Gustaf af Geijerstam
Das Buch vom Brüderchen
Gustaf af Geijerstam

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Fünftes Kapitel

Des Abends, wenn ich allein blieb, saß ich oft da und schrieb, um meine Gedanken zu zerstreuen oder überhaupt etwas vorzunehmen, an einer Art Tagebuch, das ich auf dem Grunde einer Schreibtischlade verwahrte, damit Elsa es nicht durch einen unglücklichen Zufall in die Hand bekäme.

Ich habe es jetzt wieder gelesen, und alles, was darin steht, scheint mir vor so langer Zeit geschrieben, daß ich kaum glauben kann, daß seither nicht einmal zwei Jahre verflossen sind. Aber wie ich darin lese, wird alles, was geschehen ist, lebendig und gegenwärtig, und ich fühle wieder die Martern der furchtbaren Illusion, die mich damals aufrecht hielt.

4. September.

Ich sitze hier und denke an den kleinen Sven. Alles um mich ist stumm, und ich glaube ihn zu sehen, wie er in den letzten Tagen, in denen er noch auf sein konnte, über die Gartenwege ging, seine kleine, zärtliche Hand in der meinen, und in einem fort plauderte, während er mit seinen gedankenvollen Kinderaugen zu mir aufsah. Und wie ich mich in diese Erinnerung vertiefe, empfinde ich die Hoffnungslosigkeit, daß ich ihn niemals wiedersehen werde, so unsäglich bitter. Denn er war, ohne es zu ahnen, des Hauses Mittelpunkt. Er war es, der immer uns vier Großen entgegengelaufen kam und der die Räume mit seinem Gezwitscher erfüllte, wenn wir heimkamen. Um ihn versammelten wir uns bei jeder Kleinigkeit, die Freude bereitete, um zu erfahren, was er dazu meinte. Jetzt geht sein Vater umher und muß sich hart gegen diese Erinnerungen machen, um nicht zu versagen und um alles andere aufrechtzuerhalten. Darf nicht einmal zuviel denken. Nicht einmal trauern. Denn dann würde alles in die Brüche gehen.

Kam er, um seine Mutter zu holen und uns alle in Betrübnis zurückzulassen? Oder kam er, um zu gehen, so still und schön wie er ging, und uns alle durch seinen Tod des Lebens große Kunst zu lehren?

16. Oktober.

Ich habe an alles gedacht und alles gesehen, und ich weiß jetzt, um was der Kampf gekämpft wird. Tag für Tag habe ich gesehen, wie es nur schlimmer geworden ist. Und es ist keine Freude, klar zu sehen. Es ist ein Leiden. In dieser Zeit habe ich jede Einzelheit verfolgen können, und ein Wort oder ein Blick konnte mich bis in mein innerstes Wesen erzittern machen, weil ich wußte, was er zu bedeuten hatte. In meiner Anwesenheit und der der Knaben habe ich sie gleichsam abfallen und Gespräche mit einem Unsichtbaren führen sehen. Bis aufs äußerste habe ich jeden Nerv anstrengen müssen, um in ihren Augen den Blick zu erzwingen, der zeigte, daß sie sich bewußt wurde, daß sie nicht allein war. Ich habe sie selbst alles fühlen und verstehen sehen, sie ahnen und wissen sehen, was in ihr lauerte. Sie hat sich in Angst vor mir niedergeworfen und mich gebeten, sie nicht wegzuschicken – sondern ein wenig Geduld zu haben.

Ich leide furchtbar darunter, ihren Kampf zu verfolgen, und dennoch weiß ich, daß das, was jetzt meine Qual ausmacht, nur eine andere Seite derselben Eigenschaften einer reichen und mächtigen Natur ist, deren Wellen hochgehen, wie die des Meeres – derselben Eigenschaften, die mir einst alles Glück und allen Jubel der Welt geschenkt.

30. Oktober.

Die furchtbare Spannung fängt an, vorüberzugehen, und meine Frau befindet sich von Tag zu Tag besser. Nach dem Dunkel des Winters werden wohl einmal die Tage länger und die Stunden lichter.

