ihr bleiben sollte, und der sie nun schon am vierten Tage verlassen hatte.

Sie ging in sein Zimmer, setzte sich auf den Platz, wo sie ihn zuletzt in all seiner Größe, Güte und Liebenswürdigkeit gesehen hatte, und drückte ihre Stirn auf das Blatt, das seine letzten Worte trug.

Sie dachte dabei nicht an den, dem diese Worte galten, dachte nicht an die Arbeiten, die sie hier hatte entstehen sehen, nicht an gute Worte, die sie hier vernommen hatte. Nichts davon fand Eingang in ihre verwirrte Seele.

Und doch wurde sie auf diesem Platz ruhiger. Erst lärmte noch ein wildes Brausen in ihr, ein Stürmen, Klagen und Zürnen. Dann war ihr, als fühle sie eine warme, beschwichtigende Hand auf ihrem Scheitel, und endlich, endlich hörte sie in allem Tumult ihrer Schmerzen seine Stimme.

Keine Worte, soviel sie sich auch darum mühte, aber Ton und Rhythmus ganz deutlich in ihrer milden Güte, in ihrer friedlichen Klarheit, und sie vergaß sich und ihr Leid im Horchen nach der geliebten Stimme.

Aus diesem Ausruhen schreckte sie Onkel Heinrich, den der Schulfuchs in rasendem Lauf aus der Klinik geholt hatte. Onkel Heinrich, der glatt und nüchtern fragte, Dinge, die so schwer zu beantworten waren, der ihr »daheim« Freiheit versprach zu aller Arbeit und aller Torheit, die sich phantastische Jugend ersehnen möge.

Sie meinte ihn heute erst kennen zu lernen. Er wuchs vor ihren bekümmerten Augen dem Bruder nach, er wußte, daß Hermann Rinkhart sie nicht würde hinauslassen wollen ins Ungewisse, er wußte, wie weh ihr ums Herz war, er wußte, daß sie am Scheiden litt, – nur warum sie ging, wußte er nicht.

Und als er vergeblich überredet, gezürnt, bewiesen hatte, bat er.

»Kind, das Herz tut Dir weh – mir auch – wir zwei verlieren am meisten. Aber wenn Du meinst, der Ort mache es schlimmer, so irrst Du Dich. Wir können unserem Kummer nicht davonlaufen, wir müssen ihn bestehen, und das ist leichter zu zweien. Annemarie, bleib, – ich brauche Dich auch.«

Das klang erschüttert und erschütternd, als käme es ungewollt aus tiefstem Grunde. Griff nach ihr, hielt sie und stieß sie zugleich aus dem Haus.

»Nein, nein!« rief sie in leidenschaftlicher Abwehr. »Du brauchst mich nicht, Du hast ja so viele, die Dich trösten wollen, Du bist nicht einsam wie Vaterchen.«

›Sie ist krank,‹ dachte der Medizinalrat und sah besorgt ihren allzujähen Farbenwechsel. Der Schrecken, der blitzartige Übergang von Licht in Dunkelheit – die jungen Augen müssen das Sehen im Dunkeln erst lernen.

Und er sagte mild und herzlich: »Ich will Dich weder zwingen noch überreden, nur entscheide Dich nicht, ehe Du ruhiger geworden bist.«

Annemaries Schild verlor seine Festigkeit. Heinrich Rinkhart hatte eine einzige Ähnlichkeit mit seinem Bruder, das war die Stimme, und mit dieser Stimme sprach er überredend auf sie ein.

›Ich muß ja fort,‹ dachte sie angstvoll, ›ich muß. – Muß ich wirklich?‹

Da ging die Tür auf, und Albertine trat ein; Albertine mit Joachim und Doktor Wendelin.

Sofort wurde Annemaries Schild wieder hart und dicht: »Verzeih mir, Onkel Heinrich, wenn ich undankbar bin – ich muß fort, ich kann nichts mehr daran ändern.«

Zornig kehrte er sich von ihr ab, der Tür zu.

›Jetzt ist's vorbei,‹ dachte Annemarie, und ihr war, als habe sie alle begraben.

»Papa!« rief Joachim hinter dem Medizinalrat drein. »Hier ist Hartmut. Bitte Papa!«

Der Medizinalrat kam bis zur Schwelle zurück und schüttelte Wendelin die Hand. »Verzeihen Sie, Doktor, ich habe Sie nicht einmal gesehen, das Mädel macht mich unwirsch mit ihrem Eigensinn.«

Und dann sprachen sie von Hermann Rinkharts letztem Willen.

»Sie nehmen an?«

»Joachim hat mir das Blatt gezeigt, es ist mir eine Ehre – wenn nicht Fräulein Rügemer –«

Er sah zu Annemarie hinüber, die sich nicht gerührt hatte, seit er auf der Schwelle stand. Auch jetzt blieb sie stumm.

»Es würde mir leid tun, wenn es Ihnen unlieb wäre, Fräulein Rügemer,« sagte er ein wenig lauter.

