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Zehntes Kapitel.

Die Bienen schwirrten aufgeregt durcheinander. Wenn man schon etliche sechzig Sonnabende zusammen verbracht hat, tut Auffrischung gut, und heute kam sie zwiefach.

Von Fräulein Rügemer hatte Doktor Wendelin vorher das Nötige gesagt. Und wie schön sie war, sah heute kaum einer, das lag an der Zweiten, »die einfach alles totschlug«.

Weibezahn, der Pianist, packte den dicken Dichter an der Schulter, William Weibezahn, den sonst nur Notenköpfe erregten, »schmolz vor Entzücken«.

»Fritzchen, Fritzchen, halten Sie Ihr Herz fest, meins flog schon davon. Das ist noch nicht dagewesen. Delikat, modern, sensitiv, opalisierend. Der Typus von Morgen. Kunst und Natur, die streitenden Tonarten in wonnigster Harmonie.«

»Weibezahn,« murrte das dicke Fritzchen und streichelte sein geschorenes Haupt, »Sie sind ein verrückter Kerl.« – Aber das, was er nun sah, machte auch ihn schmunzeln.

Lässig lehnte die Schönheit von Morgen in ihrem Stuhl. Die tiefroten Lippen lächelten sehnsüchtig in dem schmalen, weichen Gesichtchen, die vollen Haare bauschten sich auf und sanken doch auch über Schläfen und Hinterkopf bis in den Nacken, als ob ihre Last nicht anders getragen werden könne. Der dichtende Fritz klopfte dem malenden Dederich auf die Hand: »Donnerwetter, Franzel, der Tag ist gut, wo hast Du den Pinsel?« – Der Pianist zog Dederich am Ellenbogen und rief: »Menschlein, Menschlein, das wär 'ne Königin ins Bienenhaus!«

Fritzchen lachte: »Schöne Sünde scheint mir ausdrucksvoller zu sein. Franzel, mit der malst Du den Stuck in Grund und Boden.«

Der haarbuschige Maler, der bei den Ameisen zu Hause war, hatte schweigend geschaut, jetzt sagte er: »Den Augentrost mal ich lieber,« und setzte sich so, daß er Annemarie ansehen konnte.

Worauf sich der dicke Dichter nüchtern nach dem woher und weshalb des schönen Gastes erkundigte.

Weibezahn fuhr sich verzweifelt durch die D'Albertfrisur: »Dicker Fritz, ich finde Sie gräßlich. Man soll Achtung vor den Dämmerzuständen des Lebens haben.«

»Unsinn, ich bin Dramatiker, ich frage den Kuckuck nach halben Tönen und Zwischenfarben.«

Und das praktische Fräulein Böhning wußte auch hier Bescheid. Sie erzählte allen, die es hören wollten, daß Fräulein Kathinka Birk mit ihrer Mutter nach München gekommen sei, um sich von Lenbach malen zu lassen.

»Warum soll er nicht? Hat doch Augen im Kopfe.«

»Es ist des Vaters höchster Wunsch. Der Vater ist reich und krank, und die Mutter reist wieder zu ihm, sowie Lenbach Ja gesagt hat und die Tochter in einer guten Pension versorgt ist. Ich aber bin beauftragt, indessen hier die Ausbildung ihrer Talente zu überwachen.«

»Talente?« fragte der Pianist und beschloß, diesen Klavierunterricht zu geben, und wenn sie auch gar kein Talent habe.

»Talente?« sagte Fritzchen und klopfte Weibezahn auf die Schulter. »Eins hat sie gewiß: Die Motten ins Licht zu locken.«

»Wie gefällt Ihnen die Blonde dort?« fragte inzwischen die Schäftlerin Annemarie. »Die ist's, von der ich Ihnen erzählte, die zu Ihnen paßt: ohne Beruf und doch voller Interessen. Die möchte ich Ihnen zur Nachbarin und Gefährtin verschaffen, in das leere Zimmer, wissen Sie, das die Fenster nach der Gasse hinaus hat.«

Nach der Gasse hinaus, das hieß Aug' in Auge mit Dr. Wendelins Wohnung. Ihr hatte er eines ausgewählt, das nach der anderen Seite sah – in baumreiche Gärten, frei und weit – ja – aber Annemarie meinte, das Eingewöhnen würde ihr leichter werden angesichts der Fenster, hinter denen der einzige Mensch wohnte, der ihren Winkel voll Glück gekannt hatte. Ein wehes, schwindliges Gefühl zitterte in ihr: Dies Ankommen gestern, wobei Wendelin sie in der Tür des Ameisenhügels den Schwestern Schäftlein eben nur hingereicht hatte, der Abend unter so viel gleichgültigen Menschen, dies Warten auf Wendelin heute den Vormittag lang und die tiefe Enttäuschung, als er auch Mittag nicht kam – das alles verdunkelte ihr die Welt.

