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Vierundzwanzigstes Kapitel.

Kathinka Birk war übeln Humors.

Das nannte sich Helikon?

Das schwärmte von einer feinen, freien Lebenskunst, die sich ihre Gesetze nur von der Schönheit und dem Verlangen der eigenen Seele vorschreiben ließ?

Das waren kluge, gebildete, über die Philisterei des Durchschnitts erhabene Menschen? – Menschen mit Flügeln und sonnenhaften Augen? – Menschen, die sich zu freuen verstanden und anderen ihre selbsteigenen Freuden gönnten? – Menschen, die sich gewähren ließen und nicht aneinander ärgerten? – – Ganz genau wie die anderen waren sie, und empfingen den Paradiesvogel mit Pharisäergebärden, weil er auf ein paar Tage – ins Blaue geflogen war. Morsachs Spottverse hatten tausendmal recht gehabt.

Josepha, die ihr die Türe aufmachte, entfloh gleich wieder und schickte die Magd. Die musterte die Heimgekehrte mit kaum versteckter Neugier.

Gleichzeitig taten sich ein paar Zimmertüren auf und taten sich sehr schnell wieder zu, und nun stand Kathinka in ihrem vernachlässigten Quartier, und die Magd sagte: »Ja, wir dachten, Fräulein kämen gar nicht mehr her, und Monsieur wollte Fräuleins Sachen auf die Polizei schicken; nur weil die Frau Großmutter sagte, er solle Fräulein keine Ungelegenheiten machen, da steht noch alles, und nu is es je wohl auch recht so.«

Damit ging sie, um frisches Wasser zu holen.

»Ich glaube, Monsieur ist krank«, sagte Kathinka verdrossen vor sich hin, als stünde sie auf der Bühne. »Soll ich lachen, oder soll ich mich ärgern? Soll ich den Stier bei den Hörnern fassen und Madame sofort meine Meinung sagen, oder soll ich bis Mittag warten, wo natürlich keines den Mut haben wird, unartig gegen mich zu sein. – Ah – da kommen sie ja.«

Es klopfte, aber auf ihren Ruf kam nur der Student Rinkhart herein.

»Sie sind es?« sagte Kathinka enttäuscht.

Der Ton trieb Ferdinand das Blut ins Gesicht. »Ich bin's, ist das auf einmal so wunderbar?«

»Woher wissen Sie denn, daß ich da bin?«

Ferdinand errötete noch tiefer, aber er warf seinen hübschen Jünglingskopf in den Nacken, wie ein temperamentvolles Vollblut, das sich am Zügel ärgert, und sagte: »Die Spatzen sind drüben zusammengeflogen und zwitschern's auf dem Dache so laut, daß es bis in mein Zimmer dringt.«

»Und Sie sind kein Spatz?«

»Kathinka – was um all unserer Liebe willen hat Dich so verwandelt?«

»Verwandeln wir uns nicht immer, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde? Nur Blöde merken nicht, daß wir der Welle gleichen.«

»Mag sein,« fiel Ferdinand nervös ein, »aber jede Verwandlung hat ihre Ursache. Was hat Dich gegen mich so verwandelt?«

»Vielleicht meine Reise.«

»Kathinka!« rief er zornig. »Wo bist Du gewesen?« und: »Thinka, liebe Thinka,« kam es zärtlich hinterdrein, »daß Du nur wieder da bist!«

Sie seufzte und setzte sich ins Sofa. »Nun also, was willst du denn?«

Er kniete neben ihr nieder und preßte die Stirn auf ihren Arm. »Liebe, liebe Thinka!«

Aber sie hatte keine Geduld mehr für ihn. »Sei doch nicht so unglaublich, Ferdinand. Steh auf! – Setz Dich dorthin! – Wenn nun einer Deiner Spatzen herübergeflogen käme!«

»Was kümmert mich das!«

»Aber mich kümmert's,« sagte sie zornig. »Ich will hier bleiben. Ich will keinen Lärm. Ich will meine Rollen studieren und auftreten, und ihr sollt klatschen, wie ihr dem Fritz geklatscht habt. Und der Fritz soll mir eine Kritik schreiben, eine feine, lange, seelenkundige Kritik ohne Reporterphrasen, eine, auf die man stolz sein kann; und Du sollst mir Rosen werfen, damit die Leute toll werden an Deiner Tollheit.«

Der ärgerliche Klang ihrer Stimme hatte sich in zärtliche Locktöne verwandelt, dennoch sprang Ferdinand auf und sah sie an, als kämpfe er schwer zwischen Traum und Erwachen.

