Friedrich Gerstäcker
Señor Aguila
Friedrich Gerstäcker

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Der Polizeibesuch

In der Calle de Valladolid waren die Nachbarn indessen auch unruhig geworden, denn das Lachen oben in den offenen Räumen hatte aufgehört, und der wiederholte Hilferuf klang nicht gerade, als ob da Scherz getrieben würde. Nur der Wagen beruhigte sie wieder, der noch immer geduldig seine Herren erwartete und sich um den Lärm da oben wenig kümmerte.

Nichtsdestoweniger sammelte sich nach und nach eine Anzahl von Neugierigen vor Deringcourts Hause, und aus den gegenüberliegenden Fenstern vergaß man selbst das Wasserschütten, nur in der Erwartung, wie das Intermezzo drüben enden würde. Darüber aber sollten sie nicht mehr lange in Zweifel bleiben. Deringcourt, der die Tür gesprengt hatte, erfuhr von Lydia, die eben mit der ohnmächtigen Adele beschäftigt war, in wenigen Worten das Geschehene, und Bertrand draußen treffend, stürmten die beiden Männer durch die französische Konditorei auf die Straße hinaus.

Die Vermummten waren dort allerdings gesehen, aber nicht beachtet worden. Wohin sie sich gewandt hatten? Wer wußte das jetzt noch, wer hatte ihnen auch nur nachgesehen! Wollten sie wirklich verborgen bleiben, so brauchten sie nur, was sie auch aller Wahrscheinlichkeit nach schon getan hatten, ihre Vermummung abzuwerfen und ruhig ihres Weges zu gehen. Wer hätte sie aufgreifen, wer auf sie schwören wollen?

Die Kavallerie-Patrouille kam gerade wieder die Straße herab, und von dem Geschehenen in Kenntnis gesetzt, sprengte deren Hälfte augenblicklich in die Calle de Valladolid hinüber, um dort nach Spuren zu suchen. Hier fiel ihnen natürlich gleich der Wagen auf, und nach einigen mit den Zuschauern gewechselten flüchtigen Worten erfuhr der Führer der Patrouille, daß das der Wagen sei, der die Diebe hierhergebracht hatte. Augenblicklich wurde das Fuhrwerk umzingelt und der Kutscher aufgefordert, Rechenschaft über sich und seine Fahrgäste zu geben.

Über sich? Er war Kutscher bei einem Señor in der Stadt, der die Mietwagen hielt, und heute morgen in der Straße von den Vermummten angerufen und gleich für drei Stunden bezahlt worden, um sie, wie das im Karneval ja immer geschah, langsam in den Straßen umherzufahren. Was sie dabei trieben? Was kümmerte es ihn! Die Fahne war nicht einmal sein Eigentum und gehörte den Verschwundenen – er war weiter nichts als Kutscher und seine bezahlte Zeit um, sobald er hier noch eine halbe Stunde gehalten hatte. Nachher fuhr er fort. Was kümmerten ihn die Masken!

Aus dem Burschen war nichts weiter herauszubekommen, und was er sagte, hatte auch den Schein der Wahrheit; wie durfte er sonst, wenn ihn die Verbrecher wirklich etwas angingen, so geduldig hier haltenbleiben und die Polizei erwarten? Der Führer der Patrouille notierte sich aber trotzdem seinen Namen und die Nummer seines Fuhrwerks.

Deringcourt und Bertrand eilten indessen, als sie die Polizei auf die Fährte gebracht hatten, wieder zurück in das Haus, um dort erst einmal zu erfahren, wie alles gekommen war und was die Verbrecher eigentlich verübt hatten. Lydia war dabei die einzige, die ihnen Auskunft geben konnte, denn wenn sich Adele auch indessen wieder erholt hatte und selbst die Mulattin aufrecht in der Ecke saß und sich das Blut von der Stirn wischte, wußte doch keine von ihnen mehr als den Anfang des Einbruchs zu erzählen.