Da sah sie ihn an und antwortete: »Nein, ich hoffe, Sie nehmen es an.«

»Nun denn, so wollen wir's zu seiner Ehre verwalten.«

Der Medizinalrat schüttelte Wendelin die Hand; er hatte seinen letzten Rest Gemütsruhe verbraucht. »Gut, sehr gut; wir sprechen uns nachher noch beim Abendbrot. – Jetzt hab' ich Patienten.«

Joachim und Albertine blieben.

›Wenn sie nur gehen wollten,‹ dachte Wendelin; aber sie blieben. Albertine trat an den Schreibtisch, griff nach diesem und jenem und sagte, das beste wäre, wenn Doktor Wendelin gleich Einsicht in sein Erbteil nähme.

Er zögerte mit der Antwort, jede schien ihm verletzend. Auf einmal fühlte Annemarie, die ins Leere gestarrt hatte, dies Schweigen.

›Er denkt, es tut mir weh,‹ dachte sie. ›Aber das doch nicht! Nicht daß er, den Vater am liebsten hatte, nun die Blätter in die Hand nehmen wird.‹

»Kommen Sie,« sagte sie ruhig und schloß ihm die beiden Arbeitsschränke auf.

Da lagen Fach für Fach Hefte, Zettel, Ausschnitte, Broschüren und Bücher, Beobachtungsreihen und Pläne; Abschlüsse lagen da und Fingerzeige, welche Wege weiter hinausführen könnten zur Erforschung des unbekannten oder heißumstrittenen Landes der Vermutungen. – Ein reiches Leben hatte Arbeit für manchen Kommenden hinterlassen.

Wendelin zog sich einen Holzschemel heran, Annemarie ging leise hinüber in die Bibliothek. Er sollte sich nicht durch sie gehindert fühlen. Und drüben war ihr, als sähe und höre sie durch die Wand.

›Wenn sie nur gehen wollten,‹ dachte Wendelin wieder, während er Heft für Heft öffnete und schloß, aber Frau Albertine setzte sich aufs Sofa, auf Hermann Rinkharts Platz.

Das reizte ihn, er mußte sich mühsam zur Sammlung zwingen.

›Die Frau ist mir fatal.‹

Joachim ging mit leisen, unregelmäßigen Schritten hin und her. Durch die Tür, durch das große Vorzimmer, wieder zurück, stand, ging, stand, ging – leise, aber unruhig – unregelmäßig.

›Der arme Kerl ist ja schändlich nervös,‹ dachte Wendelin.

Endlich kam Joachim dahin, wohin er wollte. Beim dritten Marsch durch die Zimmer überschritt er die Schwelle der Bibliothek.

Frau Albertine hob den Kopf, wollte ihn anrufen. Aber sie schloß die Lippen wieder fest und hart. Wie ein Strich sahen sie aus, und das Blut schoß ihr jäh bis über die Stirn.

Auch Wendelin horchte.

Und die beiden in der Bibliothek sprachen so leise und so wenig, daß die beiden im Studierzimmer sich vergeblich anstrengten und von Minute zu Minute unruhiger wurden.

›Sie wird ihm verraten, daß ich –‹ dachte Frau Albertine.

›Er wird sie mit seiner haltlosen Schwäche anstecken,‹ dachte Wendelin.

Inzwischen fragte Joachim nur: »Du willst fort?« und Annemarie fürchtete: ›nun wird er sagen, dann komm zu uns, und ich muß auch ihn ohne einen ehrlichen Grund mit meinem Nein kränken.‹

Aber Joachim strich sich nur unruhig wieder und wieder das Haar aus der Stirn und sagte endlich: »Versprich mir, wenn Du einen Menschen brauchst, dann –«

Sie lächelte, das machte das traurige Gesicht wunderschön.

»Du bist gerade der Sechste, der mit dieser Wendung endet, wenn er begreift, daß ich entschlossen bin.«

»Nun denn,« fiel ihr Joachim bitter ins Wort, »also komme ich zu spät und tauche in die Masse zurück.«

»Du brauchst deshalb nicht erst der Sechste zu sein, den ich bitten würde.«

Das sagte sie sehr lieb und freundlich, um ihm nicht entgelten zu lassen, was Albertine ihr zuleide getan hatte, so daß er ihr beide Hände hinstreckte. Als sie ihre Rechte hineinlegte, küßte er die mit unbezwinglicher Heftigkeit und dachte zum erstenmal in seinem Leben: ›Diese Hand müßte mein sein, diese Hand könnte mein sein, ich habe mein Glück verschlafen.‹

Da tat Frau Albertine drüben aus unruhigem Herzen eine laute Frage, und Joachim erschrak. Er ließ Annemaries Hand fallen und sah sie an, als sei sie verwandelt.

»Komm,« sagte er hastig, »komm mit hinüber.«

»Laß mich hier.«

»Komm mit!«

Da tat sie ihm den Willen.

