Gustaf af Geijerstam
Das Buch vom Brüderchen
Gustaf af Geijerstam

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel

Wie oft habe ich nicht dieser Fahrt über verbrannte Stätten gedacht, wie oft ist sie mir nicht seither als ein Symbol unseres ganzen Lebens erschienen!

Aber damals wirkte dieses Ereignis ganz anders auf uns, als jetzt, wo ich mich daran erinnere. Damals wirkte es so, daß wir zu unserem dritten Landaufenthalt gingen, den meine Frau zuerst gar nicht hatte sehen wollen, und dort zum zweiten Male unser Heim für den Sommer mieteten! und leichten Herzens zogen wir hinaus in die Gegend, an die wir uns durch eine rostige Nadel, die niemand fortgenommen, gebunden fühlten.

Rein von Wolken, die die Sonne verdunkeln, steht der Sommer vor mir, der auf diesen Frühlingsausflug folgte. Mit welcher Lust arbeitete ich, und wie leicht schritt die Arbeit vorwärts. Blatt um Blatt wurde ruhig und mühelos zu dem Buche gelegt, das zum Herbst herauskommen sollte, und mehr als einmal stand das Mittagsbrot auf dem Tische, wenn die Türe zum Arbeitszimmer verschlossen wurde und Elsa sich niedersetzte, um die Seiten vorlesen zu hören, die während des Vormittags geschrieben worden waren. Still und glücklich saß sie da und freute sich, daß der Stoß dicht beschriebener Blätter auf dem Tische gewachsen war. Denn sie wußte wohl, wer der Arbeit Leben gab. Sie wußte, daß das, was ich von Menschen dichtete, aus langen Gesprächen zwischen mir und ihr hervorwuchs, und sie war es zufrieden, daß ich sie mein Notizbuch nannte, das sicherer als irgendeine Schrift meine Gedanken bewahrte und sie mir frisch und erneut wiedergab. Denn wenn ich sie dann aus dem treuen Gedächtnis emporholte, das meine eigenen Gedanken besser barg als ich selbst, sah ich sie durch das Vergrößerungsglas der Liebe wieder, mit dem sie all das sah, was sie und mich betraf, und vor allem meine Arbeit. Darum hatte auch sie, während ich las, die Empfindung, daß das, was sie selbst mit mir in ungeordneten Phantasien gesehen, nun in dem Geschriebenen Form gewonnen hatte. Sie genoß eine stille, seltsame Mutterfreude, indem sie so diesen meinen geistigen Kindern auf ihrem Entstehungswege folgte, und dennoch war sie eifersüchtig auf sie, weil sie sich einbildete, daß sie meine Gedanken so erfüllen konnten, daß sie sie selbst, das Heim, die Kinder und alles, was es im Leben gab, verdrängten. Ja, ich glaube nicht, daß sie auch nur ahnte, wie dieses Zusammendichten mit ihr mir kostbarer war als die Dichtung selbst.

Wie kindisch es auch klingen mag, so ist es doch wahr, daß nichts mich je so zu geistiger Tätigkeit angespornt hat, als wenn ich aus ihrem Gesichtsausdruck, der nie das, was sie dachte, verhehlen konnte, entnahm, daß es mir geglückt und daß sie zufrieden war. Ich konnte, während ich schrieb, an dieses Vorlesen denken, und dieser Gedanke verscheuchte die hundert ungebetenen Phantastereien, die sonst so gerne die Feder hindern wollen, zu arbeiten. Aber wenn wir die Lektüre beendet hatten und hinaus in das Speisezimmer kamen, da lachten wir darüber, daß der Hecht kalt geworden war und daß die Jungen, die notdürftig gewaschen, bloßbeinig und sonnverbrannt dasaßen, hungrig und erwartungsvoll aussahen.

»Wir sitzen schon so lange hier und warten«, knurrte Olof. »Wo seid ihr denn gewesen?«

»Wir haben Papas Buch gelesen«, sagte Mama.

»Hättet ihr damit nicht bis nach dem Mittagessen warten können?«

»Nein, das konnten wir nicht.«

»Das muß ein komisches Buch sein«, bemerkte Olof.