Ein paar Zeilen statt seiner: »Ich habe eine Sitzung, und Fräulein Magdalene soll mit Ihnen Besuch auf dem Helikon machen. Am Abend sehen wir uns bei den Bienen.«

Annemarie hatte sich gegen noch mehr neue Gesichter wehren wollen, aber der Gedanke: ›Er ist dort,‹ verlockte sie doch, und so war es auf sie eingedrungen, wie unten am Tische der Ameisen, so oben im Bereich des blauen Banners, und wiederum vor Monsieurs sinnreichem Bienenplakat. Sie war alles dessen so müde, daß sie sich kaum noch Mühe gab, auf ihre Umgebung zu achten. Dabei hatte sie ein dumpfes Gefühl des Undankes, denn alle waren freundlich und herzlich mit ihr. Elsabeth Unbereit, die sechzehnjährige Musikschülerin mit den goldbraunen Hängezöpfen und den temperamentvollen Händen, hatte ihr bereits gestern abend eine schwach verblümte Liebeserklärung gemacht.

Aber all diese lebhaften, fröhlichen Menschen, die so viel Nützes und Unnützes zu tun hatten, standen wie graue Schatten vor Annemaries Seele: – Nichts – gar nichts! Und das würde auch nie etwas werden. Das war ja ein fremdes Geschlecht.

Eine einzige stand greifbar lebendig vor ihr, ein kleines, feines, vertrocknetes Mütterchen, und geblieben war ihr von allem Plaudern und Reden des Tags nur das, was die kleine alte Frau gesagt hatte.

Irgend ein Zufall ließ Annemarie am Nachmittag mit der Großmutter Mangold allein. Sie saßen zusammen auf Josephas Blumendach, wo jetzt die Chrysanthemen ihre Blüten phantastisch entfalteten. Ihre herben Abschiedsdüfte lagen schwer in der Luft, und neben einer großen weißen Blume, die aussah wie ein weinendes Mädchen, das sich in seinen Schleier hüllt, um seinen Schmerz zu verbergen, sah Annemarie das kleine, feine, alte Gesicht. Und die klugen stillen Augen, die aus dem alten Gesicht in eine Welt hinausschauten, die ihnen schon lange fremd geworden war, sahen Annemarie Rügemer in ihrer Schönheit und ihrer Trauer.

»Was wollen Sie eigentlich hier in München, mein liebes Kind?«

»Etwas finden, woran ich mich froh schaffen kann,« hatte Annemarie geantwortet, weil man so alten, stillen Augen nicht mit Ausflüchten kommt.

»Mein armes Kind, Sie sind also eine von denen, die nicht zuschauen und warten will.«

»Ich lebe doch,« sagte Annemarie, »und der Strom des Lebens fließt tagaus, tagein. Soll ich müßig am Ufer stehen?«

Die alten Augen sahen in den tiefblauen Herbsthimmel hinaus und dann über die Astern, hinter denen sich die abgeblühten Rhododendren des Frühlings und die Rosen des Sommers versteckten. Zuletzt blieben sie an dem schönen jungen Gesicht haften.

»Als ich jung war, saßen die Frauen in einem Rosengarten; sie selber waren die Rosen darin, und die Dornenhecke der Sitte umhegte sie eng und sicher –«

Annemarie lächelte, und ein Widerschein dieses Lächelns leuchtete schelmisch in dem alten Gesicht auf.

»Sie denken: Wenn die Rosen verblüht waren, dann gab es nur noch Dornen und Hahnebutten. Aber es war anders: Es kamen immer neue Blüten herauf, es hat uns nie an Rosen in unserem Garten gefehlt. Jetzt versucht man es auf andere Art. – Versucht es nur! Alles wechselt und wandelt sich, und alles kann gut und alles kann übel sein. Wenn man erst so alt ist wie ich, hat man viel Wechsel gesehen, viel neue Wege: Weiche Wege, rauhe Wege – krause Wege, gerade Wege – und immer dasselbe Ziel. Aber das ist sehr tröstlich, mein Kind, dort, am Ziel, findet sich alles wieder zusammen, was sich verlaufen hat.«

Daran mußte Annemarie denken, als sie endlich im Gewirre des Bienenstocks still saß. Helikon und Ameisenhügel hatten sich zu einem Kaleidoskop vermischt, dem der ordnende Spiegel fehlte, aber daneben stand das klare Bild der alten Frau, und das Schwirren und Brausen der fröhlichen Bienen dämpfte sich zur bescheidenen Begleitung jener leisen Melodie: Weiche Wege, rauhe Wege – krause Wege, grade Wege – und immer dasselbe Ziel.