Nach Lydias Bericht stellte sich der Streich bald als ein Raubüberfall heraus. Und doch war Lydia der Führer der Masken eigentlich nicht wie ein gemeiner Dieb vorgekommen. Sie hatte seine mit Ringen bedeckte weiße Hand gesehen, wenn sie auch seine Gesichtszüge nicht erkennen konnte, und sein ganzes Benehmen schien nicht zu dem seiner Gefährten zu passen. Übrigens war ihr alles an Wert gestohlen worden, was sie besaß, und zwar nicht allein, was sie hier mit ihrer Kunst verdient, sondern auch das, was sie mit von Europa herübergebracht hatte – ein einziges, mit Brillanten besetztes Armband ausgenommen, das die Diebe, obgleich es mit in der Schublade gelegen, doch in der Eile übersehen hatten; zufällig war es das kostbarste.

An dem Tag war übrigens nichts mehr zu tun, und man mußte es der Polizei überlassen, ob sie vielleicht noch einen oder den anderen der Übeltäter aufspüren würde. In Lydias Wohnung wurden indessen die Fenster geschlossen, denn es verstand sich von selbst, daß keine der Damen auch nur die geringste Lust verspürte, das Spiel fortzusetzen, selbst die junge Französin nicht. Señor Desterres, Señor Benares, Monsieur Monfort sogar und Rafael kamen nacheinander wieder durch die Straße, um den Kampf mit den jungen Damen zu erneuern, aber die ganze Straße schien verwandelt; der Mutwille, der sie an dem Morgen beseelte, schien verschwunden.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Gerücht der heute bei der jungen Schauspielerin verübten Freveltat durch ganz Lima und rief überall Entrüstung hervor. Sämtliche Herren von Lydias Bekanntschaft hörten auch kaum die Kunde, als sie zu Deringcourts strömten, um dort ihr Beileid zu bezeigen; niemand aber wurde angenommen, selbst Rafael nicht. Lydia ließ allen, die ihre Karten hereinschickten, sagen, sie würde sich sehr freuen, sie morgen begrüßen zu können, heute wäre sie zu sehr angegriffen und sehne sich nach Ruhe.

Und wie in einem Bienenstock war es am andern Morgen in ihrem Hause. Von allen Seiten kamen sie herein, selbst fremde Menschen, die sich bis jetzt noch gar nicht um die fremde Künstlerin gekümmert hatten. Man wußte bald allgemein, daß es die Diebe nur auf den Schmuck abgesehen hatten, und von allen Seiten strömten ihr heute Geschenke zu, um sie für das Verlorene zu entschädigen. Ja, nicht allein die Männer, nein, selbst die Damen steuerten von ihrem eigenen Schmuck dazu mit bei, und Lydia erhielt heute manches duftende, auf rosa Seidenpapier sehr unorthographisch geschriebene Billet von zarter Damenhand, worin ihr die schöne Schreibende sagte, wie sehr es sie schmerze, daß das Verbrechen gerade in Lima verübt worden sei, und wie sie hoffe, daß durch die beifolgende Kleinigkeit – irgendein kostbares Armband oder ein Paar diamantene Ohrringe – wenigstens ein kleiner Teil ihres Verlustes gedeckt werden möge.

Desterres besonders war ganz außer sich und schwur, er werde nicht ruhen noch rasten und die ganze peruanische Polizei aufbieten, bis er die Verbrecher entdeckt und ihrer Strafe überliefert hätte. Er bedauerte dabei nichts so sehr, als daß der Präsident erst vor kurzer Zeit die Todesstrafe aufgehoben habe, denn das sei ein Verbrechen, das eben nur mit dem Tode und selbst damit nicht einmal hinlänglich gesühnt werden könne.

Desterres hätte noch lange so weitergesprochen, aber Señor Benares und Direktor Monfort ließen sich anmelden, und da er seine Gründe hatte, mit Benares hier nicht zusammenzutreffen, brach er die Unterhaltung kurz ab, erklärte, jetzt im Augenblick die nötigen Schritte tun zu wollen, um die Täter aufzuspüren, und hoffte, ihr dann bald günstige Nachrichten, vielleicht sogar den Raub zurückbringen zu können.

