Friedrich Gerstäcker
Señor Aguila
Friedrich Gerstäcker

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Calle de Valladolid

In der Calle de Valladolid hatte Monsieur Deringcourt seine Privatwohnung, die eigentlich geräumiger war, als er sie für seine kleine Familie brauchte. Da er aber nichts so sehr haßte, als Mietsleute aufzunehmen, bei denen man nie vorher wußte, ob sie zu der ganzen Häuslichkeit passen würden, so ließ er lieber einen Teil des kleinen Hauses leerstehen und benutzte ihn nur dann und wann, wenn er Gäste einlud, als Fremdenzimmer.

Dort war jetzt Lydia Valière, die in der ganzen Stadt gefeierte Sängerin, einquartiert worden, und da Monsieur Deringcourt nie etwas halb tat, so hatte er ihr auch die kleine Wohnung so freundlich und behaglich eingerichtet, wie sie es sich nur hätte wünschen können. Die Abteilung des Hauses gehörte ihr allein, und Besuche, die sie empfing, kamen mit den übrigen Bewohnern nicht in die geringste Berührung. Sie war und blieb ihre eigene Herrin, als ob sie in einem Hotel gewohnt hätte, und nur zu den verschiedenen Mahlzeiten setzte sie eine in ihre Stube führende Klingelleitung in Kenntnis, daß das Essen in etwa einer halben Stunde aufgetragen werde.

Der Haupttreppengang der Deringcourtschen Familie führte aber gerade zu ihr hinüber, und wann auch immer sie deren Gesellschaft suchte, fand sie dort die freundlichste Aufnahme und das herzlichste Willkommen.

Heute, an einem Sonntag, erwartete sie Rafael. Sie hatte ihn durch ein paar kurze Zeilen um einen Besuch gebeten. Jetzt ging sie ungeduldig in dem kleinen Gemach auf und ab. Wieder und wieder flog ihr Blick nach der auf dem Sims stehenden Uhr, die schon zehn Minuten über halb Zwölf zeigte, als endlich Schritte auf dem Gange laut wurden und gleich darauf eine feste Hand an die Tür pochte. Sie selber öffnete, und ihre Hand Don Rafael entgegenstreckend, sagte sie freundlich:

»Das ist sehr liebenswürdig, Señor, daß Sie meiner Einladung Folge geleistet haben. Seien Sie willkommen!«

»Es wäre sehr unliebenswürdig gewesen, wenn ich es nicht getan hätte«, sagte der Eintretende, »und wie gern ich ihr folgte, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen.«

»Ich will Ihnen glauben«, lächelte Lydia, »und rechne es Ihnen noch höher an, weil ich weiß, daß Sie damit ein Opfer bringen.«

»Ein Opfer?« sagte Rafael erstaunt.

»Pst!« unterbrach ihn Lydia, »ich verlange nicht, ungebeten in Ihre Geheimnisse einzudringen. Mir genügt auch, daß Sie da sind. Übrigens ließ ich Sie nicht meinet-, sondern Ihretwegen zu mir bitten, denn ich habe Ihnen eine Mitteilung zu machen, die Ihnen wahrscheinlich angenehm sein wird.«

»Und wenn ich Ihnen nun sagte, wie glücklich ich mich schon dadurch fühle, daß Sie überhaupt nur meiner gedacht haben?«

Lydia hob bittend die Hände gegen ihn auf.

»Tun Sie es nicht«, bat sie, »seien Sie wenigstens wahr und einfach gegen mich, daß ich einen einzigen Menschen habe, mit dem ich wie mit einem Menschen reden kann!«

»Sie haben recht, Lydia, seien Sie mir nicht böse darüber, daß ich dem einen alltäglichen Ausdruck gab, was man wohl empfinden kann, aber nicht sagen darf, denn es klänge sonst wie fade Schmeichelei, und wahrlich, die liegt mir fern! Aber da fällt mir ein, daß ich eben, nicht weit von hier, auf der Straße unsern Schweden traf, der wahrscheinlich noch immer meine Locke auf dem Herzen trägt und vielleicht gar bei Ihnen war! Er kam mir übrigens merkwürdig verstört vor und sah mich nicht einmal, obgleich er dicht an mir vorüberging.«

»Er war hier – zum letztenmal – er wird nicht wiederkommen«, sagte Lydia ruhig, »denn ich war es müde geworden, ewig von . . . Doch, was kümmert er uns! Sind Sie denn gar nicht neugierig, das zu hören, was ich Ihnen zu sagen habe?«

»Sie können doch nicht verlangen, daß mir gleich in der ersten Minute die Zeit bei Ihnen lang wird!«