War es das? War der ganze Helikon nichts weiter als ein Reklamemittel, eine Posaune, die den Namen Birk in die Welt hinausrufen sollte? Und er selber nur eine sehr kleine Ziffer in der großen Berechnung wie alle anderen auch?

»Und Morsach?« fragte Ferdinand heftig. »Welche Aufgabe hat Guido Morsach in diesem Rechenexempel?«

»Morsach –«, ein verträumtes Lächeln kam in Kathinkas Gesicht; kein studiertes, ein weiches, aus Erinnerung geborenes Lächeln, das sie noch reizender machte, als die, mit denen sie sich gelegentlich aufputzte.

Dies Lächeln verriet Ferdinand, was er nicht wissen sollte, bestätigte ihm, was er nicht glauben wollte.

Und nun brach ein Wortstrom von seinen Lippen: Leidenschaft, Zorn, Verachtung, und dies alles durchglüht und überrannt von einer Liebe, die dennoch jeden Widerstand zu besiegen meinte.

Er schalt und betete an in einem Atem; er schlug und streichelte mit demselben Ausruf; er beleidigte und flehte um Vergebung mit dem gleichen Gedanken. Das Pathos Karl Moors und Werthers schmerzliche Klage mischten sich in seine Worte.

Kathinka Birk hörte nichts davon. Sie lehnte in ihrem Sofa, die Hände hielt sie im Nacken verschlungen, die Lider deckten die Augen, die Lippen lächelten: Sie dachte an Morsach, sie dachte an die Tage im blauen Land der Träume, an die königlichen Tage, wie sie Knechte nicht zu leben verstehen, ›weil sie vor allem Angst haben, – auch vor dem Wechsel, der unser bester Freund ist.‹ Dachte an die weiche Glückseligkeit, die trotz alledem nach Dauer und Wiederkehr verlangt hatte, dachte an ihr Werben und Hoffen und an seinen bestrickenden Übermut.

Kathinka sah das grüne Tal, das die Felsriesen überragten, sah das ländliche Wirtshaus mit seinen blinkenden Fenstern und dem hopfenumrankten Holzgang, auf dem sie im Mondschein gesessen hatten – sie selber im Dunkel, aber den Blick frei in das silbrige Land hinaus, das sie nie vergessen würde.

Und endlich dachte sie auch an den Abschied, wo Morsach ihr nüchtern und behaglich den Handkoffer in den Wagen hob, der sie nach Innsbruck bringen sollte, wo er den Hut vor ihr zog, wie vor einer flüchtigen Reisebekanntschaft, und ihr ›Wann sehen wir uns wieder?‹ mit einem heiter gelassenen › Chi lo sà?‹ beantwortete.

Da packte sie der Zorn wieder: Zorn auf sich selbst, Zorn auf Morsach und Zorn auf den Knaben, der ihr zeigte, wie es sein könnte, sein müßte – wenn Morsach der rechte gewesen wäre.

»Still!« rief sie. »Still! Ich will das nicht.«

Sie sprang auf und sah Ferdinand funkelnden Auges gerade ins Gesicht. »Betrogen soll ich Dich haben? Sei nicht fad. Und sag das lieber keinem, wenn Du nicht ausgelacht werden willst. Ein Bub bist Du, ein lieber meinetwegen, und ich hab' Dich gern gehabt, weil's einem gut tut, wenn man angeschwärmt wird. Aber nun wirst Du langweilig und anspruchsvoll und ungezogen. Da gibt man Dir eins auf die Finger. Himmel, wie kann sich ein Bub so anmaßend gebärden? Geh ins Kolleg und laß erwachsene Leute in Ruh.«

Ferdinand starrte die schöne Thinka fassungslos an: jetzt sah sie häßlich aus.

»Geh, geh, geh! Du bist mir zuwider. Ich verliere die Geduld! Soll ich um Hilfe rufen?«

Langsam wich er zurück, er sah sie noch einmal an in einer Art fragender Hoffnung, ob sie sich verwandeln werde. Die dort stand, die Rechte geballt, den Mund höhnisch verzogen, die kannte er ja gar nicht.