Höchst komisch war die Art und Weise, wie Monsieur Montfort, überhaupt eine kleine, drollige Gestalt, seiner Erregung Luft machte. Er sprang und hüpfte nur so im Zimmer umher, brachte seine Frisur durch fortwährendes Hindurchfahren mit der Hand in vollständige Unordnung, verlor zweimal seine Brille, stampfte dem bedeutend steiferen Benares einmal in voller Entrüstung gerade auf eine schadhafte Zehe und konnte dann wieder nicht aufhören, sich zu entschuldigen, kurz, er wußte kaum selber mehr, was er tat, und hätte am liebsten seinem Ingrimm auf Lima, das er gründlich haßte, da ihm jeder Kunstsinn fehlen sollte, Luft gemacht, wäre ihm dabei nicht eben Benares im Wege gewesen. Übrigens verwünschte er auch nebenbei das Unglück, daß an den nächsten Tagen kein Theater sein dürfe, denn jetzt, unmittelbar nach dieser Tat, hätte das große Haus die Zuschauer nicht fassen können, die jedenfalls herbeigeströmt wären, um die Heldin des Tages zu sehen. Aufgeschoben war freilich nicht aufgehoben, aber es war nachher keine Neuigkeit mehr, und ein großer Teil des Publikums bekam bis dahin auch schon Gelegenheit, die Künstlerin hier und da außer dem Theater zu sehen, kurz, er hatte Schaden bei der Sache.

Auch Don Rafael hatte sich an dem Morgen anmelden, Lydia ihn aber bitten lassen, um zwei Uhr wiederzukommen, da sie ihn gern allein sprechen wolle und bis dahin alle Besucher abgeschüttelt habe.

Bertrand war indessen schon wieder nach Hause zurückgekehrt, und Deringcourt wußte ebenfalls nichts Genaues über die Diebe, die er nur ganz flüchtig in ihren Masken gesehen hatte, anzugeben. Eine besondere Entdeckung schien aber die Mulattin gemacht zu haben, und wenn sie bis dahin noch kein Wort davon erwähnte, mochte es wohl daran liegen, daß sie sich schämte, in den Dieben Gleichfarbige zu denunzieren. Zuletzt aber konnte sie doch kein Geheimnis mehr daraus machen und erzählte Lydia nun, als ihre letzten Besucher sie eben verlassen hatten, daß der Bube, der sie zu Boden geschlagen hatte, ein Mulatte gewesen sei.

Das konnte jedenfalls auf eine Spur führen; wie kam aber der Weiße zwischen die Mulatten? Doch auf drei Uhr nachmittags hatte sich ein Beamter der Polizei bei ihr anmelden lassen – um zwei Uhr kam überdies Rafael, und mit denen konnte sie das Nähere besprechen.

Selbst der Präsident, oder vielmehr dessen Gemahlin, hatte sich erkundigen lassen, wie es Lydia ging. Dabei ließ die alte Dame sagen, sie hoffe ihr in nächster Zeit ihr Bedauern über den Unfall persönlich aussprechen zu können.

Mit dem Schlag Zwei trat Rafael bei Lydia ein; ehe er aber nur ein Wort über den Unfall erwähnen konnte, rief ihm diese schon entgegen:

»Halt, Señor; ich weiß schon, Sie sind außer sich darüber, daß Sie gerade die Zeit verpaßt haben, in der die Diebe bei mir einbrachen! Sie hätten sogar Ihr Leben geopfert, um . . .«

»Señorita!« sagte Aguila vorwurfsvoll.

