Friedrich Gerstäcker
Señor Aguila
Friedrich Gerstäcker

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Hinterhalt

Die Sonne näherte sich schon dem Untergang, die Abendwolken funkelten in all ihrer tropischen Pracht das scheidende Licht des Tagesgestirns zurück, als die kleine Kavalkade, die zum Besuch in den Hacienden gewesen, auf der nach Lima führenden Hauptstraße wieder den Staub aufwirbelte. Rafael hatte ihnen nachgeschaut, bis sie die Biegung des Seitenweges seinen Blicken entzog, und schritt dann selber in tiefem Nachdenken in das Haus zurück und die Treppe hinauf; er hatte nicht einmal gesehen, daß Juanita oben am Fenster stand und ihre Blicke auf ihm ruhten.

Der alte Bertrand ging, die Hände auf den Rücken gelegt, im Zimmer rasch auf und ab, und erst als Rafael eintrat, blieb er stehen, sah zu ihm auf und sagte:

»Ob der Desterres mir wohl heute ein einziges Mal hat in die Augen sehen können? Nicht eine Sekunde lang! Immer, wenn ich ihn ansah, machte er sich mit seinen Blicken bald in der, bald in jener Zimmerecke was zu tun – aber geradeaus sehen, Gott bewahre!«

»Und wie hat Ihnen die junge Landsmännin gefallen?« fragte Rafael, der jetzt wahrlich nicht an Señor Desterres dachte.

»Gut, sehr gut«, rief Monsieur Bertrand, »ein Wettermädel, das muß man ihr lassen! Die hat's hinter den Ohren, Rafael, das kannst du mir glauben, und so still und ehrbar sie manchmal tut, so funkeln die Augen doch dabei wie das helle Feuer. Wir müssen doch einmal hineinreiten, Juanita, und sie spielen sehen. Deringcourt hat mich so schon geplagt, daß wir einmal dort über Nacht bleiben.«

»Und welchen Eindruck hat sie auf Sie gemacht, Juanita?« fragte Rafael jetzt das junge Mädchen, das schweigend und mit niedergeschlagenen Augen der Unterhaltung gelauscht hatte. »Sie haben sich viel und, wie es schien, herzlich mit ihr unterhalten.«

»Ja«, sagte Juanita zurückhaltend, »und doch wäre ich nicht imstande, mit Worten bestimmt den Eindruck wiederzugeben, den die junge Dame auf mich gemacht hat.«

»Aber er war doch im ganzen angenehm?« drängte Rafael.

»Selbst das wage ich nicht zu behaupten«, sagte das junge Mädchen, fügte aber hastig und wie erschreckt hinzu, »obgleich ich noch weit weniger das Gegenteil sagen könnte. Manchmal war es mir, als ob ich sie schon seit Jahren gekannt und wie eine Schwester lieb hätte, und dann hätt' ich ihr mögen an den Hals fliegen und sie abküssen nach Herzenslust . . .«

»Hm, Rafael«, schmunzelte Bertrand, »ist dir nicht auch manchmal so gewesen?«

»Und dann wieder«, fuhr Juanita fort, »war es, als ob ich mich vor ihr fürchten müsse, so unheimlich, so lauernd glitt ihr Blick über ihre Umgebung, so kalt und starr wurden, wenn auch nur für einen Augenblick, oft ihre Züge, die eben noch ein bezauberndes Lächeln zeigten.«

»Liebes Kind«, sagte ihr Vater, »das darfst du bei einer Schauspielerin nicht so genau nehmen, denn die sind von Jugend auf gewohnt, ihre Gesichtszüge in allerlei Falten und Masken hineinzupressen, und schneiden nur vielleicht manchmal aus alter Gewohnheit ein grimmiges Gesicht, wo ihnen möglicherweise das Herz gerade leicht und glücklich ist.«

»Oder auch umgekehrt«, sagte Juanita leise.

»Oder auch umgekehrt«, bestätigte der Vater; »das muß man dann aber nicht so nehmen, als ob es auch immer so gemeint wäre.«

»Aber, Vater«, sagte Juanita, »dann müßte ich das ja auch immer denken, wenn sie recht lieb und herzlich mit mir spräche, und dann, weiß ich, würd' ich sie nie im Leben liebgewinnen können, und ich möchte es doch so gern!« setzte sie viel leiser als vorher hinzu, daß der Laut der Worte kaum Rafaels Ohr erreichte.