Er sah die Libellenbucht vor sich, er sah weite Säle und heimliche Zimmer der Pinakothek, von deren Wänden reizvolle Frauengestalten herabschauten, die von der Wandelnden übertroffen wurden; er sah das blühende Helikondach, wo sie unter den Hängerosen gesessen hatten, und er sah eben dies Zimmer vom roten Lampenschein verklärt, von süßem tollen Übermut erfüllt – und überall Kathinka im Mittelpunkt, überall eine andere, aber überall ein bezauberndes Weib, das für ihn lachte und für ihn plauderte und ihn mit Necken und Schmeicheln von seiner Arbeit zurückhielt. Eine, ohne die nicht mehr leben kann, wer sie gekannt hat in ihrer wechselnden Anmut, ihrer reizvollen Schönheit, ihrer lockenden Zärtlichkeit.

Ein Stöhnen entrang sich seiner Kehle.

»Geh, geh, geh!« sagte Kathinka leise, und der Zorn entstellte sie wieder.

Ferdinand wandte sich stumm und ging; als er hinaus war, sank sie in die Sofaecke, von leidenschaftlichem Schluchzen erschüttert.

Drüben in seinem Zimmer stand der junge Rinkhart lange in schwerer Betäubung. – Nebenan auf Josephas Blumendach redeten sie noch immer aufgeregt durcheinander, aber er verstand nichts davon.

Anfangs sah er auch nichts, und purpurne Flecken tanzten vor seinen Augen. Aber nach und nach wurde der Blick frei. Über den Dächern brannte der Sommerhimmel, einzelne Ranken, die von dem Blumendach über die Rinne zu seinem Fenster geklettert waren, schimmerten smaragden in dem hellen Licht; sein Schreibgerät blitzte, die Bücher lagen aufgeschlagen, wie er sie am Tage des Waldfestes hingeworfen hatte; ein angefangener Brief für seine Mutter sah ihn vorwurfsvoll an. Den geschliffenen Briefbeschwerer mit Annemaries eingeschobenem Bild hatte er darüber gelegt.

Es war ein Backfischbild. Mit großen, ernsten Augen sah es der Zukunft entgegen. »Stimmung Faust, Pudel-Monolog« hatten die Vettern neckend von diesem Bilde gesagt.

Ferdinand schob ein Blatt darüber, diese schönen, ehrlichen Augen konnte er nicht ertragen. – Das war die erste Bewegung, die er machte, seit er in sein Zimmer getreten war. Damit wich die Erstarrung. Er ging hin und her in Verzweiflung, ihm war flau und öde und gramvoll zumute. Dies Bild konnte er zudecken, aber die lebendigen Augen Annemaries, in die er nie wieder mit freier Seele sehen würde? Und seiner Mutter Augen? Und der Vater mit seiner nüchternen Biederkeit? Joachim, Wendelin, dessen Ekartruf er mißachtet, die Altersgenossen und Studiengefährten, vor denen er hatte mit Stolz und Ehren sein Leben zu hohen Zielen führen wollen? – Der Hochmut des Professorenbergs bäumte sich in ihm auf und nannte ihn einen Abtrünnigen.

Und die Lust am Leben war auch vorbei. – Was blieb ihm denn noch? – Nichts. Er konnte nicht mehr arbeiten, er konnte nicht mehr denken, er konnte nichts mehr lieb haben, er konnte sich nicht mehr freuen.

Und würde es nie wieder können.

Er riß Annemaries Bild unter dem Blatt hervor und sah es an. Er dachte an die Zeit, wo dies sein Entzücken gewesen war, wo sich im Lichte dieser Augen alles Gute und Tüchtige seiner Natur entfaltete. Er dachte an die schmerzlichen Wochen, während deren er seinem Zwilling zürnte, an die übermütige Freude, als er sich entschloß, dennoch nach München zu gehen.

Damals hatte er Lebensmut gehabt und Hoffnungen und himmelstürmende Pläne. Von alledem spürte er heute nichts mehr. Es machte ihm Mühe, sich auf all dies ehedem zu besinnen. Der Abend aber in der Pfälzischen Weinstube, wo Kathinka Birk unter Premieren- und Faschingsjubel in sein Leben getreten war, stand hell und grell vor ihm, wie all die anderen Morgen, Tage und Abende, die sie mit ihrem Reiz erfüllt hatte, ganz deutlich und unverwischbar.

Ob er ihr zürnte, ob er sie verachtete, nichts nahm jenen Bildern Glanz und Reiz.

Ferdinand Rinkhart riß den Schreibtischkasten auf und zog Kathinkas Bild heraus, eine Photographie, die in tiefrotem Rahmen steckte und fest unter Glas.

»Damit Du sie Dir nicht mit Küssen am ersten Tag schon verdirbst,« hatte sie neckend gesagt.

