Gustaf af Geijerstam
Das Buch vom Brüderchen
Gustaf af Geijerstam

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Drittes Kapitel

So kreisen ihre Gedanken stets um ihn, der tot ist, und es gibt nichts, das sie stören kann. Sie spricht davon, daß sie ihm bald folgen werde, und sie tut es in einem ruhigen, vertraulichen, besonnenen Tone, als müßte das die natürlichste Sache der Welt für andere sein, so wie für sie selbst.

Manchmal pflegt sie hinzuzufügen:

»Ich möchte nur so gerne leben, bis die Knaben ein bißchen größer sind und mich nicht mehr brauchen.«

Dann kann ihr Gesicht einen verzweifelten, zerissenen Ausdruck annehmen, als wüßte sie, daß dieser Wunsch mehr ist, als sie hoffen oder verlangen kann, und ihre Stirne bekommt eine tiefe Falte zwischen den Augen, so, als ob das Grübeln ihr Schmerz verursachte. Sie fühlt, daß sie zwischen Leben und Tod wählen muß, wenigstens in ihren Wünschen, und sie kann es nicht. Darum will sie zuerst eine Zeitlang leben, um denen, die am Leben sind, alles zu sein, was sie ihnen sein kann, und dann sterben, um bei ihm zu bleiben, dem sie sich angehörig fühlt. Sie sucht eine Versöhnung zwischen dem Verlangen zu sterben und dem Bedürfnis zu leben, und sie fürchtet beides, weil das eine wie das andere um die Herrschaft in ihrer Seele ringt und jedes in seiner Weise sie grenzenlos quält. Gleichzeitig ahnt sie jedoch, welche der Mächte schließlich den Sieg davontragen wird, und darum fügt sie dies hinzu nicht als ein außerordentliches Ereignis, das Verwunderung und Staunen hervorrufen soll, sondern als etwas Selbstverständliches, das sie erlebt hat und das niemand bezweifeln kann.

»Erinnerst du dich, wie ich sagte, daß ich nicht an ein Leben nach diesem glaubte?« sagte sie. »Du hast mich gelehrt, so zu glauben.«

Ihr Gesicht verdüstert sich, wie sie das sagt, und es kommt etwas wie Groll in ihre Stimme, das mir weh tut. Sie sieht es, und versöhnend legt sie ihre Hand auf die meine, indem sie fortfährt:

»Jetzt glaube ich daran, und jetzt weiß ich, daß man anfangen kann, ein solches Leben schon hier auf Erden zu leben. Dazu ist nur nötig, daß jemand fortgeht, mit dem man so verbunden ist, daß man das Gefühl hat, als ginge die Seele mit. Beinahe jeden Abend kommt Sven zu mir. Er kommt nicht, wenn ich es will oder wenn ich ihn bitte zu kommen. Nicht, wenn ich weine und mich sehne, meine Arme nach ihm ausstrecke und seinen Namen rufe. Aber wenn ich es am wenigsten ahne, dann sehe ich ihn neben mir sitzen. Und wenn ich dann so recht ruhig und froh bin, dann lächelt er mir zu und sieht glücklich aus. Er sieht mich dann an, ganz wie er es zu tun pflegte, und bevor ich mich besinnen kann, ist er fort. Aber ich bin doch glücklich. Denn ich weiß, daß er bei mir gewesen ist. Er ist oft gekommen, wenn du schliefst und ich wach lag. Mehr als einmal habe ich daran gedacht, dich zu wecken. Aber ich habe nie gewagt, es zu tun. Denn ich fürchtete, daß er, wenn du erwachtest, verschwunden sein würde, und dann würdest du mir vielleicht nicht glauben, was ich gesehen.«

Sie betrachtete mich die ganze Zeit mit Scheu, als glaubte sie, ich würde ihr widersprechen. Ich tue es nie. Ich weiß ja selbst nicht, was ich glaube. Ich habe so furchtbare Erschütterungen durchgemacht, daß ich nicht zu sagen wage, was Wirklichkeit und was Schein ist in den Erfahrungen der anderen. Weiß ich es nur von meinen eigenen? Weiß ich, ob nur das, was ich mit meinem Verstande erreichen kann, Wirklichkeit ist? Ist es nicht denkbar, daß es eine Wirklichkeit gibt, die nur mit dem Gefühl oder – warum nicht – mit der Phantasie erreicht werden kann? es kommt mir vor, als hieße es gleichsam mich selbst verstümmeln, wenn ich mein Gefühl und meine Phantasie dazu degradierte, nur dazu zu existieren, um von dem Verstande unterjocht zu werden. In Gedanken vergleiche ich es damit, wenn ich das Auge einen körperlichen Schmerz leugnen lassen wollte, weil er unsichtbar ist, oder das Ohr die Möglichkeit einer Geschmacksempfindung in Abrede stellen, weil sie nicht gehört werden kann. Und wie gut ich auch all die Argumente kenne, die gegen einen solchen Gedankengang ins Treffen geführt werden, so ist es mir doch unmöglich, sie in diesem Falle geltend zu machen. Ich glaube weder, noch glaube ich nicht. Ich gehe gleichsam in der peinvollen Erwartung herum, einmal über das Klarheit zu erhalten, was ich nicht weiß.