»Nun, du brauchst dabei kein so wehmütiges Gesicht zu schneiden, liebes Herz«, lachte der Vater; »mit derlei Personen, die einen öffentlichen Beruf haben oder einer Kunst folgen, noch dazu, wenn es solche Wandervögel sind, kommt unsereins selten und nie auf lange Zeit zusammen. Man lernt sich kennen und unterhält sich, sieht sich dann vielleicht noch einmal, wohl gar noch zweimal, und dann ist's eben vorbei.«

Inzwischen war es schon dunkel geworden, und nur der Vollmond warf sein bleiches Licht über die Landschaft und drückte die hohen, starren Kuppen des nahen Gebirgszuges zu niedrigen, duftumflossenen Hügeln herunter. Das Hausmädchen brachte den Tee herein, und der alte Bertrand plauderte jetzt noch lange und viel über die Gesellschaft, die sie heute bei sich gesehen hatten und deren nähere Beziehungen zueinander er weit genauer kannte, als man von jemand vermutet hätte, der hier gewissermaßen abgeschieden von der Welt lebte und nur verhältnismäßig wenig mit ihr verkehrte.

Er fand aber trotzdem keine besonders teilnehmenden Zuhörer, denn was kümmerte es Juanita oder Rafael, welche ehrgeizigen Pläne Señor Desterres spinne, und als Bertrand eine Weile ziemlich einsilbige Antworten bekam, ließ er endlich abräumen und ging dann noch mit seinem jungen Gast etwa eine halbe Stunde in der Abendkühle im Garten auf und ab, bis sie endlich, wie gestern abend, in sein Zimmer hinaufstiegen, um dort den Rest der von Rafaels Onkel hinterlassenen Papiere durchzusehen.

Es war dies eine höchst undankbare Arbeit, denn es fand sich auch gar nichts, was ihnen den geringsten Aufschluß über das Geschehene hätte geben können, und vergeblich suchten sie nach einem Tagebuche, das der Verstorbene, wie Rafael genau wußte, geführt hatte. Es war ein kleines, ziemlich dickes, rot eingebundenes Buch gewesen, aber es fand sich nirgends, und Bertrand, der ja dabeigewesen war, als die Zimmer im Anfange versiegelt und später Señor Desterres übergeben wurden, ja, der selber die meisten Papiere mit eingepackt hatte, versicherte auf das bestimmteste, ein derartiges Buch nirgends gefunden oder selbst nur gesehen zu haben. Der alte Aguila selber konnte es nicht vernichtet haben; es blieb also nichts zu glauben übrig, als daß es mit manchen anderen Sachen an demselben Tage gleich entwendet worden war, an dem der alte Herr starb, also noch ehe die Gerichte einschreiten konnten.

Ein Paket Geschäftsbriefe fand sich noch vor, indessen war nichts dazwischen, was auf den beabsichtigten Verkauf das geringste Licht geworfen hätte – aber es nahm den beiden Männern doch die Zeit, sie durchzusehen, da sie nichts unbeachtet lassen wollten, um sich später keine Vorwürfe zu machen. Bertrand warf endlich die letzten Papiere, die er durchflogen hatte, auf den Tisch zurück, stand auf, ging im Zimmer auf und ab und rief:

»Es ist nichts, die Burschen sind zu schlau, als daß sie selber eine Waffe gegen sich in unsere Hände gelegt hätten, und haben die kurze Zeit, die ihnen blieb, gut benutzt. Die Papier hier sind kaum das Verbrennen wert, und was uns hätte nützen können, wird schon lange seinen Weg in das Feuer gefunden haben. Mein Cholo behauptet wenigstens steif und fest, daß er selber es gesehen habe, wie Desterres zu jener Zeit einen ganzen Haufen Papiere und Bücher verbrannt habe; zwischen denen wird auch wohl das Tagebuch gewesen sein. Aber das läßt sich eben nicht mehr beweisen, und wenn wir jetzt nicht den Kaufkontrakt in die Hände bekommen können, um die Unterschrift chemisch untersuchen zu lassen, so dürften wir die Sache als abgemacht betrachten, und du bist die Hacienda los.«