Annemaries Gedanken glitten der Melodie nach, ihre Blicke glitten über die Schatten hin: Erreichten sie wirklich alle dasselbe Ziel?

Da verblich plötzlich das feine Bildchen, und das Lied des Alters verklang, denn Hartmut Wendelin war ins Zimmer getreten.

Annemaries Augen leuchteten auf, als das kluge, scharfgeschnittene Gesicht, das der Spitzbart noch schmaler machte, als es schon von Natur war, ihr von der Tür aus grüßend zunickte.

Mit ihm zugleich sah sie all die anderen wieder, nur als Rahmen zu seinem Bild. Aber die Schatten bekamen Farbe, und die Gegenwart sprach laut und lebendig auf sie ein.

Wendelin ging die Tafel entlang, grüßte da, schüttelte dort die Hand und setzte sich endlich neben sie, Kathinka Birk gegenüber.

Deren Augen hatten ihn schon gesucht, als er noch am Eingang stand, jetzt wandte sie keinen Blick von ihm: nun war es erreicht, nun hatten sie die heimlichen Erkundigungen und Spürwege, die sie selbst mehr und mehr auf das Ziel brennen machten, zu ihm geführt. Sie saß ihm gegenüber und würde ihm einen Winter lang allsonnabendlich gegenüber sitzen.

Ob es der Mühe lohnte? Angesicht zu Angesicht mit ihm kam ihr zum erstenmal ein Zweifel.

Da er nichts von ihrer Begegnung in der Kaufingerstraße sagte, tat sie es. Die süße, weiche Stimme dankte ihm noch einmal für seine Hilfe.

Wendelin antwortete knapp und kühl. Heute war ihm Kathinka Birk unbequem, und als er sich überlegte warum, überkam ihn ein leidiges Gefühl auch gegen seine Nachbarin.

Da waren ihm ja des Geheimrats letzte Worte schon zur Kette geworden! – ›Wenn diese dir anbefohlene Lebensnovize nicht hier säße, würdest du die flimmernde Anmut da drüben lediglich für eine Augenlust halten, so ist sie dir eine Sorge.‹

Daß nur sein Mangel an Vertrauen ihm diese Sorge aufbürdete, kam ihm nicht zum Bewußtsein. Die Verstimmung war da, und seine Verstimmung glitt auch zu Annemarie hinüber. Das Lächeln verschwand, bei dessen Anblick vorhin Dederich schwur: Die wird gemalt.

Warum hätte sie lächeln sollen? Wendelin saß neben ihr und war ihr doch ferner als auf ihrer einsamen Insel. In seinen Briefen war er ihr lieb und vertraut gewesen, aber hier unter den beweglichen Bienen, mit denen ihn hundert Beziehungen verbanden, die sie nicht teilte, war er ein Mann, den sie zwei, dreimal gesehen hatte. Damit verlor sie ihren letzten Menschen.

Ihre Abwehr gegen das Bienenvolk wandelte sich in Neid. Glückliche Menschen! Sie hatten das Ihre geschafft, eine Woche lang, nun redeten sie von Tagesarbeit und Feierabendlust und gaben einander, was sie geben konnten. Was tat es, daß nicht viel Kostbarkeiten verschenkt wurden, es schien Annemarie eben jetzt ganz einerlei, ob man Perlen oder Vogelbeeren in der Hand habe, wenn sie nur nicht leer war.

Wendelin merkte nicht gleich, wie es um seine Nachbarin stand. Vor allen Dingen hatte er ihr erst einmal den ganzen Schwarm vorführen wollen, und sich deshalb kreuz und quer die Tafel entlang herumgeneckt, damit jeder sein Narrenkäpplein schwenke.

Als er sich dann ihres Schweigens bewußt war und nach einem prüfenden Blick in ihre wehen Augen die anderen »laufen lassen wollte«, ließen diese anderen ihm keine Ruhe.

Vor allem spann Kathinka Birk Fäden zu ihm hinüber und zog und zupfte störend daran. Mit allen mochte er reden, ein Sondergespräch gönnte sie ihm nicht.

Das weiche Stimmchen sagte die abenteuerlichsten Dinge, lockte und spielte. Von allen Enden horchten sie herüber. Die weiche Stimme aber redete geradeaus auf Hartmut Wendelin und Annemarie Rügemer ein, und was sie auch sprach: immer klang es wie: komm, komm!