Aber Svante, der noch nicht zu buchstabieren angefangen hatte, nahm Papas unbekanntes Buch in Schutz, und wie immer war Mama diejenige, die den Zwist beilegen und die unruhigen Gewässer beruhigen mußte.

Aber was für ein Sommer war das! Was für ein herrlicher Sommer, voll Arbeitsfreude, Schärenwinden, klarer Sonne und milden Mondscheinabenden! Er steht vor meiner Erinnerung wie ein einziger Sonnentag. Ich erinnere mich der Freunde, die mit ihren Segelbooten an unserer Brücke landeten, ich erinnere mich der Ausfahrten mit Eßkörben bei frischem Sommerwind, des Badens im offenen Meer, wo Olof schwimmen lernte und Svante sich im Sande rollte, um seine Anlagen zu zeigen. Ich erinnere mich der Festtage mit Blumengirlanden und Versen, Erdbeeren und Wein, der langen, stillen Spaziergänge durch den Tannenwald, der sich zu einem sonnenbeleuchteten Fjord öffnete, und ich erinnere mich an den Fährmann, der uns im Segelboot zu begleiten pflegte und uns alle aus seinem grauen Kinnbart anlachte.

Wie kurz war dieser Sommer, und wie frühe kam der Herbst! Mit welcher Wehmut verfolgten wir nicht die Veränderungen der Natur, wie die Abende länger und die Tage kürzer wurden, wie man die Wiesen mit ihren herrlichen Blumen abmähte, so daß alles kahler wurde, wie der Roggen sich gelb färbte und das Schilf hoch und groß rings um die Ufer wuchs, einen dichten, wehenden Wald aus Grün mit violetten Blütenbüscheln bildend, wo früher das Wasser munter über die Steine geplätschert hatte.

Und als der Tag des Aufbruchs endlich herankam, wie suchten wir da nicht alle Plätze des Sommers auf, um sie ein letztes Mal wiederzusehen. Wir gingen den Aussichtsberg hinauf, und wir wanderten den Waldweg auf und ab, besonders wenn es dunkelte und die Steine durch die Zweige der Tannen schimmerten. Beinahe eine ganze Woche brachten wir nur damit zu, Abschied zu nehmen. Wir nahmen die Knaben mit und segelten rings um die Insel, und wir sprachen von dem Buche, unserem Buche, das fertig war und zum Herbste herauskommen sollte. Stundenlang konnten wir über den schmalen Pfad gehen, der von dem rotgestrichenen Wohnhause hinab zum Strande führte, und jeden Abend verweilten wir lange auf der Brücke, dem Rauschen der Wogen horchend, das jetzt ruhiger klang als in dem unruhigen Frühling, zugleich jedoch härter.

Aber am letzten Abend, als der Augustmond schon im Abnehmen war, gingen wir allein zur Brücke hinab und stießen mit dem Boote ab.

In der Nachtbrise segelten wir hinaus über die schwarze Bucht, auf die der gelbe Halbmond glitzernde Streifen malte und um die die Bäume so dunkel und wunderlich standen, ganz andere Konturen bildend als die, die das Tageslicht gab. Wie durch eine Zauberlandschaft segelten wir dahin, dem Plätschern der kleinen Wellen am Bug des Bootes lauschend. Wir eilten über die kaum gekräuselte Wasserfläche mit größerer Geschwindigkeit dahin als je am Tage, denn die Brise der Nacht hat größere Kraft, oder sie scheint sie wenigstens zu haben. Aber ohne zu sprechen oder irgend etwas zu verabreden, wendete ich das Boot, so daß es die Klippen umschiffte, und über die Steine der Badebucht gingen wir ans Land. Wir nahmen einander bei der Hand, und wir gingen unseren alten Weg zu der hohen Tanne, in deren Rinde die rostige Nadel steckte. Wir brauchten den Baum nicht zu suchen, denn während des Sommers waren wir oft hingepilgert, und wir hatten niemals gefürchtet, daß jemand an das kleine Ding rühren würde, das so gut verborgen war und uns das Siegel unseres eigenen unermeßlichen Glücks zu sein schien, das zu entfliehen gedroht hatte, aber zurückgekehrt war.