»Nun, das war wenigstens ehrlich und nicht geschmeichelt«, lachte Lydia, »und zur Belohnung sollen Sie auch gleich die Neuigkeit erfahren. Der Präsident sagt Ihnen durch mich auf morgen früh halb Zwölf eine Audienz in seinem Palais zu.«

»Der Präsident – mir?« rief Rafael überrascht aus. »Das ist jedenfalls ein Irrtum, mein Fräulein, denn der Präsident hat aller Wahrscheinlichkeit nach nicht einmal eine Ahnung, daß ich überhaupt existiere!«

»Er muß doch eine sehr starke Ahnung davon haben«, lächelte das junge Mädchen, »denn die Einladung kommt für Señor Rafael Aguila direkt aus seinem Munde.«

»Dann danke ich es auch niemand anderem als Ihnen«, rief Rafael rasch, »und Sie haben ein gutes Werk damit gestiftet, ohne es zu wollen!«

»Ohne es zu wollen, Señor?« rief Lydia. »Beim Himmel! Sie werden mir jetzt beinahe zu grob, und ich sehe mich bald genötigt, Sie zu bitten, ein klein wenig mehr artig zu sein! Ich habe Ihnen die Zusammenkunft in der ganz besonderen und wohlüberdachten Absicht – also nicht ohne es zu wollen – erwirkt, daß Sie dem Präsidenten Ihre Klage vorlegen und von ihm Ihr Recht verlangen können! Beharren Sie jetzt noch auf Ihrer Meinung?«

»Ich beharre darauf«, sagte Rafael, »daß Sie, ohne Schmeichelei, das liebenswürdigste Wesen unter der Sonne sind!«

»Das ist jetzt schon wieder viel mehr, als ich verlangt habe«, sagte Lydia. »Ich wollte auch nur, daß Ihnen Recht würde.«

»Auch dafür nehmen Sie meinen herzlichsten Dank, Señorita«, sagte Rafael, ihre Hand ergreifend, »aber seien Sie versichert, daß mir das trotzdem wenig helfen würde. Doch in einer anderen Angelegenheit habe ich mir, und zwar vergebens, die größte Mühe gegeben, den Präsidenten zu sprechen, und das haben Sie mir jetzt durch Ihr gütiges Fürwort möglich gemacht.«

»Und das war?«

»Die unglückseligen Insulaner, von denen Sie wahrscheinlich auf Señor Desterres' Hacienda einige gesehen haben, sind aus ihrer Heimat auf niederträchtige Art geraubt und hierher zum Verkauf gebracht worden, und ich bin fest überzeugt, daß es ohne Wissen des Präsidenten geschehen ist. Mit den Einzelheiten dieser Schurkerei wollte ich ihn bekannt machen.«

»Dadurch schaden Sie Ihrer eigenen Angelegenheit . . .«

»Möchten Sie mich darum tadeln?«

»Nein«, sagte das junge Mädchen, ihm die Hand entgegenstreckend, »ich wahrlich nicht, und Gott gebe, daß Sie den armen Menschen nützen! Ich will dann auch glauben, daß mein Besuch in Peru nicht ganz umsonst war und wenigstens etwas Gutes gewirkt hat. Aber vergessen Sie sich nicht selber zu sehr in der fremden Sache; vielleicht läßt sich doch beides vereinigen.«

»Schwerlich«, lächelte Rafael, »denn Seine Exzellenz wird den Kopf voll genug haben, wenn ich ihn ersuche, seine Hand in das Wespennest zu stecken. Sie wissen nicht, was das heißt, Señorita, hier in Peru einen Betrug aufzudecken. Es ist etwa so, als ob man an der unteren Etage eines Kartenhauses etwas reparieren wollte. Wenn man nicht außerordentlich vorsichtig dabei zu Werke geht, fällt die ganze Geschichte über den Haufen.«

»Und mein Freund Desterres steckt auch mit darunter?«

»Ich weiß es nicht bestimmt. Jedenfalls sind seine Freunde dabei beteiligt, denn das hängt hier alles untereinander zusammen und muß sich gegenseitig stützen. Allein könnte sich keiner auf seinen Füßen halten.«

Lydia horchte nach dem benachbarten Zimmer hinüber; es wurde dort ein Geräusch laut, als ob jemand an einen Tisch stieße.