»Und warum nicht?« lachte das junge Mädchen – »ich habe das schon unzählige Male heute morgen gehört, und es versteht sich eigentlich von selbst, daß Sie mir das auch sagen! Aber wir haben Notwendigeres miteinander zu sprechen, und ich möchte die schöne Zeit nicht damit versäumen, da wir jeden Augenblick wieder gestört werden können.«

»Gut«, sagte Rafael, »ich will kein Wort davon weiter erwähnen, aber das, Lydia, glauben Sie mir doch auch ohne weitere Beteuerung, daß mir die Geschichte leid tut.«

»Ja«, Lydia gab ihm die Hand, »Ihnen glaube ich das, und will ich aufrichtig sein, so habe ich in dem Augenblick, wo mich der eine Bube anfaßte, auch wirklich nur an Sie gedacht und Sie herbeigewünscht.«

»Ich danke Ihnen dafür!« rief Rafael und preßte einen Kuß auf die Hand, die er noch immer in der seinigen hielt – »und nun, bitte, sagen Sie mir alles, was Sie mir zu sagen haben. Sie wissen, daß Sie kein willigeres Ohr dafür in Lima finden.«

»Gut denn. Um drei Uhr wird ein Polizeibeamter zu mir kommen, um sich die näheren Daten auszubitten; ich muß Ihnen aber gestehen, daß ich durch diesen Zwischenfall etwas mißtrauisch gegen die hiesigen Verhältnisse geworden bin und nicht einmal weiß, ob es gut getan wäre, der Polizei mehr zu sagen, als sie selber herausbringen kann. Ich fange fast an, das zu glauben, was mir Monsieur Monfort schon von Anfang an beteuert hat, daß . . . Aber Sie sind selber Peruaner und dürfen mir nicht übelnehmen, was ich Ihnen jetzt sage«, brach sie lachend ab.

»Haben Sie keine Furcht, Señorita; ich habe selbst meine Landsleute sehr genau kennengelernt. Bitte fahren Sie fort.«

»Daß also«, sagte Lydia langsam, »die schlechten Menschen bis in die höchsten Schichten der Gesellschaft hinaufreichen, und die Polizei sogar in Mußestunden . . .« Sie brach wieder ab.

»Selber stehlen ginge?« lachte Rafael.

»Etwas Ähnliches wenigstens«, meinte Lydia, »und da wäre es am Ende nicht einmal geraten, alle die Verdachtgründe anzugeben, die man hat, weil man eben nicht weiß, wem man sie mitteilt.«

»Das ist vortrefflich!« lachte Rafael; »Sie scheinen wirklich eine sehr gute Meinung von unseren Zuständen gefaßt zu haben! Aber so schlimm ist es denn doch hoffentlich noch nicht. Übrigens lassen Sie jetzt erst einmal vor allen Dingen hören, welchen Verdacht Sie gefaßt haben, nachher wollen wir weiter beraten.«

»Ja, viel ist es eigentlich nicht«, sagte Lydia verlegen, »aber doch genug, um mich zu überzeugen, daß es kein gemeines Raubgesindel war. Der eine, der mich hielt, hatte eine feine, weiße Hand und Ringe daran. Die Hand war klein und fast zart, also an keine Arbeit gewöhnt; die Manschette dabei fein und schneeweiß. Sie muß einem Manne gehört haben, der im gewöhnlichen Leben eine Rolle spielt; ja«, setzte sie lächelnd hinzu, »es sollte mich sogar nicht einmal wundern, wenn er selber vorher bei mir gewesen wäre und mir seine Huldigungen nur gebracht hätte, um sie später wieder selber abzuholen.«

»Das wäre allerdings nicht übel«, lachte Rafael, »und freilich nicht unmöglich – und waren Sie nicht imstande, etwas von seinem Gesicht zu sehen?«

»Nein, das hielt er dich maskiert; sein Haar war schwarz, aber das ist hier in Peru kein Zeichen, wo fast jeder schwarze Haare hat. Aber seine Genossen könnten vielleicht für jemand, der mit den Persönlichkeiten hier genau bekannt wäre, eine Spur geben. Meine Mulattin behauptet nämlich steif und fest, daß sie hinter den Handschuhen, die einer der Diebe trug, ein Stück des vorgestreckten Armes gesehen hätte, und das soll einem Neger oder Mulatten gehört haben.«

