Gustaf af Geijerstam
Das Buch vom Brüderchen
Gustaf af Geijerstam

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Zwölftes Kapitel

Nicht lange nach diesem Tag wurde ich durch eine Telephonbotschaft heimgerufen, die mitteilte, daß meine Frau von einem heftigen Krampfanfall getroffen worden war. Man fügte hinzu, daß es ernst sei, und bat mich, meine Heimkehr zu beschleunigen.

Am selben Tag hatte ich meiner Frau frühmorgens Lebewohl gesagt, bevor ich zu meiner Arbeit fuhr. Es war der erste Mai, und wir hatten davon gesprochen, den Kindern auf irgendeine Weise einen fröhlichen Tag zu bereiten, so wie es früher im Hause der Brauch gewesen. Es war mir auch zuerst unmöglich zu fassen, daß das, was ich gehört hatte, Wirklichkeit sein könnte.

Ich benützte daher die Zeit, die mir blieb, bis der Zug abging, um ein wenig Obst und anderes zu kaufen, was für den frohen Tag notwendig war. Natürlich ist das etwas Vorübergehendes, sagte ich zu mir selbst, wie ich da mit meinen Paketen im Kupee saß. Um die Zeit rascher hinzubringen, nahm ich meine Zeitungen zur Hand und versuchte zu lesen. Es gelang mir im Anfang, weil ich mich anstrengte, alles gleichsam so alltäglich wie möglich zu nehmen, damit meine Angst mir nicht übermächtig würde, wenigstens solange ich im Kupee säße. Aber je näher ich meiner Wohnung kam, desto stärker fühlte ich, wie mich nur die Unruhe zu allem trieb, was ich vornahm. Die Gedanken wollten den Augen nicht folgen, die mechanisch über die Zeitungsspalten glitten, und bald merkte ich, daß die Augen ohne Ordnung ihren Weg von der einen Spalte zu der anderen suchten. Ich faltete die Zeitung zusammen, und wie ein Blitz durchzuckte es mich: »Du fährst dem entgegen, was du gefürchtet hast. Du kannst nicht leugnen, daß du beständig gefürchtet hast. Nie hast du geglaubt, daß sie leben würde. Du hast es dir nur selbst vorspiegeln wollen. Jetzt hat die Stunde geschlagen, und du entgehst ihr nicht.«

Eine unnatürliche Ruhe kam über mich. Vielleicht kam dies daher, daß ich jetzt der letzten Gewißheit entgegenfuhr, vor der ich fühlte, daß mit ihr aller Kampf zu Ende sein mußte. »Gott, soll sie sterben,« murmelte ich, »möchte sie doch ohne Schmerzen sterben können!« Und noch immer wunderte ich mich, daß ich so ruhig sein konnte. Ich sah mich auf dem Perron um, als der Zug stehenblieb. Ich hatte erwartet, daß jemand mir entgegenkommen würde, aber niemand war da. »Dann lebt sie noch«, dachte ich mit derselben eigentümlich klaren Ruhe. Und im nächsten Augenblick dachte ich: »Vielleicht ist gerade das ein Zeichen, daß alles zu Ende ist. Man hat eingesehen, daß ich nicht hier vor fremden Augen erschüttert werden will.« Aber selbst vor dieser Möglichkeit behielt ich dieselbe wunderliche Gefühllosigkeit bei. Langsam begann ich heimwärts zu gehen, schwer stieg ich den Hügel hinan. Ich blickte zum Fenster auf, und ich glaubte sie noch sehen zu können, als sie zum ersten Male nach ihrer ersten Krankheit wieder angekleidet und auf war. Über das schwarze Kleid, das sie jetzt immer trug, hatte sie ein helles Cape geworfen, und das Fenster stand weit offen. Sie beugte sich hinab und winkte, ungeduldig, weil ich nicht schon früher aufgeblickt hatte, und sie bebte vor Eifer, mich damit erfreuen zu können, daß sie auf war und allein gehen konnte. Diese Erinnerung durchzuckte mich, und mechanisch sah ich zu dem Fenster auf, obgleich ich wohl wußte, daß jetzt niemand dastehen und mir zuwinken würde.