Drüben sprach Albertine zu Wendelin: »Sollen wir Ihnen die nötigen Kisten besorgen? Möchten Sie nicht gleich heute alles Nötige einpacken?«

Joachim erschrak. Wendelins Augen blitzten Frau Albertine zornig an.

Annemarie aber sagte: »Tun Sie es getrost. Sie sollen nicht noch einmal um unsertwillen die Reise machen müssen.«

Wendelin war aufgestanden und wendete sich ausschließlich an Annemarie. »Ich möchte dies alles noch hier lassen. Zunächst muß ich eine begonnene Arbeit abschließen, und danach käme ich am liebsten auf einige Zeit hierher, denn ich sehe schon, daß es allerlei zu fragen gibt. Sie können mir die Arbeit sehr erleichtern, und so hat er es auch gemeint.«

Einen Augenblick lang waren die drei atemlos still, dann antwortete Annemarie: »Nehmen Sie die Sachen doch lieber mit. Mich finden Sie nicht mehr hier, wenn Sie wiederkommen – ich gehe fort.«

»Sie gehen nach Zürich?« fragte Wendelin heftig. Jetzt war ihm auch Joachim fatal.

Gleich darauf tat er ihm leid ob seiner hilflosen Verlegenheit, und Annemarie antwortete rasch: »Nein, nicht nach Zürich, irgendwohin.«

Als Annemarie ›irgendwohin‹ sagte, zuckten ihre Lippen. Irgendwohin war ein böses Wort, – irgendwohin, das umschloß so viel Gleichgültigkeit, Zwecklosigkeit und Öde.

Dies Wort und die zuckenden Lippen machten Wendelin hellsichtig: sie trieben sie fort, und Joachims Frau war schuld daran. – Damit war das Zerstörungswerk begonnen worden. Nun wappne dich.

»Gut,« sagte er hart und sah das Ehepaar feindlich an, »also nehme ich mein Erbteil mit, ganz nach euren Wünschen. – Aber nun beschaffen Sie mir auch wirklich die – Kisten, gnädige Frau, und – laßt mich mit Fräulein Rügemer allein. Wenn ich schon rücksichtslos sein soll, so will ich es ganz sein. Fräulein Rügemer muß sich und ihre Trauer für ein paar Stunden vergessen und mit mir arbeiten; das kann sie am besten, wenn sie keinen – Rinkhart vor Augen hat.«

Das Ehepaar ging. Joachim wie ein kleiner Junge, der Prügel bekommen hat, Albertine mit zornigen Gedanken gegen den vielgepriesenen Jugendfreund.

Oben sah Annemarie blicklos ins Leere. – Wendelin ließ ihr Zeit. Endlich ging er an den Schreibtisch und sagte sanft: »So, und nun seien Sie ein tapferes Menschenkind. Ich will Sie nicht lange plagen. Nur damit ich einen Überblick gewinne und um Verwirrung zu vermeiden, helfen Sie mir einpacken.«

Da stand Annemarie schon an seiner Seite.

Als sie aber nach der obersten Mappe griff, hielt Wendelin ihre Hand zurück, und da sie fragend zu ihm aufsah, sagte er: »Noch eins, Fräulein Annemarie, verzeihen Sie, wenn ich plump damit losbreche, aber man wird uns nicht lange allein lassen. – Sobald ich dies herauszugeben beginne, komme ich schwer allein aus. Wenn Sie wirklich hier weg wollen, München ist ein Ort so gut wie jeder andere: kommen Sie im Herbst nach München und helfen Sie mir bei seinem Nachlaß.«

In Annemaries Augen kam ein lichter Glanz; es war nicht mehr alles tot und leer, sie sah wieder ein Ziel.

Gleich darauf hatte sie das beschämende Gefühl, als ob sie ein Almosen empfange. Er braucht dich ja gar nicht, er will dir nur wohltun, er der Fremde, weil er sieht, daß die Nächsten dir alle wehtun. Das Freudenlicht erlosch wieder, und sie meinte mutlos: »Wozu sollten Sie mich brauchen? Sie finden sich ja ohne mich ganz gut zurecht.«

»Aber Sie würden mir viel Zeit ersparen.«

Daß er das so ohne alle Redensarten sagte, so ohne jeden Beigeschmack von Mitleid oder Fürsorge, machte ihr Mut.

»München – ich wäre nie auf München gekommen.«

›Sie wäre nie auf München gekommen,‹ dachte Wendelin und fühlte Enttäuschung, aber er sagte ruhig wie vorher: »Vielleicht ist es gerade das Rechte. Ein buntes Bild der bunten Welt, keine grüne Stille. Auch keine Höhe, denn wo viele sind, ist immer Niederung – aber Sie sollten es doch tun um seinetwillen.«

– Um seinetwillen. Das war das rechte Wort. Annemarie atmete tief auf, wie jemand, der aus stickiger Luft ins Freie tritt, gab Wendelin die Hand und sprach fest: »Ich komme.«


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