»Hat sie sich dabei nicht geirrt?« sagte Rafael kopfschüttelnd. »Es waren, wie ich gehört habe, vier Personen in einem Mietwagen, und ganz davon abgesehen, daß ein den besseren Ständen angehörender Weißer es schwerlich wagen würde, ein solches Geheimnis Negern preiszugeben, dürfen diese ja gar nicht einmal an dem Karnevalsspiel teilnehmen.«

»Sie waren ja dicht verhüllt und fühlten sich wahrscheinlich dadurch um so sicherer unter ihren Masken, weil niemand Neger darunter vermuten konnte.«

»Erinnern Sie sich noch, Señorita«, sagte Rafael plötzlich, »daß eines Tages, als ich Sie hier besuchte, ein Neger in Ihrer Gartenstube war?«

»Allerdings«, rief Lydia rasch.

»Sie sagten damals, wenn ich nicht irre, daß Sie denselben Burschen schon vorher auf Ihrem Gang oder in Ihrem Vorzimmer angetroffen hätten?«

»Dem war auch so; möglich, daß der Bursche schon damals spioniert hat.«

»Wissen Sie, wer es war?«

»Er kam vom Land und gab an, daß er für seine Schwester die Butter bringe. Deringcourts werden ihn kennen.«

»Und was ist Ihnen alles gestohlen worden?«

»Mein sämtlicher Schmuck fast, alle Geschenke, die ich hier bekommen habe, mein sämtliches bares Geld und, das Fatalste von allem, mein kleines Maroquinkästchen, in dem ich einige mir liebe Briefe aufbewahrte. Die Diebe hielten das wahrscheinlich auch für ein Schmuckkästchen, sonst hätten sie den für sie vollkommen wertlosen Gegenstand wohl kaum mitgenommen, und doch wollte ich lieber alles andere einbüßen.«

»Hm«, sagte Rafael nachdenklich, »ich bin fest überzeugt, daß die Polizei, besonders in diesem Fall, alles aufbieten wird, um den Dieben auf die Spur zu kommen, denn es ist das schon eine Ehrensache für Peru und seit undenklichen Zeiten nicht vorgekommen, daß man den Karneval zu einem solchen Schelmenstreich benutzt hätte; aber lassen Sie uns trotzdem vorher unter der Hand Nachforschungen anstellen.«

»Und der Neger?«

»Die Hauptsache ist, daß die Polizei erfährt, den Einbruch hätten Weiße und Neger zusammen ausgeführt. Lassen Sie aber die Angabe mit der sehr feinen Hand und den goldenen Ringen weg; es könnte am Ende doch möglich sein, daß man . . .«

»Rücksichten nähme?« lächelte Lydia.

»Wie Sie's nennen wollen. Sind die Leute erst einmal auf einer bestimmten Spur und führen ihre Nachforschungen zu einem Resultat, dann können sie schon nicht gut zurück. Seien Sie nur so gut, mir noch heute die Adresse Ihres Milchlieferanten zu besorgen.«

»Soll ich sie Ihnen schicken, oder holen Sie sie ab?«

»Wenn ich nicht fürchten muß, Ihnen lästig zu werden?«

Lydia schüttelte den Kopf.

»Ich habe Ihnen noch keine Ursache gegeben, das zu glauben«, sagte sie – »kommen Sie, wann Sie wollen.«

»Und daß ich die Erlaubnis nicht mißbrauchen werde, wissen Sie – aber jetzt leben Sie wohl, denn ich glaube fast, ich höre einen der heiligen Hermandad auf Ihrer Schwelle. Um sechs Uhr heute abend frage ich wieder bei Ihnen nach.«

Er verbeugte sich und wollte eben das Zimmer verlassen, als draußen angeklopft wurde, auf die gestattende Antwort die Tür sich öffnete und Señor Perteña auf der Schwelle stand. Rafael trat unwillkürlich einen Schritt zurück, der junge Mann aber, sich vor der Dame verneigend, sagte:

»Señorita, Sie werden entschuldigen, wenn ein ganz Fremder es wagt, Ihnen seine Aufwartung zu machen; ich würde aber nicht so kühn gewesen sein, Ihre Liebenswürdigkeit so weit auf die Probe zu stellen, wenn ich nicht in einem höheren Auftrag käme und dabei die Hoffnung hätte, Ihnen durch meinen eigenen Eifer vielleicht nützlich sein zu können. Ich komme im Auftrag der Polizei, um womöglich durch Ihre Angaben dem gestern verübten schändlichen Verbrechen nachzuspüren.«

»Ich wußte nicht, daß Sie bei der Polizei angestellt waren, Señor«, sagte fast unwillkürlich Don Rafael.

»Ah, Señor Aguila«, versetzte Perteña mit einer höflichen Verbeugung, und Rafael konnte es nicht entgehen, daß dem neuen Besucher seine Gegenwart hier nichts weniger als erwünscht schien. »Sie haben übrigens recht, ich bin auch noch nicht fest angestellt, werde aber in der allernächsten Zeit einrücken, doch tue ich schon Dienst. So kam es auch heute, daß ich mit dieser Sache betraut wurde, da ein Freund von mir, dem sie übergeben war, plötzlich erkrankte. Weil der Gegenstand nun keinen Aufschub leidet und die Señorita mir wohl glauben wird, daß wir alle den innigsten Anteil an ihrem Verlust nehmen, so erbot ich mich, die nötigen Erkundigungen an seiner Stelle einzuziehen, und möchte nun die junge Dame bitten, mir frei und offen zu sagen, ob Sie vielleicht irgendeinen bestimmten Verdacht gefaßt haben oder, wenn nicht, welche Einzelheiten bei dem Einbruch aufgefallen sind. Oft ist die geringste, anscheinend unbedeutendste Kleinigkeit von Wert und als wichtiges Material zu gebrauchen. Ich ersuche Sie also, mir nichts zu verschweigen, wenn Sie es auch vielleicht für unwichtig halten sollten.«

Don Rafael hatte die Absicht gehabt, sich zu entfernen; unter den jetzigen Umständen aber gab er das auf und sah an einem Blick Lydias, wie dankbar sie ihm für sein Bleiben war.

»Wollen Sie nicht Platz nehmen?« sagte das junge Mädchen, »bitte, Señor Aguila – wie ich finde, kennen die Herren einander schon, ich selber habe aber noch nicht das Vergnügen gehabt . . .«

»Perteña«, sagte der junge Fremde, »Felix Perteña, den es wirklich glücklich macht, die berühmte Sängerin . . .«

»Ich muß Sie ersuchen«, unterbrach ihn lächelnd Lydia, »zu unserer Verhandlung zu kommen; Sie fallen auch sonst mit solchen Schmeicheleien vollkommen aus Ihrer Rolle als Polizeimann.«

»Lassen Sie das, mein Fräulein«, sagte Perteña, dadurch nicht aus der Fassung gebracht. »Die Polizei hat vor allen Dingen die Verpflichtung, wahr zu sein. In diesem Fall würde ich aber wirklich stolz darauf sein, ihr anzugehören, denn es gibt uns eine Gelegenheit, Ihnen, einer Fremden in unserm Land, zu zeigen, wie wir die Fremde achten und mit welchem Eifer wir alle ihr dienen wollen. Und nun, damit Sie mir doch am Ende nicht ungeduldig werden, ersuche ich Sie freundlich um die nötigen Angaben, die Sie so kurz wie möglich fassen wollen. Datum und Zeit wissen wir schon, da genug über die Sache in der Stadt gesprochen wurde. Ihr Name und Stand sind ebenfalls bekannt und wir können deshalb gleich zu dem Augenblick übergehen, wo die Spitzbuben Ihr Zimmer erstiegen und Sie zum erstenmal die Gewißheit bekamen, mit welcher Menschenklasse Sie es eigentlich zu tun hatten. Darf ich Sie bitten?«