Da stand der Gedanke vor mir: »Durch mehr als einundeinhalbes Jahr warst du darauf gefaßt, daß sie sterben würde, und du hast sie betrauert, als wäre sie schon dahin, jetzt kannst du nicht mehr fühlen. Der Schmerz hat sich selbst verzehrt, er ist in seiner eigenen Flamme erloschen, und nur die Asche ist übrig.«

Kurz darauf stand ich im Schlafzimmer und sah, daß meine Frau bewußtlos war. Ich lauschte ihren Atemzügen, nahm ihre Hand und versuchte, zu ihr zu sprechen. Ich begriff, daß alles vergeblich war, und ging hinab, um selbst mit dem Doktor durchs Telephon zu sprechen, nicht weil ich glaubte, daß er nötig war, sondern weil ich meinte, ich müßte es. Er versprach zu kommen, und leise ging ich wieder die Stiege hinauf, auf der mich durch die geöffneten Türen aus dem Krankenzimmer der Laut der Atemzüge meiner Frau erreichte, die allein in dem ganz stummen Hause zu herrschen schienen.

Da sah ich Olof, der stille auf der Treppe stand und zu horchen schien. Ich legte meine Hand auf seine Schulter und gedachte an ihm vorbeizugehen. Aber der Knabe hielt mich auf.

»Warum schnarcht Mama so wunderlich?« sagte er.

Er wurde rot, als hätte er etwas Unpassendes gesagt, und versuchte zu lächeln, ohne daß es ihm gelang.

»Das pflegt sich so anzuhören,« sagte ich, »wenn ein Mensch nahe daran ist zu sterben.«

Der Knabe brach nicht in Tränen aus. Er nickte nur und sah weg.

»Er hat es erwartet, so wie ich«, dachte ich.

Und im selben Augenblick sah ich, wie groß und wie klein er war.

Da war es, als bräche etwas in mir auf. »Hier steht das Schlimmste bevor,« dachte ich, »das, in das du dich noch nicht hineingedacht hast. Die Kinder, die Kinder!« Und während die Pflegerin allein bei der Kranken saß, ging ich mit den Knaben hinunter, um zu Mittag zu essen und mit ihnen von dem zu sprechen, was geschehen sollte.

Wie wir miteinander sprachen an diesem Tag und den folgenden! Wie wir unsere Stimmen dämpften, als fürchteten wir, sie zu stören, deren Ohr von keinem Laute mehr erreicht werden konnte! Meine Knaben erschienen mir plötzlich wie ein paar Altersgenossen, die allein alles geteilt und alles verstanden hatten. Für sie war nichts Seltsames daran, daß Mama zu Sven ging. Das hatte sie ihnen ja selbst so oft gesagt. Es lag nichts Störendes für sie in dem Gedanken, daß Mama fortging, weil sie nicht zu leben wünschte. Sie wurden von keinen Theorien beunruhigt. Sie kritisierten nicht. Sie versuchten keine Auslegungen dessen, das nur einfach und groß war. Sie wußten bloß, daß, wenn Mama sterben und von ihnen gehen wollte, dies nur deshalb geschah, weil sie krank und schwach war und weil sie nicht zu leben vermochte. Wenn jemand ihnen gesagt hätte, daß ihre Mama dadurch zeigte, daß sie sie weniger liebte, würden sie gelacht haben oder empört gewesen sein.

Jetzt sprachen sie zu mir von so mancherlei, das ich nicht gehört hatte. Und wie wir sprachen, begann in mir selbst der Schmerz gleichsam aus der Ferne zu erklingen. Ich wußte, daß er einmal kommen würde und mir Linderung bringen. Aber noch konnte er nicht ganz die Starrheit überwinden, die mich beherrschte und die ich selbst dann noch beibehielt, als der Doktor das Krankenzimmer verlassen und mir all das gesagt hatte, was ich ohnehin schon wußte.

Aber bevor er kam, wurde ich durch Schreie hinauf ins Schlafzimmer gerufen. Als ich eintrat, lag meine Frau in krampfhaften Zuckungen, die im Gesichte anzufangen schienen und sich von da fortpflanzten, bis sie ihren ganzen Körper erschütterten. Wir konnten nichts tun. Und von Zeit zu Zeit kamen die entsetzlichen Anfälle wieder.