»Ich habe vom ersten Augenblick nicht daran gezweifelt«, sagte Rafael gleichgültig, »und wenn ich mich trotzdem bemühte, den Einzelheiten nachzuforschen, so geschah es weit mehr in einer Art Jagdlust, einem Schurken nachzuspüren, als daß ich mir wirklich einen Erfolg davon versprochen hätte. Kommen Sie, Bertrand, lassen Sie die langweilige Geschichte, die mir schon gestern und heute abend Kopfweh gemacht hat. Will es das Schicksal, so kommen wir diesem Herrn Desterres vielleicht doch noch einmal auf die Fährte, und wo nicht, nun, es läuft so viel Lumpengesindel ungestraft in der Welt herum, daß es auf den einen mehr oder weniger doch nicht ankommt! Sehen Sie, was das für ein wundervoller Abend ist und welch merkwürdigen Glanz der Mond heute hat! Aber es muß schon spät geworden sein, er steht ja fast im Zenith; wahrhaftig, halb zwölf – wie die Zeit vergeht!«

Bertrand hatte die Papiere zusammengeschoben und war ebenfalls aufgestanden und ans Fenster getreten. Er warf einen Blick nach dem Mond hinauf und dann über die Bananen hinüber rechts und links die Straße hinab.

»Ein herrlicher Abend, wirklich«, sagte er leise dabei, »und kühl und angenehm. Den Vorteil haben wir in Peru vor fast allen Tropenländern, daß unsere Nächte kühl, ja fast frisch sind, denn man kann beim Schlafen eine wollene Decke ganz vortrefflich gebrauchen.«

»Ich habe überhaupt in Europa weit mehr unter der Hitze gelitten als hier«, bemerkte Rafael, »besonders waren die Nächte manchmal unerträglich warm.«

»Das kommt von den ewig langen Tagen«, meinte Bertrand, »wo einem die Sonne im hohen Sommer schon um sieben Uhr morgens auf den Kopf brennt und abends gar nicht untergehen will. Hier in Peru haben wir aber erst einmal die gar nicht so weit entfernt gelegenen und schneebedeckten Cordilleren, die die Luft abkühlen, und dann überhaupt den Vorteil der Tropen: die ewige Tag- und Nachtgleiche, in welcher der Sonne nie Gelegenheit gegeben wird, die Erde zu lange und anhaltend auszubrennen. Ich weiß mich selber recht gut zu erinnern, daß ich in Europa . . .« Er hielt plötzlich mitten in seiner Rede inne und fuhr in die Höhe; im nächsten Augenblick aber schon schrie er: »Guarda se!« und stürzte nach dem Tisch, von dem er das Licht mit einem Schlage seiner Hand herunterwarf. In demselben Moment aber schmetterte auch der Knall eines Schusses durch die stille Nacht, und Rafael war es, als ob er einen Schlag wie mit einer Reitpeitsche über die rechte Schläfe bekam.

Unwillkürlich fast sprang er vom Fenster zurück und mitten in die jetzt dunkle Stube.

»Bist du verwundet, Junge?« rief der alte Franzose. »Fühlst du etwas?«

»Nein«, sagte Rafael, »nur dicht am Gesicht flog mir etwas vorüber.«

»Gott sei Dank!« rief der Alte. »Komm jetzt!« Und mit einem Satz war er an der Tür, riß sie auf, flog die Treppe hinunter vor das Haus und gab dort den Alarmruf für seine Hunde.

»Huih, ihr Bestien!« schrie er, als er über den kurzen Vorplatz nach der Gartentür flog. »Huih, hierher! Hu, faß, hu, faß, Tyras, faß, Wolf!« Und damit riß er mit Riesenstärke an dem Gartentor, daß das Schloß zerbrach, als ob es von Glas gewesen wäre. Wo hätte er sich jetzt Zeit genommen, nach einem Schlüssel zu suchen!

