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Elftes Kapitel.

»Wo wollen Sie hin, Fräulein Rügemer? Darf ich mit Ihnen gehen?«

Elsabeth Unbereit, die schwärmende Musikschülerin war's, die Annemarie atemlos die Treppe hinab nachrannte.

Annemarie blieb stehen. »Eigentlich nirgends hin – Ortskunde treiben.«

»Dann bringen Sie mich nach dem Odeon. Ja? S' ist bei der Feldherrnhalle, die müssen Sie doch anschauen, und dann ist Littauers Laden dort mit den vielen Bildern, und ein Stück weiter einer mit Photographien von Berühmtheiten. Auch Guido Morsach hängt darunter. Kennen Sie Morsach?«

Annemarie mußte lachen über den kühnen Weg, auf dem Elsabeth Unbereit Guido Morsach erreicht hatte. Der Name war ihr nicht fremd; vor etlichen Jahren hatte ein Morsach zu Füßen des Professorenbergs in einem der akademischen Konzerte eigene Klavierstücke gespielt. Jung, feurigen Temperaments, von bestrickender Liebenswürdigkeit sollte er gewesen sein. Die Kenner prophezeiten ihm im Handumdrehen Berühmtheit – und prophezeiten falsch. Als man wieder nach ihm fragte, hieß es, der Mann sei ebenso faul als genial und werde im Leben nicht vorwärts kommen.

Und nun hatte Annemarie den jungen Künstler in diesen wenigen Münchener Tagen schon etlichemal als ein vielumstrittenes Menschenkind nennen hören.

Das kleine Fräulein schob die dichten Brauen hoch: »Aber Guido Morsach ist nicht lächerlich, Fräulein Rügemer, er ist ein Genie.«

»Das sagten auch im Bienenstock etliche Leute, und etliche andere bestritten's. Der gelehrte Musiker von drüben aber erklärte ihn für ein Genie im Bummeln.«

»Wustrau?« Des Unbereitleins Nasenflügel bebten leise. »Was weiß der vom Genie! Der schluckt Bibliothekstaub und sitzt auf einem bequemen glatten Planer!. Genies haben Abgründe in ihrem Herzen. Morsach ist ein Genie, glauben Sie mir's! Er hat ein Paar Augen im Kopf – wenn er einen so ein bißchen freundlich ernst von der Seite anschaut, hört man sofort das Andante aus der Neunten. Und was für Farbe sie haben, ist schon gar nicht auszudrücken. Aber das ist das Rechte, so sind die Augen derer, die von den Göttern abstammen, sagt Richard Wagner. Ich sage: sie sind golden wie der Abendhimmel, wenn eine ganz leichte gleichmäßige Wolke alles Licht eingesogen hat und nun leuchtend wieder ausstrahlt – es blendet nicht, aber man weiß, das ist Sonne. – Nun müssen Sie ganz genau aufpassen und mir dann ganz ehrlich sagen, was Sie davon halten. Sowie er kommt, nicht wahr? – Hat am Samstag jemand davon gesprochen, Fräulein Rügemer, ob Morsach kommt?«

»Ja, er kommt,« antwortete Annemarie mit schalkhaftem Ernst, »auf dem Helikon klopfen sie schon die Motten aus seinem Sofa.«

» Die klopfen überhaupt nicht,« sagte Elsabeth geringschätzig, »und er täte weit klüger, zu den Ameisen zu ziehen, damit seine Sinfonie endlich fertig wird. G-moll – G-moll, Fräulein Rügemer! Das ist meine Lieblingstonart.«

Da waren sie am Odeon, und das kleine Fräulein mit den goldbraunen Hängezöpfen schwippte, nach rechts und links nickend, die Stufen hinauf.

Annemarie sah ihr nach und sah sich die anderen an, die schwatzend in Gruppen umherstanden. Sie hatten eine Pflicht und hatten ein Ziel, kein Wunder, daß sie so fröhlich waren.

Und du?

Am meisten litt sie an dem dunkeln Gefühl, daß sie irgend ein Versprechen nicht gehalten habe und all ihre Kräfte einsetzen müsse, um ihm doch noch gerecht zu werden.

Leben – weiterkommen – aber wie?

Arbeiten – aber was? –

Jemandem wohltun – aber wem?

Auf ihrer stillen Insel hatte sie gemeint, das werde sich leicht finden, wenn sie nur erst wieder unter Menschen sei, aber das praktische Leben hatte ein anderes Gesicht.