Der Doktor machte ihnen durch Injektionen ein Ende, und die frühere Ruhe kehrte wieder, aber das Bewußtsein kam nicht zurück. Noch fast zwei Tage lag sie in derselben Betäubung, in der ich sie zuerst gefunden. Unaufhörlich, lange nachdem die Zuckungen aufgehört hatten, glaubte ich ihr Antlitz verzerrt und in derselben grauenvollen Weise bebend zu sehen. Da erinnerte ich mich an Svens Totenbett. Ich wußte, daß ich damals dasselbe Bild gesehen, von der Verzerrung des Gesichtes und des Mundes bis zu dem Zittern der Glieder und den krampfhaft geballten Händen. Ich gedachte ihrer Worte: »Wenn ich sterbe, werde ich ganz so sterben wie Sven.« Ich erinnerte mich, daß ich bei mir selbst gelächelt hatte, als ich diese Worte hörte, ich hatte sie für einen Ausdruck der Überspanntheit erklärt. Jetzt, wo sie sich verwirklicht hatten, konnte ich sie nicht aus dem Sinne schlagen. Woher wußte sie es? Oder wie konnte sie es so sicher sagen, wenn sie nichts wußte? War dieses Zusammentreffen bloß ein Zufall? Und kann man überhaupt alles Zufall nennen, was man sich nicht erklären will?

Ich saß Stunden am Bette meiner Frau und ging bloß hinaus, um Luft zu schöpfen oder zu ruhen. Ich saß mit den Knaben am Krankenlager, und wir flüsterten miteinander, sprachen Worte, die niemals wiederkommen werden und deren sich keiner von uns mehr entsinnen kann. Ich schlief in den Kleidern auf dem Bett neben Elsa, meiner kleinen Elsa, die niemals mehr erwachen sollte, und ich saß allein wach, damit die Pflegerin Ruhe fände und ich wenigstens die Erinnerung an ein paar Stunden besitzen könnte, in denen niemand anders als wir beide im Sterbezimmer gewesen waren.

Man sagt von Sterbenden, daß ihr ganzes Leben an ihnen vorüberrauscht, bevor das Ende eintritt, und es muß wohl so sein, daß man da alles, was man selbst erlebt hat, vielleicht in einem neuen Lichte sieht. Für mein eigen Teil weiß ich, daß ich in der letzten Nacht, als es so langsam Tag wurde und die Knaben ermattet zur Ruhe gegangen waren, mein eigenes Leben und alles, was sie und ich miteinander erlebt hatte, so sah, wie ich es nie zuvor gesehen. Und ich sah, daß ich von allem, was sie mir gesagt, mir das eingeprägt hatte, was ich hätte vergessen sollen, und gerade das vergessen hatte, was ich vor allem hätte beherzigen müssen. Ich hatte mir das gemerkt, was sie nach meinem eignen Wunsche sprach, und alles vergessen, was sie dagegen gesprochen. Während ich glaubte, alles für sie zu tun, hatte ich daher für mich selbst und mein eigenes Glück gearbeitet. Alles, was ich erlebt hatte, sammelte sich in diesem Gedanken wie in einem einzigen Brennpunkt.

Denn hinein in das Tal des Todes hatte sie mich geführt. Das sah ich jetzt, als die graue Luft vor dem Fenster sich erhellte und ein weiter Rand der Morgenröte sich rings um das Himmelsgewölbe abzeichnete. Von selbst und aus eigenem freien Antrieb hatte ich niemals dorthin getrachtet, hatte nur gestrebt, von dort fortzukommen und zu vergessen, daß solches vorhanden war. Und wie ich nun hier saß, wollte es mich bedünken, daß ich jetzt ebensowenig von der Welt wußte, als da ich zuerst zum Leben in dieser Welt voll Widersprüche erwachte, und über alles verwundert, was mir dort begegnete, meine ersten Schritte machte. Immer war ich mit etwas wie Verwunderung in mir umhergegangen, immer mit einem Gefühl, daß das, was ich erlebte, nur zur Hälfte Wirklichkeit sei, immer hatte ich mich gleichsam von dem, was war, dem Unbekannten entgegengestreckt, das kommen sollte. Immer hatte ich vom Glücke geträumt, und das Glück hatte sich mir nie anders gezeigt, als in Gestalt eines Heims. Dieses Glück hatte ich errungen, es errungen, wie nur einer unter Tausenden es erringt, aber der Tod, an den ich nie hatte denken wollen, war unsichtbar hinter mir hergeschlichen. Er nahm meinen kleinen Knaben mit den Engelsaugen und dem goldenen Haar. Und als er ihn nahm, beugte er sich tiefer über mich denn zuvor, breitete seine schwarzen Fittiche über mein Haus und ließ mich nicht früher los, als bis er mir und den Meinen sie geraubt, die uns teurer war als alles im Leben, weil sie uns teurer war als das Leben selbst.