Die Hunde, die schon durch den Schuß geweckt und herausgesprungen waren, stießen ein wildes Geheul aus und stürmten zur Tür hinaus auf die Straße; mit keinem gewissen Ziele aber vor sich und durch das Hetzen ihres Herrn fast rasend gemacht, nahmen sie sich auch keine Zeit, vorher irgendeine Witterung ausfindig zu machen. Kaum im Freien, schlugen sie zwei- oder dreimal laut an und fuhren dann wie der Wind die Straße hinab, in deren Schatten sie in der nächsten Minute verschwunden waren.

»Da gehen die Bestien hin!« rief Bertrand, der im Anfang versucht hatte, sie mit Rufen und Pfeifen zurückzuhalten. »Hol' sie der Teufel, die Kanaillen!«

»Der Schuß muß aus dem Garten gegenüber abgefeuert worden sein«, rief Rafael, der sich an Bertrands Seite gehalten hatte.

»Gewiß«, sagte der alte Franzose, »ich habe das Feuer gesehen. »Von der Straße aus hätten sie uns auch durch die Bananenblätter kaum erkennen können; aber selbst von dem Garten aus wäre es nicht möglich gewesen, unser Fenster zu beschießen, ausgenommen von einem der Bäume da drüben.«

»Was wollen Sie tun?«

»Faß hier mit an, Rafael – die Hunde werden gleich wieder zurück sein, wenn sie niemand auf der Straße finden – hier die Umzäunung müssen wir einreißen, und wenn sie da drinnen jemand auf die Fährte kommen, ist er verloren. Das ist dieselbe Stelle, wo du früher deine kleine Tür gehabt hast.«

Rafael erwiderte kein Wort; als aber der Alte das gegenüber liegende Staket erfaßt hatte und daran riß, sprang er zu ihm, und es dauerte nicht lange, bis die beiden Männer eine Lücke frei gearbeitet hatten, durch die sich ein Mensch hindurchzwängen konnte.

»Und die verfluchten Hunde sind noch nicht zurück!« rief Bertrand wütend. »Tyras, Wolf, Bestien!« Und wieder schrillte sein gellender Pfiff durch die Nacht. Er war mitten auf die Straße gesprungen und horchte in die Nacht hinaus – jetzt hörte er etwas keuchen.

»Da kommen sie!« rief er jubelnd. »Huih, hierher, ihr Kanaillen, hierher! Tyras! Das ist recht, mein Hund, faß brav! Hierher, Wolf, da hinein, hu, faß, hu, faß!«

In langen, mächtigen Sätzen kamen die Hunde, die wohl gemerkt hatten, daß sie auf keiner warmen Fährte waren, wieder die Straße herauf und auf ihren Herrn zu, und als er ihnen die Lücke in der Umzäunung zeigte, fuhren sie wild hindurch und schlugen gleich darauf wieder laut an. Dort aber kamen sie bald zu dem Herrenhaus, dessen breiter Weg heute den ganzen Tag von vielen Leuten betreten worden war, möglich, daß die nackten Füße der Dienerschaft und der neuen Kulis die Witterung für die Tiere länger bewahrt hatten, denn sie schlugen augenblicklich den Weg nach deren Hütten ein. Dort aber lagen Desterres' Hunde, die, durch den Lärm ebenfalls munter gemacht, vorsprangen und über die fremden Eindringlinge herfielen. Allerdings wurden sie von denen übel empfangen und suchten heulend wieder den Schutz ihrer Hütten, aber Bertrands Rüden waren dadurch auch von ihrer Fährte abgebracht, und knurrend und mit hochgehobenen Schwänzen suchten sie umher, und wenn sie Bertrand hetzte, um die Spuren des Flüchtigen von neuem aufzunehmen, hielten sie das nur für eine Aufforderung, noch einmal über die anderen Hunde herzufallen.

Hier war nichts weiter zu machen; der Platz wurde überdies lebendig, und im Herrenhause, wo der Aufseher schlief, Licht gemacht. Bertrand sah, daß er auf diese Weise den Meuchelmörder nie erwischen würde, und um nicht ein zweites unangenehmes Zusammentreffen mit dem Aufseher zu haben, pfiff er seinen Hunden und ergriff Rafaels Arm, um ihn den Weg zurückzuführen, den sie eben gekommen waren.