Langsam ging sie an der Feldherrnhalle entlang, die an diesem lichtlosen Herbsttag grau und verdrossen die Ludwigsstraße hinaufsah, ging durch die Residenz, durch öde Arkaden, an Muschelgrotten vorüber, wo melancholische Nymphen ihr zuzuflüstern schienen: Alles hat seine Zeit, die unsere ist vorbei, sieh zu, daß du die deine nicht versäumst. Schließlich kam sie nach der inneren Stadt, wo altmodisch behaglich durcheinanderlaufende Gassen sie in die Irre führten.

Als dann allerorten der Heimmarsch der fleißigen Leute zum Mittagbrot begann, stand sie lange an einer Kirchentür still und betrachtete den Strom von Ladenmädchen, Schreibern, Handwerkern, würdevollen Beamten und lustigen Schulkindern, immer mit dem Hintergedanken: ›Die haben ihr Teil getan, die haben das Recht, sich hungrig zu Tisch zu setzen, die werden daheim erwartet von Lust oder Sorge, und müssen eilen, um zur rechten Stunde am rechten Platz zu sein – o Glück!‹

Erst sehr spät fiel ihr ein, daß auch sie erwartet wurde und zur rechten Stunde am rechten Platz sein sollte.

Sie fragte um den nächsten Weg, aber entnahm dem krausen Bericht nur, daß sie nicht mehr zur Tischzeit in den Ameisenhügel gelangen konnte, also telephonierte sie lieber eine Entschuldigung vom nächsten Postamt. Sie vernahm allerlei ah und oh. Das Unbereitlein rief: »Es wird mir nicht schmecken.« Wendelins Stimme, nach der sie horchte, sprach nicht.

In bedrückter Stimmung erfragte sie sich darauf von Gasse zu Gasse ihren Weg.

Die Luft, die sich am Vormittag leise geregt hatte, wurde still und löste sich in feinen Regen auf. Annemarie ging über breite Plätze, an Gärten vorüber. Das Laub rieselte herab, der Regen wurde stärker und schlug es zu Boden. Pfützen standen in den Straßen, eine frühe Dämmerung kam.

Annemarie fragte und irrte sich weiter, sie wurde auch müde. Sie hätte jetzt eine Droschke haben können, aber sie wollte es erzwingen: Es war doch etwas, eine Art Kampf, zu dem sie ihre Kraft brauchte.

In den Läden zündeten sie Licht an, in den Ateliers wischten sie die Pinsel aus vor der Zeit. Annemarie stand an dem Laternenpfahl eines Kreuzweges und wußte nicht wohinaus. Es war ein lächerliches kleines Ungemach. Sie mühte sich, es lächerlich zu finden, aber dies ganze Irrelaufen kam ihr schmerzhaft symbolisch vor.

In stiller Verzweiflung sah sie geradeaus. Ein feines melancholisches Regenlicht lag über der Straße, nur das rote Lichtchen der Tram glühte freundlich auf und verschwand wieder. Es war trostlos, aber schlimmer war, was dahinter lag: das laute, eifrige, wichtig-geschäftige Durcheinander des Ameisenhaufens.

In dem Augenblick blitzten die Laternen auf. Es blinkerte auf Pfützen, Pflaster und Regenschirmen, als ob ein betrübtes Gesicht zu lächeln beginne, und alles war verwandelt.

›So ist es,‹ dachte Annemarie, ›auf die Beleuchtung kommt's an, und er würde sagen: Kannst du dir nicht auch ein Lichtchen anzünden? – Ach – ich will ja, ich will!‹

Sie ließ den Laternenpfahl und ging schnellen Schrittes weiter, hielt die Augen offen und fand nun auf einmal ihren Weg.

Erst an der Tür des Ameisenhügels stand sie wieder still und sah zu Wendelins Wohnung hinauf. Dort war Licht, es ging jemand an vier erleuchteten Fenstern hin und wieder.

›Er ist unzufrieden mit mir,‹ dachte sie. Gleich darauf schloß sie die Augen, als könne sie das gegen falsche Einbildungen schützen. – ›Er denkt ja gar nicht an mich. Nur mein eigenes schlechtes Gewissen schiebt ihm das unter; seine Arbeit ist's, die ihn wandern macht.‹

Als sie dann in ihrem Zimmer die Lampe ansteckte, sah sie einen Brief auf dem Tische liegen, und das Blut stieg ihr heiß ins Gesicht. – Wendelins Handschrift! – das war doch eine Strafpredigt.

Und dann las sie:

 

›Liebes Fräulein Annemarie,

Ihren Selbständigkeits-Egoismus muß ich an die Leine meines Arbeitsegoismus nehmen. Gerade heute wollt' ich Sie etwas fragen und saß mit langem Gesicht dem leeren Stuhl gegenüber. Deshalb scheint mir am sichersten, wir beginnen unsere gemeinsame Tätigkeit sofort, und ich bitte Sie, morgen um Zehn zu mir zu kommen. Die Nachmittage gehören Ihnen.