Ich stand auf und sah hinaus. Ich lauschte ihren Atemzügen, und ich konnte es nicht glauben, daß es meine Frau war, die hier lag und sterben sollte. Ich beugte mich hinab und benetzte ihre Zunge und ihre Lippen mit Wasser, und ich betrachtete ihre Züge, bis es vor meinen Augen schwarz wurde und ich nichts sehen konnte. Aber ihr selbst glaubte ich nahe zu sein, und war noch eine Erinnerung in ihr, die, unerreichbar für mich, von allem getrennt, was wir Sterblichen Dasein nennen, sich mit ihrem eigenen Leben beschäftigte, so wußte ich, daß ich mit darin war. Ich war mit darin so, wie ich mich nie selbst sehen sollte und kein anderer als sie mich sehen konnte.

Und während meine Gedanken so um alles kreisten, was wir beide zusammen erlebt hatten, vergaß ich mich selbst und sah nur sie. Jung und hingebend trat sie mir entgegen, aber in allem Glück, das um sie strahlte und ihre Schritte leicht machte, lag eine Wehmut, die um so stärker war, weil sie so lange stumm blieb. Ich glaubte mich jetzt erinnern zu können, daß ihr ganzes Wesen früh, früh schon auf einem Plane stand, der nicht der anderer war. Sie war geschaffen, glücklich zu sein und dann zu sterben, und der Tag kam, an dem es eine Grausamkeit wurde, zu versuchen, sie zum Leben zu zwingen. Sie konnte nicht eine Zeitlang trauern und dann vergessen. Sie konnte nur trauern und sterben. Alles über dem Gefühl ihres Schicksals vergessend, hätte ich wissen müssen, daß sie immer die Wahrheit sprach und am meisten dann, wenn ihre Rede mir wunderlich und unbegreiflich schien. Aber am allerwahrsten war sie, wenn der Schmerz ihren Lippen die Worte erpreßte und sie mich bat, sterben zu dürfen.

Warum hatte ich sie nicht gewähren lassen? Warum hatte ich versucht, sie gegen ihren Willen und über ihre Kraft zu zwingen? Begriff ich denn nicht, daß sie nur durch eine unerhörte Kraftanstrengung zwei lange Jahre hindurch in meinem Heim gekommen und gegangen war, mit uns, die wir lächeln wollten, gelächelt, mit uns, die wir spielen wollten, gespielt hatte?

Wie hatte ich so grausam sein können, und wie kann man so grausam sein, nur weil man nicht recht und klar zu sehen vermag?

Und diese Fragen sammelten sich zuletzt in der neuen: Wie hat sie mich lieben können, wenn ich sie gegen meinen Willen so gequält habe?

Denn als hätte ich ihren Gedanken folgen können, die schon von den meinen getrennt waren, schien es mir, daß ich dies gegen meinen Willen getan hatte und daß sie das für mich fühlen mußte, obgleich ich es früher nicht hatte glauben wollen. Aber nie sollte mir eine Antwort auf diese Frage werden, nie sollte sie aus dieser Betäubung erwachen, und mit Verzweiflung im Herzen würde ich mich eines Tages dem neuen Leben zuwenden, das mich ohne sie erwartete.

So suchte ich in der Ahnung dem Weg zu folgen, den ihre Gedanken nahmen, während sie tiefer und immer tiefer in die Gewalt des Todes glitt. Es war, als hätte ich mich selbst und mein eigenes Leben dem Tode gegeben und als machten wir beide zusammen, sie und ich, unsere Rechnung mit der Welt. Alles außer und in mir wurde so schwindelnd hoch und groß, daß ich glaubte nichts erreichen zu können. Es war kein Trost in all diesem, nur ein verzweifelter Abschied. Träge schritten die Stunden vorwärts, und schon kam der Augenblick unwiderstehlicher Müdigkeit, wo man die Augen schließt und die Hände zusammenpreßt in einem einzigen Gebet, daß alles zu Ende sein möge.

Da hörten plötzlich die regelmäßigen Atemzüge auf, und ich fühlte, wie mein Herz gleichsam starr wurde. Ich glaubte, daß nun der Tod komme, und ich eilte hinaus, um die Knaben zu wecken. Sie kamen herein, schlaftrunken und ernst, und setzten sich am Bette nieder, und in diesem Augenblicke erinnerte ich mich an das, was sie einmal gesagt hatte:

»Wenn ich sterbe, will ich, daß kein anderer außer dir und den Knaben um mich ist. Nur zu euch gehöre ich.«

So saßen wir nun auch, und während wir uns nicht erklären konnten, was ihre erleichterten Atemzüge bedeuten sollten, und das Ende erwarteten, merkten wir, daß ihre Augen gleichsam arbeiteten, um sich zu öffnen, und wir sahen, wie sie sich dorthin wendete, wo Svens Porträt an der Wand hing, und hörten sie sagen:

»Nenne.« Schwach und leise sprach sie das kleine Wörtchen aus, aber sie hatte doch gesprochen. Krampfhaft faßten wir uns bei den Händen, und unsere Tränen flossen, nicht aus Schmerz, sondern aus Freude, daß wir wieder ihre Stimme gehört hatten.