Der alte Franzose war aber nicht der Mann, etwas Begonnenes so rasch wieder aufzugeben, und durch wenige Worte hatte er sich mit Rafael verständigt. Etwa drei- oder vierhundert Schritt von seinem Hause entfernt, in der nächsten Querstraße, wohnte eine Art von Friedensrichter für die Hacienden, der sogenannte Gobernador, und zu dem eilten die beiden Männer jetzt, um nicht allein auf frischer Tat die Anzeige zu machen, sondern auch augenblickliche Nachsuchung von ihm zu verlangen.

Bertrand hatte nämlich den Aufseher von Desterres im Verdacht, daß dieser, um sich für die gestrige Beleidigung zu rächen, den Schuß abgefeuert haben könnte, und verlangte jetzt von dem Peruaner, daß er auf dem Grundstück da drüben augenblicklich Haus- und Nachsuchung halten sollte.

Der Gobernador, ein alter, dicker Herr, und auf nichts weniger vorbereitet, als mitten in der Nacht aus seinem Bett geholt zu werden, machte allerdings Schwierigkeiten und suchte die Sache bis auf den nächsten Morgen zu verschieben. Bertrand war aber nicht so leicht abgeschüttelt. Als er dem Beamten drohte, daß er ihn allein für die Folgen verantwortlich machen würde, wenn der Verbrecher seiner Strafe entginge, und morgen schon um eine Audienz bei dem Präsidenten nachsuchen wolle, fügte sich der Mann des Gesetzes endlich dem Verlangen, wobei er jedoch, wenn auch leise und unhörbar, eine angemessene Anzahl von Flüchen über die Unverschämtheit dieser eingewanderten Fremden in den Bart murmelte.

Der Gobernador hatte übrigens ganz recht gehabt, wenn er diesen nächtlichen Streifzug von vornherein als ein ganz nutzloses Experiment erklärte. Von zwei sogenannten Gerichtsdienern begleitet, rückten sie allerdings aus, fanden aber auf Desterres' Hacienda den Aufseher in seinem Bett, auf dem er, der Aussage der übrigen Leute nach, von gestern abend neun Uhr gelegen und geschlafen hatte, bis ihn der Lärm der Hunde auf- und in den Garten trieb.

Ein weiterer Besuch bei der alten Pascua erwies sich ebenso erfolglos. Bertrand wußte überhaupt schon, daß der Cholo gar nicht mit Feuerwaffen umzugehen verstand. Außerdem war er aber an dem nämlichen Nachmittag nach Lima geritten, und seine Mutter erwartete ihn auch nicht vor ein oder zwei Tagen zurück.

Etwas anzüglich fragte der Gobernador den Franzosen, ob er vielleicht noch irgendein Haus wisse, wo sie die Leute mitten in der Nacht heraustreiben könnten, um sich zu erkundigen, ob jemand ein Gewehr abgefeuert hätte. Bertrand sah aber jetzt wohl ein, daß sie in dieser Nacht doch nichts weiter ausrichten könnten und kehrte mit Rafael nach Hause zurück. Unterwegs sagte er:

»Weißt du wohl, mein Junge, daß wir beide rechte Dummköpfe gewesen sind, als wir nach dem Schuß wie toll und blind in das Zeug hineinrannten?«

»Und was hätten wir tun sollen?«

»Die Hunde halten und dann erst das Gitter einreißen. Der Schuft, der den Schuß abfeuerte, hat oben in einem Baum gesessen; ich habe ja selber das Feuer deutlich gesehen. Bis die Hunde freilich zurückkamen, gewann der Lump über und über Zeit, um seine Haut in Sicherheit zu bringen.«

»Sehr wahrscheinlich«, sagte Rafael; »die Hunde wurden durch das Hetzen rein wie toll. Schade, daß wir den Patron nicht auf frischer Tat erwischten, es hätte einen Hauptspaß gegeben! Eigentlich hatte ich den Aufseher im Verdacht; das Gesicht des Burschen würde wenigstens eine derartige Heimtücke, wo er nicht offene Rache nehmen konnte, vollkommen rechtfertigen.«