8. Dezember.

Es ist lange her, seit ich mein Tagebuch berührt habe. Aber das kommt daher, daß ich gearbeitet habe. Ich habe ein Theaterstück geschrieben, und es ist wunderlich zugegangen. Mitten in Korrekturen und Arbeit aller Art, in der Kränklichkeit meiner Frau und einer Nervosität, die mir mein ganzes Wesen wie eine Bogensaite gespannt erscheinen ließ, bin ich des Morgens aufgestanden und habe mir die Zeit zum Schreiben gestohlen. Ich habe Nacht für Nacht bis zwei Uhr geschrieben. Ich habe Whisky getrunken, um mich wach zu erhalten. Ich bin mitten in der Arbeit ausgegangen und habe soupiert, um Lärm zu hören und Gesichter von Menschen zu sehen, mitten in einem fieberhaften Leben zu sein, es um mich wogen und meine Schläfen brennen zu fühlen.

Aber das Stück wurde fertig, und ich fühle nur eine große Mattigkeit. Was ich erreichen will, ist jetzt wahrlich weder Ruhm noch Schriftstellerfreude. Ich habe das Gefühl, als lebte mein Hirn allein auf Kosten des ganzen übrigen Körpers. Ja, es ist schade, daß der Tag nur vierundzwanzig Stunden hat, wenn es gilt, das Unmögliche zu erreichen.

17. Dezember.

Es ist mir, als ob, ohne daß ich es klar weiß, alles, was ich erlebt habe und lebe, war und bin, in irgendeiner Weise einer Erfüllung entgegenginge, die sich vollzieht, ohne daß ich einen Finger rühren kann. Während all dessen lebe ich mein gewöhnliches Leben, und ich glaube nicht, daß jemand mich eigentlich verändert findet. Ich bin froh, wenn ich herauskomme und Menschen treffe, sogar ausgelassen. Denn das lindert.

Aber daheim lebe ich mein wirkliches Leben. Und unablässig habe ich dort das Gefühl, als glitte über sie und mich etwas von dem, wovon ich einmal selbst in einem ganz anderen Zusammenhang geschrieben habe, daß es »größer als Glück und Unglück« ist, etwas von dem, das keinen Namen hat.

In all dem ist natürlich meine Frau der Mittelpunkt. Ob sie der Gesundung oder dem Untergang entgegengeht, weiß ich nicht. Dies scheint mir jetzt etwas zu sein, in das ich nicht eingreifen kann. Es kommt mir zuweilen vor, als stünde ich außerhalb, als hätte ich keinen Teil daran und könnte es niemals erreichen. Und in all dem ist keine Überspanntheit, nur eine resignierte Sehnsucht, die farblos ist.

25. Januar.

Meine Frau hat sich heute ans Klavier gesetzt. Singen will sie wohl noch nicht, aber ich habe doch wieder Musik in meinem Heim gehört, und die Melodien von einst haben unseren Sinn gleichsam auf einen neuen, helleren Ton gestimmt. Überhaupt ist in letzter Zeit etwas Neues über sie gekommen, etwas Neues, das mehr verspricht als das Frühere. Sie ist zum Leben erwacht und ist mit uns andern wie zuvor. Noch nicht so recht vielleicht. Aber ich fühle, wie sie uns mit jedem Tage näher kommt. Zuweilen glaube ich, was sie sagt, daß all das daher kommt, weil sie weiß, daß sie nun bald scheiden wird, und daß diese Hoffnung sie aufrecht hält. Aber zuweilen glaube ich, daß wenn es auch jetzt so sein mag, all dies doch auf dem Wege ist, in etwas Größeres hinüberzugleiten, das sie selbst mit Verwunderung und Angst spürt, aber nicht glauben will.

Wie es damit ist, weiß ich nicht. Aber ich weiß, daß ich jetzt nicht verzweifelt bin, wie ich früher war. Denn jetzt lebe ich unter dem Schicksal, das das meine ist und das – geschehe was da will – so wie ich es jetzt sehe, nichts Häßliches in ihr Leben und in das meine bringen kann. Das hatte ich gefürchtet.