Von diesem Augenblick an wußte sie, daß wir da saßen. Von diesem Augenblick an war gleichsam ein Abschiednehmen in jeder Miene, jeder Bewegung und jedem Worte. Wenn sie unsere Stimmen hörte, schlug sie ihr eines Augenlid auf, ganz wie Sven es einmal getan hatte, und wir konnten merken, daß sie uns erkannt hatte und sich unserer Liebkosungen bewußt war.

Noch einmal nannte sie Svens Namen, als hätte sie sagen wollen, daß sie ihn sähe, daß sie zu ihm ginge. Aber dann sank sie zusammen, und wir saßen atemlos da, gierig nach einem Zeichen haschend, daß sie uns noch nicht verlassen, noch nicht von uns gegangen war.

Da schlug sie ihr linkes Auge auf, so wie Sven es einmal getan, und ihr Blick suchte den meinen. Ich beugte mich über sie und sah, daß sie versuchte zu sprechen. Aber sie vermochte es nicht, und mit einem Ausdruck unsäglichen Leidens sank sie zurück in die Betäubung, die der Vorbote des Todes ist. Mehrere Male wiederholte sie denselben Versuch. Bei jedem Male trat in ihr Gesicht dieser Ausdruck verzweifelter Ohnmacht, und mit jedem Male wurde er herzzerreißender. Es war, als gehörte sie uns nicht mehr an, aber als gäbe es doch etwas, was sie uns sagen wollte, ehe sie für immer schied, als könnte sie nicht sterben, ohne es den Überlebenden mitgeteilt zu haben. Es war entsetzlich, ihren Kampf anzusehen, und noch entsetzlicher, vielleicht ihre letzten Worte zu verlieren. Wieder beugte ich mich über sie hinab, und verzweiflungsvoll flüsterte ich eine Bitte in ihr Ohr. Da schlug sie ihr Auge zu mir auf, und ich sah, daß sie mich hörte. In einer Spannung, als hinge mein ganzes zukünftiges Leben von ihren Worten ab, näherte ich mein Ohr ganz ihrem Munde.

Da hörte ich ihre Stimme. Sie kam aus so weiter Ferne, wie noch keine Stimme in meinem Ohr erklungen ist. Sie war so schwach, daß ich sie kaum unterscheiden konnte. Es war kaum sie selbst, sondern eher ihr Geist, der sprach. Aber deutlich und klar vernahm ich die Worte, und niemand außer mir konnte sie hören:

»Ich . . . habe . . . euch . . . so lieb.«

Ich muß vor Schmerz aufgeschrien haben. Denn ich fühlte Hände, die mich umfaßten und stützen. Und der Ausruf, der sich mir entrungen, hatte die Sterbende erreicht. Denn von meiner Frau kam ein verzweifelter Laut des Schmerzes, der sagte, daß sie mich hören konnte, ohne es doch zu vermögen, ihre leblose Hand auf mein Haupt zu legen. Diesen Laut kann ich noch zu dieser Stunde hören.

Um diese Worte sagen zu können, war sie stundenlang ringend dagelegen. Und als sie sie gesagt hatte, sank sie in Ruhe zurück. Es war Friede über ihren Zügen. Sie wünschte nichts mehr, verlangte nichts mehr. Sie hatte ihre Rechnung mit der Welt abgeschlossen, als sie, bevor sie starb, gesagt hatte, wie sehr sie die Knaben und mich liebte.

Ein paar Stunden später hatte sie die Augen geschlossen. Es geschah ohne Todeskampf, stille und ruhig, so wie wenn ein Licht herabgebrannt ist.

Sie lebte ihr eigenes Leben und starb ihren eigenen Tod.

Sie war so schwach, daß sie keinen Todeskampf hatte. Sie hatte vorher lange genug gekämpft.

Aber sie war stark genug, um uns, bevor sie ging, ein Wort zu schenken, an das wir uns erinnern und von dem wir leben konnten. Ihre Liebe war stärker als der Tod.

Segen über sie!

 


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