»Es ist jemand dort«, sagte Rafael, der dadurch aufmerksam geworden war; »doch wohl Ihr Mädchen?«

»Es könnte eigentlich niemand weiter sein«, sagte Lydia, von ihrem Stuhl aufstehend; »aber sie ist erst kurz vor elf Uhr in die Kirche gegangen und kann noch nicht zurück sein. Das kleine Zimmer stößt an den Garten, vielleicht daß Adele . . .«

Sie hatte indessen, von Rafael gefolgt, die Tür erreicht und geöffnet, fand aber dort nicht etwa das vermutete Mädchen, sondern einen Mulatten, der, mit einem Korb am Arm, mitten in der Stube stand und sich verlegen umsah.

Lydia trat erschrocken zurück; Rafael aber, auf den Burschen zugehend, sagte, indem er ihn von oben bis unten betrachtete:

»Hallo, Señor, was machen Sie hier in dem Zimmer? Wissen Sie nicht, was Sitte ist, ehe man ein Haus in Lima betritt?«

»Bitte tausendmal um Entschuldigung, Señor«, sagte der Braune in seinem groben Dialekt; »ich bringe Butter und Eier für Señor Deringcourt und bin hier fremd im Hause. Sonst kommt meine Schwester immer, aber die ist krank, und es sind so viele Türen, daß man sich gar nicht zurechtfinden kann. Ich habe wohl eine halbe Stunde lang Ave Maria gesagt, aber es wollte mir niemand antworten.«

»Das ist der nämliche Bursche«, sagte Lydia auf Französisch zu Rafael, »der vor ein paar Tagen mit genau derselben Entschuldigung vorn bei mir im Zimmer war und dort schon eine ganze Weile herumgestöbert hatte, ehe ich ihn bemerkte.«

»Zeig' einmal deinen Korb, Amigo«, sagte Rafael, indem er, mit dem Burschen nicht die geringsten Umstände machend, auf ihn zuging und den Korb öffnete. Der Verdacht des Diebstahls schien aber unbegründet oder er hatte vielleicht auch noch keine Zeit bekommen, irgend etwas zu beseitigen. In dem Korb befand sich wenigstens nur das, was er angegeben hatte: Butter und Eier, und Rafael, selber in Verlegenheit, dem Mulatten anzugeben, wo er auf dem nächsten Wege die Küche erreichen könne, wandte sich deshalb an die junge Dame.

»Dann müssen wir ihn durch mein Zimmer führen«, sagte diese, »denn sonst gerät er hier hinunter vielleicht wieder in leere Zimmer, da wahrscheinlich alles in der Kirche ist. Hierher, Muchacho«, redete sie den Mulatten an, »komm hier durch und gehe diesen Gang hinunter; gerade die quer vorliegende Tür ist die Küche. Daß ich dich aber nun nicht zum drittenmal auf dieser Seite des Hauses erwische, sonst nehme ich an, daß du dein Gedächtnis nicht zu Hilfe rufen willst; verstanden?«

»Muchas Gracias, Señorita«, sagte der Bursche, indem er einen scheuen Blick nach Rafael warf, »werd' es mir diesmal merken. Morgen kann auch wohl meine Schwester wieder kommen. Scipio findet sich nicht in den Häusern zurecht, sieht immer eins aus wie das andere und ist ganz verschieden«, und mit einer tiefen Verbeugung drehte er sich zur Tür hinaus und hinkte, anscheinend lahm, den Gang hinab, der nach der Küche hinüberführte.

»Nehmen Sie sich vor den Schwarzen in acht«, sagte Rafael, als er die Tür wieder geschlossen hatte; »so zuverlässig sie sonst waren, als man sie noch als Sklaven hielt, und so selten ein Diebstahl stattfand, bei dem sie sich beteiligt hätten, so viel anders ist das jetzt, da sie frei und unabhängig geworden sind. Aber, mein liebes Fräulein«, unterbrach er sich, »ich habe Ihre kostbare Zeit schon zu lange in Anspruch genommen und höre da schon wieder einen neuen Besuch im Vorzimmer.«

»Das ist mein Direktor«, lächelte Lydia, die auf das Geräusch nahender Schritte ebenfalls gehorcht hatte; »ich kenne ihn am Tritt . . .«

»Und darf ich Ihnen Bericht abstatten, welchen Erfolg ich bei Seiner Exzellenz hatte?«

»Sie würden mir eine große Freude damit machen!«

»Also auf Wiedersehen, und nochmals meinen herzlichsten Dank für den Dienst, den Sie mir geleistet haben! Wollte Gott, daß ich je imstande wäre, das nur in etwas wiedergutzumachen! Sie sollten sehen, mit welcher Freude ich es tun würde!«

»Ich glaube es Ihnen«, sagte Lydia herzlich, und Rafael hob ihre Hand an seine Lippen und verließ das Zimmer, auf dessen Schwelle in diesem Augenblick auch schon Monsieur Montfort erschien.

 


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