19. Februar.

Ich halte das nicht länger aus. Ich habe Schwarz und Schwarz und Schwarz um mich gesehen, so daß ich in Raserei gerate, sowie ich nur mich selbst in einem Spiegel erblicke. Und das beste ist, daß meine Frau selbst anfängt, ein wenig von alledem zu fühlen.

26. März.

Ich gehe nur und warte darauf, daß der Winter wirklich zu Ende geht, so daß wir von hier fortkommen. Eine Apathie höchst wunderlicher Art beherrscht mich, und ich habe manchmal Angst, daß dieser Winter mich gebrochen hat. Was der Sommer bringen kann, ist vielleicht auch nicht gerade etwas, worauf man Erwartungen setzen kann. Wir zogen nach Stockholm herein, oder richtiger wir mieteten eine Wohnung, als wir glaubten, daß alles uns vorwärts tragen würde, wenn auch langsam. Wie es sich gestaltet hat, wäre es besser gewesen, wir wären auf dem Lande geblieben, in der Abgeschiedenheit, die für uns das Beste zu sein scheint. Hier ist es einsamer als dort.

Die Sorge wirkt verscheuchend.

31. Mai.

Heute ist unser Hochzeitstag. »Im wunderschönen Monat Mai.« Ich kann es nicht lassen, etwas aufzuzeichnen, wie kindisch ich auch selbst fühle, daß es ist. Es sind nämlich heute vierzehn Jahre, daß wir verheiratet sind, und das Jahr, das vergangen ist, war das schwerste. Das, was vergangen ist, war ja das dreizehnte – das Unglücksjahr par preference. Es ist, als glaubte ich, daß jemand etwas von nun an unseren Weg ebnen wollte, oder als fühlte ich, daß etwas in mir der Heilung nahe sei. Und all dies, weil mir eine Ziffer eingefallen ist, die unter normalen Verhältnissen sicherlich spurlos an mir vorübergegangen wäre.

25. Juni.

Die Tage verstreichen, während ich umhergehe und denke, daß ich anfangen sollte, zu arbeiten. Aber die Schmetterlinge der Dichtung flattern nur unruhig über etwas umher, das öde und verbrannt ist. Zuweilen will es mich bedünken, als könnte ich ihrem Fluge folgen. Aber dann erinnert mich die Wirklichkeit wieder an das, was ist, und alles verdunkelt sich.

Könnte ich nur stets so sein, daß meine Frau nichts merkte. Könnte ich gleichmäßig und froh sein oder es wenigstens scheinen. Aber ich kann es nicht, und ich weiß, daß sie nicht nur über sich selbst trauert, sondern auch über den Schmerz, den sie mir zufügt. Es muß furchtbar sein, so herumzugehen wie sie und nichts zu können, nichts zu vermögen, und bei dem Geringsten zusammenzubrechen, das ihr Unruhe oder Schmerz verursacht. Einhergehen und über den Tod grübeln, von dem sie glaubt, daß er kommen wird, der aber nicht kommt. Dreifach entsetzensvoll muß es sein, zu alledem dem Menschen, den man am meisten liebt, unsägliches Leid zuzufügen und nichts tun zu können, um es zu lindern.

Sie kann zuweilen, wenn sie glaubt, daß ich es nicht merke, dasitzen und mich ansehen, und dann kommt in ihr Antlitz ein solcher Ausdruck der Verzweiflung, daß er mir in die Seele schneidet.

Gestern kam sie und setzte sich neben mich und legte ihre Hand auf die meine.

»Wenn du nur mich nicht hättest,« sagte sie, »um wieviel glücklicher würdest du da sein!«

Ich weiß, daß sie an die Wahrheit ihrer eigenen Worte glaubte, und meine Antwort konnte wohl für einen Augenblick ihren Glauben erschüttern und ein Aufleuchten der Hoffnung in ihre Augen locken, aber sie konnte ihr nicht die sichere Überzeugung wiedergeben, daß sie unentbehrlich sei und daher leben müsse.

 


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