Perteña hatte dabei ein kleines Taschenbuch und einen Bleistift herausgenommen und saß Lydia gegenüber, die er erwartungsvoll ansah. Sein Stuhl war indessen so gerückt, daß er auch Rafael im Auge behalten konnte. Dieser aber achtete wenig auf ihn; nur in Lydias Zügen war es ihm gewesen, als ob er eine gewisse Unruhe läse. Von diesem ganz außergewöhnlichen Polizeiverfahren überrascht, sagte er:

»Wollen Sie mir vorher eine Frage erlauben, Señor?«

»Von Herzen gern, sobald die Señorita die Erlaubnis dazu gibt.«

»Bitte, lassen Sie sich durch mich nicht abhalten«, sagte Lydia.

»Gut denn«, fuhr Rafael fort, »so haben Sie vielleicht die Güte, der Dame vorher, ehe Sie Ihr Examen beginnen, die nötige Legitimation zu zeigen, die Sie berechtigt, im Namen des Polizeiamtes eine Art von Protokoll aufzunehmen. Sie werden das selber ganz in Ordnung finden«, setzte er ruhig hinzu, als Perteña den Kopf wie beleidigt in die Höhe warf, »denn es könnte ja sonst jeder Fremde mit demselben Recht hier eintreten und über die verschiedensten Dinge Auskunft verlangen, die – man eben nicht jedem Fremden gibt.«

»Señor Aguila«, sagte Perteña vornehm, »Sie erlauben mir wohl, ehe ich Ihnen auf diese Frage antworte, mich vorher bei der Dame zu erkundigen, ob sie Ihre Bedenken teilt?«

»Die teile ich allerdings«, sagte Lydia, »und möchte Sie selber um die Vollmacht bitten.«

»Genügt unsere Bekanntschaft nicht?« fragte der junge Mann, indem ein fast unmerkliches, spöttisches Lächeln um seine Lippen zuckte, als er Aguila ansah, »um mich hier zu legitimieren?«

»Die unsere?« lachte Rafael. »Wahrlich nicht dahin, um für Sie, geehrter Herr, Bürgschaft zu leisten! Aber wozu die vielen Worte? Sie sehen, daß die Dame meiner Ansicht ist und vorher einen Ausweis von Ihnen verlangt.«

»Dann bedaure ich freilich, Sie unnütz belästigt zu haben«, sagte Perteña kalt, von seinem Stuhl aufstehend, »denn ich hatte nicht geglaubt, daß ein solches Bedenken gerade da auftauchen könne, wo eben alles geschehen sollte, um der Señorita zu ihrem Recht zu verhelfen. Es galt hier nur, die Spur der Verbrecher zu finden, um nicht allein die Polizei, nein, die ganze Stadt zu veranlassen, sich in diesem Fall für die schöne Geschädigte zu interessieren. Sobald sie selber sich aber weigert, dieses gewiß uneigennützige Interesse anzunehmen, läßt sich natürlich nichts dazu tun, und das alleinige Vorgehen in der Sache bleibt nun für den gewöhnlichen Geschäftsgang der Behörden.«

Lydia bereute schon fast, das, wie es schien, freundliche Entgegenkommen des Fremden zurückgewiesen zu haben. Aber es war nur für einen Augenblick. Wieder streifte ihr Blick mißtrauisch seine Gestalt; sie antwortete keine Silbe, und da sich auch Rafael nur kalt und förmlich gegen Perteña verbeugte, blieb diesem allerdings nicht übrig, als seine Brieftasche einzustecken und sich zu empfehlen, was er denn auch mit eisiger Höflichkeit tat.

Er hatte nicht zeigen wollen, wie fatal ihm diese unerwartete Zurückweisung, noch dazu in Gegenwart Aguilas, war, aber er vermochte es nicht, und draußen auf dem Gang biß er seine Unterlippe fest zwischen die Zähne, und seine Stirn krauste sich düster über den zusammengezogenen Brauen. Aber nicht lange; draußen auf der Straße zeigte er schon wieder sein gewöhnlich heiteres Antlitz, und als er einem Freund dort begegnete, hing er sich an dessen Arm und plauderte mit ihm von den entschwundenen Freuden des Karnevals.