Wendelin lauschte dem schmeichelnden Klang wie einer fernen, lockenden Musik, er dachte nicht, was ist nun hier Pose, er zergliederte nicht und vernünftelte nicht, er sah einen Fliedergarten im Frühlingsglanz.

Bis die schöne Kathinka auf einmal mit sehr deutlichem Frageton eine Antwort von ihm begehrte. Das brach den Zauber, die Fliederblüte verwelkte, Hermann Rinkharts Vermächtnis saß wieder neben ihm, und er sagte trocken: »Pardon, ich habe nicht gehört.«

Stand auf, schlug ans Glas und hielt den beiden Gastinnen eine Begrüßungsrede, die jede ein wenig zu arg auf sich gemünzt fand, und der doch keine gram sein konnte, weil sie mit so viel Anmut vorgetragen ward:

»Bienen sind wir, Honigsammler. Wer zu uns kommt, muß guten Willen zu den Süßigkeiten haben, sowohl der Weisheit als der Freude. Er muß aus Gift und Bitternis Labsal zu saugen wissen. Und nicht nur um sich an den leckeren Tropfen zu letzen, auch um Kräfte zu sammeln für den mühseligen Weg zum Ziel.«

»Bravo,« sagte Wustrau, der Fleißige, dazwischen.

»Oho!« rief William Weibezahn dagegen. »Ich bestreite, ich bestreite! Ziellos ist das Leben, eine Welle im Winde steigt es und fällt es. Ewiger Wechsel bedingt die ewige Jugend der Welt.«

»Halt, halt! Ich bin für ein Ziel. Selbstgenuß ist das Ziel des denkenden Menschen,« rief Monsieur und streichelte seinen silbernen Bart.

»Streber!« warf Weibezahn fröhlich hinterdrein, weil er Lust zu lärmen hatte.

Wendelins kräftige, schwingende Stimme, bei der man an klingenden Stahl denken mußte, übertönte das Bienengesumse.

»Weiterkommen ist der Trieb unseres Lebens. Reifwerden das Ziel alles Gewordenen. Blühen und reifen wollen wir, wie es uns Mutter Natur an allen Enden vormacht. Von wem sie es gelernt hat, mag ihre Sache sein. Wir lernen's von ihr. Was seine Kräfte nicht nützt, welkt und verdorrt vor der Zeit. Wer mit seinen Gefühlen und Kräften spielt, tändelt sie zu Tode. – Freilich auch der, dem man mit Recht den Streber an den Kopf werfen darf, der das Weiterkommen nur äußerlich faßt, einerlei ob für Stand, Vaterland oder das höchsteigene Portemonnaie. Als ob wir in Wahrheit nur Ameisen seien, wobei sich denn das Irdische riesenhaft auswächst und die Seele aus Mangel an Tätigkeit verschrumpft wie ein unbenutzter Muskel ... Weshalb die Helikonasten in unserem Bienenkorb nicht fehlen durften.«

Und nun hielt Wendelin »seinem Oberhause, dem leuchtenden Helikon«, eine so schmeichelhafte Lobrede, daß Madame ihm beinah um den Hals gefallen wäre und Kathinka Birk sich beim Helikon um ein Zimmer bewarb.

Wendelin hatte sich seine Verstimmung vom Herzen geredet. Die Leichtigkeit, mit der er die Menschen nach seinem Willen lenkte, vertrieb jede Sorge. Annemarie war ihm wieder das Kunstwerk, für dessen Erhaltung kein Opfer zu groß ist; kein weiterer Versuch vermochte im weiteren Laufe des Abends seine Unterhaltung mit Annemarie zu stören, und ihre Augen kamen vom Lächeln ins Leuchten.

Magdalene Schäftlein aber war gründlich verstimmt über den alten Herrn.

»Ich begreife den Doktor nicht,« sagte sie auf dem Nachhauseweg, zu dem sie Annemaries Arm genommen hatte, als wolle und könne ihr die ebenso plötzlich davonfliegen, wie die Hoffnung auf die schöne Kathinka. »Er ist geradezu schuld daran, daß Fräulein Birk nicht zu uns zieht. Und es wäre doch so ein prächtiger Umgang für Sie gewesen.«

›Wäre es das?‹ dachte Annemarie. In dem Augenblick, wo sie's dachte, wußte sie auch, daß Wendelin um ihretwillen der Fremden den Helikon aufgeredet hatte.

Und das Unbehagen an dieser Bevormundung und Befürsorgung verdarb wieder, was die letzte Stunde Gutes an ihr getan hatte.


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