Und dabei wächst in mir ein Gedanke, der in der Stunde Wurzel geschlagen, in der ich wußte, daß mein Kind sterben mußte. Ich begreife, daß, was immer all dies sein mag, Einbildung oder Wirklichkeit, es doch eines Tages meine Frau von mir nehmen wird. Sie ist mit meinem eigenen Leben verwachsen, und ich kann sie nicht missen. Gegen mein eigenes Glück, das ich einstmals so stark wähnte, daß ich von seiner Höhe auf das anderer herabsehen konnte, erhebt sich die Macht, die das Schicksal alles Lebenden ist. Der Tod steht vor mir, wie er einmal vor dem kleinen Sven stand, auf dem Bilde, dessen Inhalt er immer als ein Märchen erzählt haben wollte. Die Glocke läutet, und der, der nicht von hinnen gehen will, wird gerufen, und der, dem der Ruf nicht gilt, muß zurückbleiben. Der Unterschied ist nur der, daß ich den Tod aus der Ferne sehe, lange bevor er herangekommen ist, weiß, daß seine Glocke erklingen wird, und daß die, der sie erklingt, mit Freuden scheidet.

Aber ich will nicht untätig die Macht des Todes verfluchen. In mir wächst ein Verlangen, das Höheres erstrebt, als mir selbst bewußt ist. Es ist dasselbe Verlangen, das, als die Gewißheit vom Tode des Kindes meine Frau zu Boden drückte, sie antrieb zu sagen: »Er soll nicht sterben. Er darf es nicht. Ich weiß, daß er nicht sterben wird.« In gleicher Weise sage auch ich zu mir selbst: »Ich will es nicht. Ich will sie nicht verlieren. Sie soll leben – allem zum Trotz.« Ich merke nicht, daß ich das Unmögliche versuche. Die Kritik, die sogleich wach war, solange es sich um sie handelte, schlummert jetzt, wo es mir gilt. Ich will mit dem Tode kämpfen, um ihr und mein Glück zu behalten, so wie es einmal blühte, nicht, als das Leben uns entgegenlächelte, aber wenigstens, als wir seine Züchtigung empfangen hatten und doch wußten, daß es lächeln konnte. Ich wollte alles tun, um sie zurückzuerobern. Wie Orpheus wollte ich hinab ins Totenreich steigen, durch meine Liebe wollte ich sie zwingen zurückzukehren, und folgt sie mir, werde ich mich gewiß nicht umwenden und zu den Schatten zurückblicken.

Das gelobe ich mir selbst, und ich erwarte nicht, daß der Lohn bald kommen wird. Im Gegenteil, ich bereite mich auf eine lange, harte Prüfungszeit vor, und ich weiß im vorhinein, daß das Erste, was ich lernen muß, die Kunst des Wartens ist.

Aber ich bin so sicher in meinem Glauben, daß ich für mich lächeln kann, wenn ich ihre Reden vom Tode höre. Ich kann sie sagen hören, daß sie sich fortsehnt, und ihre Liebkosungen fühlen, wenn sie mich bittet, ihr zu verzeihen. Dann genieße ich die Liebkosungen und vergesse ihre Worte. Wie eine große, unendliche Gewißheit fühle ich, daß der Sieg unwiderruflich mein ist und nicht dessen, der in der Erde schlummert. Ich nehme ihn in meinen Gedanken zum Bundesgenossen, sage ihr sogar, indem ich auf ihren eigenen Gedankengang eingehe, daß sie leben muß, weil Sven will, daß sie lebt, ja, weil er es mir zugeflüstert hat, während ich schlief.

Sie hört mich mit verwunderten, glänzenden Augen an, und lange Zeit später – so lange Zeit, daß ich mich nicht erinnern kann, was ich selbst gesagt habe – erzählt sie mir, daß Sven auf ihrem Bett gesessen sei, in seinem neuen weißen Kleid mit der blauen Schärpe, und gesagt habe:

»Mama, du sollst nicht so viel um mich weinen. Es tut mir so weh im Kopf, wenn du weinst.«

Ich höre diese Worte, und ich klammere mich an sie wie an ein Omen. Hoffnungsvoller denn je träume ich von einer Zukunft, in der unser totes Kind ein stärkeres Vereinigungsband sein wird, als wenn es gelebt hätte, und ich gedenke mit Tränen in den Augen der Worte, die sie selbst mich einmal gelehrt:

Zusammen altern.

 


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