Doch wie wir so in unsere Gedanken versunken standen und das Mondlicht in dem Dunkel der Nadelbäume untergehen sahen, sagte meine Frau:

»Ich will sie nicht dalassen. Ich möchte sie mitnehmen.«

Mit behutsamer Hand machte sie sie los und befestigte sie an der Innenseite ihres Kleides.

»Vielleicht komme ich nie mehr her, und da will ich nicht, daß du sie nach mir findest.«

Dann segelten wir wieder hinaus in die nächtliche Brise, und eine Vorahnung dessen, von dem ich nie geglaubt hatte, daß es kommen würde, erfüllte mich mit einem unnennbaren Gefühl der Trauer. Ich sah auf die Stelle im Boote, wo Elsa saß. Es war mir, als würde sie vor meinen Augen leer und als segelte ich einsam über einen Wasserspiegel, der andere Konturen hatte als die, die das Sonnenlicht gegeben. Ich saß da, so stark von diesem Gefühl erfüllt, daß ich vergaß, daß ich nicht allein war, und zusammenzuckte, als erwachte ich zu einer neuen Wirklichkeit, als ich die Stimme meiner Frau vernahm. Sie sprach leise, so als spräche sie zu sich selbst, und ich hörte im Anfange die Worte, ohne sie zu verstehen.

»Ich habe so oft gedacht,« sagte sie, »daß es Menschen geben muß, die etwas brauchen, an das sie glauben können, und denen Unrecht widerfährt, wenn man ihnen ihren Glauben nimmt. Ich bin so glücklich, daß ich so glaube wie du. Ich will nichts tun, was dir nicht recht ist, nicht einmal etwas glauben, was du nicht weißt. Aber ich kann es nicht lassen, an Gott zu glauben. Bist du sehr böse darüber?«

Wenn meine Frau mich dies in unserer ersten Jugend gefragt hätte, würde ich gewiß streitbar geworden sein, und ich wäre mit allen Gründen gegen einen derartigen Glauben angerückt, den die illusionslose Richtung der Zeit mich gelehrt hatte fast mit nachsichtiger Geringschätzung zu betrachten. Die Jahre, die mich älter gemacht, hatten mir wohl keinen Glauben gegeben, mir aber doch das Verlangen genommen, auch nur einen einzigen Proselyten machen zu wollen, nicht einmal wenn dieser einzige meine eigene Frau wäre. Was ich glaubte, war nichts Festes, es war nur ein Suchen, das Größte zu finden, und mehr als einmal hatte mich schon in meiner frühen Jugend die Dürftigkeit dessen, was man mit einem schlechten Worte Materialismus nennt, durch seine trockene Kühle befremdet. Aber von solchen Dingen, die in mir selbst noch zu unklar und formlos waren, sprach ich im allgemeinen ungerne, und ich fühlte mich jetzt durch die Worte meiner Frau zugleich überrumpelt und gedemütigt.

»Wie sollte ich darüber böse sein können«, antwortete ich bloß.

»Ah, wie froh ich bin«, ertönte wieder ihre Stimme. Denn ihr Gesicht unterschied ich nur undeutlich. »Dann wirst du auch nicht zürnen, wenn ich dir sage, daß ich jeden Abend mein Abendgebet spreche, so wie, als ich ein Kind war. Ich weiß nicht, zu wem ich bete. Aber ich lasse auch die Knaben für dich und mich und füreinander beten. Glaubst du, daß es unrecht ist?«

Ich legte das Ruder nieder, stand von meinem Platze auf, nahm das liebe Gesicht meiner Frau zwischen meine Hände und küßte sie, ohne ein Wort sagen zu können.

»Ich will nicht, daß es etwas geben soll, was du nicht weißt«, sagte sie einfach.