Mit dem freundlichen Wunsch, daß Sie nicht allzu zeitgemäß werden möchten

Ihr Wendelin.‹

 

›Was das nun wieder heißen soll,‹ dachte Annemarie; aber sie lächelte und freute sich. Ein Lichtchen leuchtete ihr, wenn sie es auch nicht selber entzündet hatte, und Dederich dachte an diesem Abend abermals: ›Die male ich ganz gewiß, und wenn ich mir die Haare dabei ausraufen sollte.‹

Als sie am anderen Morgen drüben die Glocke drehte, öffnete ihr Wendelin selber die Tür. Sie lächelte ihn an, und seine Hand fühlte einen warmen Druck.

»Ich danke Ihnen. Haben Sie gewußt, wie froh Sie mich machen? Hoffentlich ist das Opfer nicht zu groß.«

In diesem Augenblick dachte Wendelin, es sei überhaupt kein Opfer, daß er der eigenen Arbeit jetzt schon die Vormittage nahm. Am Tage vorher hatte er seinen Entschluß sehr stark als Opfer empfunden. Und hatte doch auch sich selber zuliebe alles so geschoben und gerichtet, denn er deutete sich Annemaries Irrgang recht, und das Verlangen, ihr zu helfen, nahm ihm die Arbeitsruhe.

Nun führte er sie in die Bibliothek, die man durch eine ausgehobene Tür von seinem Arbeitszimmer aus übersehen konnte. Da waren zwei Schränke, wie die vom Professorenberg, und die offenen Kisten daneben; ein Bauerntisch stand für Annemarie bereit, mit Schreibgerät, und ein rotseidenes Sesselchen, das sich wunderlich genug in dem übrigen blauen Hausrat ausnahm.

– Diesen Sessel hatten die Bienen ihrem »alten Herrn« geschenkt, als er im Frühling sein Dreiunddreißigstes Jahr vollendete. Mit neckischen Andeutungen über den Pasch als Glückszahl, einschichtige Unvollkommenheit und purpurrote Gefühle, die dem kühlen Blau seines Daseins fehlten. –

Frau Kartlmeyer sah zur spaltoffenen Tür eines Hinterzimmers herein, wo sie sitzen sollte, »der Leute wegen«, und »sie tat's blutgern für oans, wo so bildsauber und trauri ausschaugte; un wenn derentwegen au d' Wirtschaft ins Dekerment kam.« – Der tröstende Maßkrug stand ihr zur Seite.

Zunächst sollte Annemarie nur auspacken und eine genaue Liste anlegen.

Wendelin hatte gefürchtet, der Anblick der Blätter werde sie erschüttern; aber dem war nicht so, nur ein verstohlenes, zärtliches Streicheln, dann begann sie frisch und praktisch ihre Arbeit. Was ihr von Hermann Rinkhart kam, konnte sie in seinem Sinn tun und empfinden.

Ein warmes Licht war in ihren Augen, als sie mit ihrem Arbeitsgenossen zu Tisch ging. Selbst daß er sie am Nachmittag nicht haben wollte, löschte ihr's nicht aus.

Vor Wendelins Tür hatten sie eine Begegnung, die dies Licht nicht mit Freuden sah: die Schönheit von Morgen kam mit ihrer Mutter, um den Helikon zu besichtigen.

Es gab Begrüßung, Vorstellung und ein kurzes Gerede ohne Belang. Aber Kathinka Birk sah Annemarie Rügemer mit unruhigem Spürblick an: Was bist du ihm? Was tust du hier? – Und oben auf dem Helikon galt ihre zweite Frage diesen Dingen.

Die Antwort machte sie lächeln.

Weiter nichts? Natürlich weiter nichts. Schön war dies Fräulein Rügemer, aber gewiß auch langweilig. – Dennoch – sie stand auf dem begehrten Platz und sie sollte ihre Freundin werden, denn es lohnte, neben ihr zu stehen und Siegerin zu sein.

Auch über den kleinen haarbuschigen Maler, der die langweilige Schöne mit seinen Augen durch und durch schaute, bei dem altmodisch-galanten Käsmodel, dem sie Vatermörder aufreden würde, weil die so gut zu ihm paßten.

Und dann würde Morsach kommen. Guido Morsach, dessen Spiel, dessen Blicke sie schwindeln gemacht hatten, voriges Jahr im Gürzenichkonzert.

O München, du wundervolles München!

Morsach und Wendelin, zwei Männer, so verschieden wie wechselnde See und vulkangeborenes Urgestein. Und diese beiden hier haben, so daß man nur die Hand nach ihnen auszustrecken brauchte! Und das ganze bunte, strahlende, ewig bewegte Leben der lustigsten Großstadt dazu! Wie schön war die Welt. –


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