Gustaf af Geijerstam
Das Buch vom Brüderchen
Gustaf af Geijerstam

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel

So ging ein Jahr, ohne daß wir sein Schwinden bemerkten. Aber um diese Zeit begann ihre Gesundheit ernstlich zu leiden, und ohne daß wir miteinander davon sprachen, wußten wir beide, daß es nur eine Möglichkeit gab. Schon einmal früher hatte das Messer des Operateurs seine lebensgefährlichen Eingriffe machen müssen, und die Krankheitssymptome, die sich jetzt einstellten, waren uns nur allzu gut bekannt. Es überraschte uns darum nicht, als der Doktor uns eines Tages das Urteil verkündete und uns das, was wir schon geahnt, wissen ließ, nämlich, daß nur eine schleunige Operation Elsa mir und meinen Kindern retten konnte.

Als sei ein Todesurteil über unser ganzes Leben gefallen, gingen wir an diesem Tage in unserem Hause herum, und ich sah, daß Elsa von allem Abschied nahm. Zum ersten Male stand es ganz deutlich vor mir, wieviel von ihren innersten Gedanken sie vor mir sowie vor allen verborgen hatte, wie vertraut sie mit dem Todesgedanken war, und wie die Gewißheit, daß sie jung sterben müßte, an ihrer innersten Lebenskraft nagte. Sie war blaß geworden, und ihre Wangen waren abgemagert. Die Hände waren wachsgelb, und sie ging in Angst vor mir umher.

Da bat sie mich zum ersten Male, sterben zu dürfen. Zum ersten Male sprach sie von all dem, das sie getragen und verborgen, um dessentwillen ich in sie gedrungen und das sie nie anders als in Andeutungen über die Lippen gebracht hatte.

»Schon seit ich sehr jung war,« sagte sie, »lange bevor du und ich uns kennen lernten, ist es mir so natürlich gewesen, daran zu denken, daß ich nicht lange leben würde. Dann fand ich dich, und da vergaß ich alles. Denn du hast mich so glücklich gemacht, Georg, du hast mich glücklicher gemacht, als ich dich je machen konnte. Du hast mir meine drei Knaben gegeben, meine zwei großen Jungen und den kleinen Sven. Und was kann ich für sie, für dich und für euch alle sein? Ich bin ja so krank, und ich werde nie gesund. Du sollst mich vergessen, Georg. Ach ja, ich weiß, daß du um mich trauern wirst, weil du mich lieb hast, obgleich ich immer zart und schwach gewesen bin und niemandem nützen konnte. Aber du sollst mich doch vergessen. Und du wirst eine andere finden, die dir mit den Kindern hilft.«

Und wieder bat sie mich sterben zu dürfen, bat, die wenigen Wochen, die ihr gegönnt waren, in Ruhe zu leben. Sie wollte nur nicht auf dem Operationstisch sterben, aber sie war es zufrieden, von hinnen zu scheiden, und sie wollte mit ihren Schmerzen bloß so lange leben, daß sie die Kinder auf das, was kommen mußte, vorbereiten und Abschied von ihnen nehmen konnte.

So plötzlich war all das über mich hereingebrochen, daß ich nicht einmal meine Gedanken zu ordnen vermochte, noch weniger fand ich Worte, um zu antworten. Ich fühlte dunkel, daß ich mich, wenn ich hier eingriff, in einen Kampf stürzte, der über das hinausging, was Menschen im allgemeinen verurteilt sind zu erleben. Ich fühlte die Scheu, die ich immer empfunden habe, wenn es galt, an etwas zu rühren, das eines anderen Menschen innerstes und unantastbares Eigentum ist. Und wenn es etwas gibt, das kein anderer als der Mensch selbst entscheiden kann, so ist es wohl die Frage, ob er sich einem sicheren Tod unterwerfen oder einen schweren Kampf aufnehmen soll, um vielleicht das Leben zu gewinnen. Wie ich meine Frau vor mir sah, erschien sie mir so nahe und doch so ferne. Ihre Bitte, sterben zu dürfen, war so rührend und so ernst gemeint, daß ich nicht den Mut hatte, sie zu bitten, sich um meinetwillen dem Leben wieder zuzuwenden. Denn für sie galt es nicht mehr und nicht weniger. Und mit Staunen merkte ich, daß sie alles, was sie liebte, verlassen konnte, weil sie vorbereitet war. Aber gleichzeitig fühlte ich mit der Stärke der Verzweiflung, daß ich sie nicht verlieren konnte. Ich konnte es nicht. Und in meiner Verzweiflung nach dem einzigen greifend, was mir in den Sinn kam, sagte ich bloß:

»Aber Sven, kannst du Sven verlassen?«

Sie zuckte zusammen wie vor einem Keulenschlag, und sie rang ihre Hände in Verzweiflung.