Oben in Lydias Stube saßen, nachdem Perteña schon lange das Zimmer und selbst das Haus verlassen hatte, die beiden jungen Leute noch immer still und regungslos, denn beide hatten unwillkürlich das Gefühl, als ob der Fremde noch draußen stehen und horchen müsse. Endlich trat Rafael entschlossen zur Tür, öffnete sie und sah hinaus, und Lydia atmete ordentlich auf, als sie die Gewißheit bekam, daß sie der unwillkommene Besuch verlassen hatte.

»Was wollte der Mensch?« sagte sie fast unwillkürlich. »Oh, wie dankbar bin ich Ihnen, daß Sie mich nicht mit ihm allein ließen; ich hätte mich vor ihm gefürchtet!«

»Wirklich?« lächelte Rafael; »aber Böses hatte er sicher nicht im Sinne, als nur die näheren Daten über das zu erhalten, was Sie von den Dieben wußten.«

»Glauben Sie denn wirklich, daß er es ehrlich meinte?«

»Das ist wieder eine andere Frage, und gut möchte ich da nicht für ihn sagen, denn unser erstes Begegnen fand ebenfalls unter sehr eigentümlichen Verhältnissen statt. Ich weiß nicht, ich traue dem Menschen nicht, und in so anständiger Gesellschaft er sich hier bewegt, würde ich alles Böse von ihm glauben, was man mir von ihm erzählen könnte.«

»Sonderbar«, sagte Lydia, »mir ging es ebenso, und dabei kam mir seine Stimme so bekannt vor, als ob wir uns schon einmal getroffen hätten. Aber ich kann mich nicht besinnen, ihm je begegnet zu sein, und darf mich doch in der Hinsicht auf mein Gedächtnis verlassen.«

»Nun, einerlei«, sagte Rafael; »in keinem Fall glaube ich, daß er Sie wieder belästigen wird, denn er schien von dem Empfang nichts weniger als erbaut zu sein.«

»Und wie durfte er es wagen, sich als von der Polizei gesandt auszugeben, und doch daneben gestehen, daß er gar kein Beamter sei!«

»Möglicherweise«, meinte Rafael, »hat diesen Herrn Perteña nur das Interesse für Sie, die Neugierde und der Wunsch, Sie persönlich kennenzulernen, hierher getrieben; möglich aber auch, daß er andere Absichten dabei hatte, und es ist sicher besser, daß er nicht allein nichts erfahren hat, sondern daß Sie ihn auch fühlen ließen, sein Besuch sei nicht verlangt worden. Ihre Wohnung hier«, fuhr er dann, sich umsehend, fort, »hat allerdings sehr viel Angenehmes, aber in solchen Fällen, zum Beispiel wenn Sie einen Besuch bekämen, der Ihnen nicht angenehm wäre, sollten Sie sich doch mit Deringcourts rascher in Verbindung setzen können.«

»Das ist schon heute morgen eingerichtet worden«, rief Lydia und zeigte auf eine Klingelschnur an der Wand – »Sie kennen ja das alte Sprichwort: Wenn das Roß fort ist, hängt man ein Schloß vor die Stalltür! Jetzt haben wir die Vorsichtsmaßregeln getroffen – wenn es nur früher geschehen wäre!«

»Immer besser jetzt, als gar nicht«, sagte Rafael. »Und nun, Señorita, erlauben Sie mir, daß ich mich zum zweiten Male bei Ihnen beurlaube! Um sechs Uhr hole ich mir die erbetene Adresse, und bis dahin werde ich einmal herauszubekommen suchen, ob dieser Señor Perteña wirklich von einem Beamten beauftragt war, Sie hier zu vernehmen.«

»Und wenn indessen ein wirklicher Polizeibeamter kommen sollte?«

»Dann rufen Sie Herrn Deringcourt herbei – Sie fühlen sich jedenfalls ruhiger, wenn er gegenwärtig ist.«

 


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