»Wenn das keinen tieferen Beweggrund hatte!« meinte Bertrand nachdenklich. »Ich glaube aber fast, daß der Schuß nach dir und nicht nach mir gefeuert wurde und daß dein Auftauchen hier verschiedenen Leuten ein Dorn im Auge ist. Ein Glück nur, daß der Patron eine Kugel und nicht etwa Rehposten geladen hatte, sonst wären wir beide schlecht weggekommen. Ich hörte ja den Hahn knacken: ehe ich aber nur das Licht vom Tisch schlagen konnte, hatte er schon abgedrückt. Er muß da drüben in einem von den Bäumen gesessen haben.«

Die beiden Männer standen wieder vor dem Haus; die Hunde waren noch einmal durch den Zaun gefahren und suchten und winselten jetzt dort wie toll im Gebüsch umher.

»Siehst du, daß ich recht habe? Jetzt, wo sie ruhiger sind, finden sie die Fährte.«

»Und wenn er nun am Ende noch oben säße?« flüsterte Rafael. »Unmöglich wäre es nicht, denn die Hunde waren ja im Nu draußen, und er hat vielleicht gefürchtet, seine Fährten einzudrücken.«

»Daß er ein Narr wäre«, sagte Bertrand kopfschüttelnd; »nein, der hat lange Fersengeld gegeben, aber nachsehen können wir meinetwegen noch einmal.« Und mit den Worten preßte er sich, von Rafael gefolgt, wieder durch die vorher gerissene Zaunlücke, und von dem jetzt hoch stehenden Monde begünstigt, konnten sie dort die Baumwipfel ziemlich gut absuchen. Aber es war nirgends mehr etwas zu entdecken; der Meuchelmörder hatte jedenfalls seine Zeit benutzt, um sich aus dem Staube zu machen.

Sie überzeugten sich hier übrigens, daß der Bursche, um in das Fenster hineinzuschießen, in einem der dort stehenden Bäume gesessen haben mußte, und zwar zeigte sich ein alter, knorriger Orangenbaum dazu als das passendste Versteck. Rafael kletterte selber hinauf, und es blieb kein Zweifel mehr, als er dort oben sogar ein paar Zweige, den einen abgebrochen, den andern eingeknickt fand, die wahrscheinlich die Aussicht nach dem Fenster ein wenig verdeckt hatten.

Der Vogel schien also ausgeflogen, und es blieb für heute nichts mehr zu tun, ja es war überhaupt die Frage, ob eine spätere Nachforschung zu dem geringsten Ergebnis führen würde.

Oben im Hause bestätigte übrigens die in der Wand sitzende Kugel noch außerdem die Richtung nach dem Orangenbaum, und es zeigte sich auch, daß der Verbrecher gar nicht schlecht gezielt hatte, denn die Kugel hatte eine Locke von Rafaels Haar wie mit einem Messer abgeschnitten.

Auch Juanita war, durch den Schuß und die darauf folgende Unruhe erschreckt, wieder aufgestanden und hatte sich angezogen. Sie war leichenblaß geworden, als sie hörte, welcher großen Gefahr ihr Vater und auch Rafael entgangen waren. Der alte Bertrand aber lachte:

»Ein Zoll vorbei ist so gut wie eine Meile«, sagte er, »und ich glaube fast, daß dem Patron die Lust vergangen ist, den Versuch von da drüben aus zu wiederholen. Wir kennen jetzt seinen Schlupfwinkel, und das nächste Mal möchte er nicht so ungerupft davonkommen. Aber nun gute Nacht, Kinder – gute Nacht, Rafael – morgen früh wollen wir mit Tagesanbruch heraus und drüben sein, um den Platz noch einmal zu untersuchen. Es wäre doch möglich, daß der Monsieur in der Eile des Rückzuges ein Andenken da gelassen hat, an dem wir ihn später vielleicht einmal erkennen können.«

Die beiden Männer verließen das Zimmer, und Juanita blieb nur noch zurück, um die Fenster zu schließen. Auf dem Tisch lag das abgeschossene Haar Rafaels. Sie war schon wieder an der Tür, als sie noch einmal zurückkehrte, die zerrissene Locke an sich nahm und damit das Zimmer verließ.

 


 << zurück weiter >>