»Nein, nein! Ich kann nicht.«

Sie wankte zur Schlafzimmertür und bat mich nur, sie allein zu lassen. Ich sah sie die Tür hinter sich verschließen, und ich blieb sitzen, wo ich saß, und hatte das Gefühl, daß alles, was ich mit ihr erlebt hatte, tot und verschwunden war und daß sie jetzt von uns gehen würde. Ich begriff, daß, wenn sie es nicht tat, dies nicht um meinetwillen geschah, sondern um des Kleinen willen mit dem goldenen Haar und den wunderbaren Kinderaugen, ihrem kleinen Engel, der gekommen war und sie ans Leben festgekettet hatte. Ich begriff all dies, aber es verletzte mich nicht. Ich fand es ganz natürlich, daß ich allein sie nicht halten konnte. Ich ließ den Kopf sinken und weinte, weinte zum ersten Male über mich selbst und mein eigenes Leben. Und ich erwartete nichts, glaubte nichts anderes, als daß die Tage jetzt ruhig und unerbittlich bis zu der Stunde fortschreiten würden, die kommen mußte; und schließlich würde der Tod all das zerreißen, wofür ich gelebt hatte.

Wie lange ich so saß, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß es dämmerig wurde und daß ich dadurch auffuhr, daß ich fühlte, daß meine Frau auf den Knien vor mir lag und ihren Kopf an meinen Arm lehnte. Sie war so leise gekommen, daß ich sie nicht gehört hatte, und ihre Stimme klang ruhig, als sie sagte:

»Ich will für dich leben, Georg, für Sven und unsere großen Jungen.«

Ich kannte ihre Stimme, wenn sie so tief und warm wurde, als sei alles andere als ihre Liebe in ihr verstummt. Ich begriff, daß ihr Entschluß jetzt unerschütterlich war, daß sie wieder uns allen gehörte oder gehören wollte, und eine warme Welle der Dankbarkeit gegen sie und das ganze Leben durcheilte mich. Es dauerte lange, bevor wir unsere Lage veränderten, aber als wir es taten, erhob sie sich und zündete alle Lampen an wie zu einem Feste.

Dann rief sie die Kinder herein, und sie kamen alle still und staunend, und wir brauchten ihnen nichts zu erklären. Denn sie hatten alle verstanden, jedes in seiner Weise, sie hatten miteinander gesprochen, wie wir Großen, und sie wußten, daß Mamas Leben auf dem Spiele stand, aber daß sie es wagte, um für sie leben zu können.

Sven kletterte auf Mamas Schoß und schmiegte sich an sie. Und er brachte uns alle dazu, durch Tränen zu lächeln, als er sagte:

»Mama darf nicht vom Fratzi wegsterben.«

Dies was ja einer seiner Kosenamen in der Familie, und er wendete ihn selbst ohne eine Ahnung davon an, daß es komisch klang. Darum brachten uns seine Worte beinahe etwas wie eine Verheißung des Lebens, und sie beruhigten uns.

Aber als die Kinder zur Ruhe gegangen waren, gingen Elsa und ich, uns mit den Armen umschlingend, durch die Räume. Und ich sah, daß sie wieder Abschied nahm, aber in anderer Weise als vor einigen Stunden. Am nächsten Tage sollte sie in das Sanatorium fahren.

Aber als ich frühmorgens herauskam, saß Olof in dem großen Lehnstuhl gegenüber der Schlafzimmertür.

»Sitzest du schon lange hier?« fragte ich überrascht.

»Ja,« antwortete der Knabe einsilbig.

Er hatte dagesessen und an seine Mutter gedacht und daran, wie ernst alles mit einem Schlage geworden war. Zum ersten Male fiel es mir auf, wie groß er war, und ich ergriff seine Hand wie die eines Gleichalterigen. Es zuckte in dem Gesicht des Zehnjährigen, aber er konnte nichts sagen.

Als wir dann in der Droschke saßen, war er wieder Herr über sich selbst, und er stieg noch auf das Trittbrett neben meine Frau, streichelte ihre Wange und sagte beschützend wie zu einem Kinde:

»Habe keine Angst, Mama, es wird schon gut gehen.«

Svante kam auch heran, und der kleine Sven wurde aufgehoben und plauderte und plapperte. In diesem Augenblick wußte Elsa nicht, wen von allen sie am meisten liebte. Aber auf dem Wege kamen wir in unserem Gespräche unaufhörlich auf unseren großen Jungen zurück, der zum ersten Male wie ein Mann gesprochen und gefühlt hatte.

 


 << zurück weiter >>