Ferdinand sah das Bild lange an: Es gab ihren ganzen Liebreiz, es bat und verhieß – so hatte er sie gekannt einen wonnigen Frühling lang, der sich zu Sommerglut entfaltete – und das sollte vorbei sein?

Unmöglich! Unerträglich!

Mit zwei Schritten stand er an der Tür. Aber wie er die Hand auf die Klinke legte, sah er die Kathinka mit dem zornentstellten Gesicht vor sich und hörte die leisen, scharfen Laute: Geh, geh, geh!

Und nun kam die Stimmung wieder über ihn, mit der er ihr nachgereist war, trotz Kampf und guten Vorsätzen doch noch nachgereist war. Dies Suchen und Sehnen, dies Mißtrauen und Hoffen, dies entwürdigende Spionieren, dies qualvolle Forschen. Die Fremdenlisten hatte er durchsucht, auf der Polizei hatte er nach ihr und ihren Verwandten gefragt: »Ich habe doch die Postkarte von hier und soll sie hier treffen!«

»Aber lieber Herr, die Leut sind halt gleich ohne Nachtquartier auf eine Partie gangen, die kommen schon noch.«

Da lungerte er am Bahnhof herum und lief die Landstraßen hinaus, ob sie kämen. Ein grauenvoller Tag war's gewesen; und dann kam das unverständige Entzücken, als er ihren Namen nun doch noch in der Fremdenliste des Tiroler Hofs fand und sie darauf im Schutz zweier behäbiger Tanten zum Bahnhof fahren sah, gar nicht wie jemand, der von genossenem Glück träumt.

Wenn er da auf sie zugegangen wäre – aber nun hatte er sich seines Mißtrauens geschämt und sich mit Verbrecherangst während der langen Fahrt in verächtlichem Versteckspiel vor ihr verborgen.

Verächtlich alles und doch unüberwindlich.

Das häßliche Bild war schon wieder blaß und fahl, die anderen aber brannten in lockenden Farben. – Das war nun seine Zukunft: sich sehnen und sich um dieser Sehnsucht willen verachten.

›Fort! – Ich will fort.‹

Er begann mit fieberhafter Eile zu packen, aber als er zur Hälfte fertig war, ließ er alles stehen und liegen.

Zwecklos, die Gedanken würden doch mit ihm gehen.

Arbeiten –

Er setzte sich an den Schreibtisch, hob Feder und Stift, Löscher und Papiermesser eins nach dem anderen auf und legte es wieder aus der Hand, blies den Staub von seinem Buche, stützte den Kopf und starrte die Buchstaben an.

Bildeten diese Buchstaben wirklich Wörter, die in ihrem Zusammenhang einen Sinn gaben? Einen klugen Sinn, den zu verstehen nützlich und gut war?

Fünf Minuten lang sah Ferdinand Rinkhart diese Buchstaben unverwandt an, dann glitten die Augen weiter.

Wenn er wenigstens den Brief an die Mutter fertig schriebe.

»Liebe Mama,« las er. »Es geht mir famos. München ist ein behagliches Nest. Mein guter Stern hat mich hergeführt. Weisheit und Schönheit sind hier zu Hause. Auch habe ich etwas sehr Liebes gefunden und hoffe, Ihr kommt zum Ferienbeginn hierher, damit ich's Euch zeige.«

– Ferdinand Rinkhart starrte das Blatt an.

Wer hatte diesen Brief begonnen? – Ein fröhlicher Student, ein verliebter Jüngling, der sein Mädchen für die Beste auf Erden hielt, wie jeder andere auch – und diesen Brief wollte er fertig schreiben? Er, der nichts mehr denken konnte als die häßlichen Worte, mit denen ihn die Entgötterte vertrieben hatte?

Er würde überhaupt nicht wieder an seine Mutter schreiben.

Langsam stand er auf.

Tag für Tag sich nach etwas sehnen, was man verachtet? Und den besten Menschen nicht mehr in die Augen sehen mögen? Nicht mehr können.

Er hob den kleinen Briefbeschwerer auf und suchte Annemaries Augen.

Nicht mehr können! – Nein, nein, nein! – Mit jäher Hast schleuderte er das Bild zum Fenster hinaus.

Die Scheibe barst, mit schwerem Schlag fiel es draußen unter das Rosengeranke. Kurz darauf folgte ein zweiter, schwererer Schlag.

Josepha, die in der offenen Küche hantierte, schrie auf und lief zu ihrem Vater.


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