Wieder saß ich an meinem Platze am Ruder, wieder schoß das Boot dahin, und nach einer Weile sah ich durch das Laub ein Licht, das mich zu der Brücke meines Heims leitete. Uns mit den Armen umschlungen haltend gingen wir den schmalen Pfad zu unserem Sommerheim, und als wir uns zur Gutenacht küßten, sagte Elsa:

»Du hast mich heute abend so glücklich gemacht. Ah, du weißt nicht, wie glücklich du mich gemacht hast.«

An diesem Abend blieb ich lange auf, und ich tat, was ich nicht oft während dieses ganzen glücklichen Sommers getan. Ich dachte an Elsa und mich. Unaufhörlich tauchte der Gedanke wieder auf, warum sie mich hatte fragen müssen, ob ich ihr erlaubte, an Gott zu glauben und zu beten. Denn das war es ja, was sie getan hatte. Und während mich diese weiche Weiblichkeit wie ein Hauch unnennbaren Glücks berührte, fühlte ich doch gleichzeitig den Stachel, der darin lag, daß sie je so hatte fragen müssen. Ich ging in Gedanken unsere Jugend durch und all die Jahre, in denen wir uns geliebt. Ich glaubte, daß ich sie immer auf den Händen hatte tragen wollen, ich glaubte, daß ich es immer getan hatte, und nun klang durch ihr ganzes Wesen ein Ton, als hätte ich bei alledem achtlos ihr Innerstes zerrissen und ihr, ohne es zu wissen, eine Wunde geschlagen, die vielleicht lange geblutet hatte, bevor sie gewagt hatte, mich ahnen zu lassen, daß sie litt. Sie schien in irgendeiner Weise mich oder meine Kritik oder beides zu fürchten. Und ich fragte mich selbst: Warum?

Ich wußte, daß ich sie nicht danach fragen konnte. Denn sie würde immer die Arme um meinen Hals schlingen und sagen: »Du, du, niemals hast du mir etwas anderes als Gutes getan!« Ich glaubte den Fanatismus ihrer Stimme zu hören, wenn sie dies sagte. Ja, ich wußte, daß sie so antworten mußte, und ich wußte auch, daß sie alles, was sie sagte, als die innerste Wahrheit empfinden würde, so gewiß als sie es sonst nicht hätte sagen können. Aber dieser Gedanke beruhigte mich nicht. Etwas ganz anderes beschäftigte mich jetzt. Was kümmerte es mich im übrigen in dieser Stunde, ob meine Frau zu Gott betete oder nicht? Was kümmerte es mich, ob sie das oder jenes dachte? Was sie gesagt, hatte mich wie Pfeile getroffen, die geradenwegs in mein Herz gedrungen waren. Ihre Worte waren mit ihr selbst und dem ganzen Sommer, der vergangen war, verschmolzen, mit dem Gefühl der Kahnfahrt auf dem dunklen Wasser, mit dem Brausen des Waldes und dem Strahlenweg des Mondes über die krausen Wellen. Es verschmolz alles zu einem einzigen Ganzen und sang davon, daß ich einen Schatz gewonnen, der sich nicht teilen oder verwandeln ließ, aber der mein blieb, solange ich begriff, daß er nur in der Stille für mich wuchs.

Aber dabei quälte mich der Gedanke, daß ich sie, ohne es zu wollen, doch erschreckt hatte. Das quälte mich im Widerspruch zu ihren eigenen Worten, die noch in meinem Ohre klangen. In Gedanken durchlebte ich alles zwischen uns, woran ich mich erinnern konnte und was möglicherweise damit zusammenhing, und als ich mich an nichts mehr erinnern konnte, suchte ich in meinen Gedanken nach dem, was ich nicht zu finden vermochte.

Denn es war Schuldgefühl, was ich empfand, Schuldgefühl, was mich bedrückte. Ich konnte mich nur nicht entsinnen, wie oder wann ich schuldig geworden war. Ich meinte bloß, daß ich es war und sein mußte. Als ich hereinkam, um zu Bette zu gehen, sah ich bestürzt, daß meine Frau noch wach lag. Aber als ich mich niedergelegt hatte, beugte sie sich nur vor und küßte meine Hand.

Ich habe nie einen glücklicheren Ausdruck in ihrem Antlitz gesehen.

 


 << zurück weiter >>