Gustaf af Geijerstam
Das Buch vom Brüderchen
Gustaf af Geijerstam

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Neunzehntes Kapitel

Die Tage, die nun folgten, suche ich vergebens voneinander zu trennen. Ja, es wäre mir unmöglich, auch nur zu sagen, wie viele ihrer waren. Nacht wurde zu Tag und Tag zu Nacht, und unser Leben hatte bloß einen einzigen Punkt, um den es kreiste: das kleine Zimmer, vor dem die blühenden Kaprifolien die Veranda bedeckten, die Luft mit ihrem Duft erfüllend, und wo unser kleiner Junge lag und mit dem Tode kämpfte.

Hier gingen wir, hier saßen wir Seite an Seite, schliefen, aßen, wachten. Hier verschmolz alles, was wir zusammen gelebt und geträumt hatten, in einem einzigen, verzehrenden Schmerz. Hier tat meine Frau, als die letzte Hoffnung erloschen schien, den Kork in die Moschusflasche. Sie, die mit ihm sterben wollte, nahm das letzte Stimulierungsmittel fort, damit sie sich dann nicht vorzuwerfen brauchte, daß sie die letzten Stunden des Kleinen gestört, nur um selbst die Freude zu haben, sein großes Auge uns entgegenleuchten zu sehen.

Denn das rechte Auge war erloschen und dahin. Das Augenlid lag darüber geschlossen, als sei die Hälfte seines Köpfchens schon lange tot, aber wenn das linke Augenlid sich öffnete, glänzte das Auge um so größer. Es wurde so ernst und groß, als blickte es schon in eine Welt, zu der sein Vater und seine Mutter noch nicht Zutritt hatten und in die wir nicht kommen konnten, bevor der letzte Vorhang fiel und wir ihm auf dem Wege folgten, auf dem die Glocken des Todes läuten und der, welcher das Läuten hört, folgen muß, welche Bande ihn auch auf Erden zurückhalten mögen.

Hier saßen wir, wenn die Tagessonne leuchtete, wenn draußen der Regen fiel und wenn die Nachtlampe im Krankenzimmer ihren schwachen, zuckenden Schein über das weiße Bett warf und den kleinen Sven selbst, ihn, den unsere Blicke suchten, um den unsere stummen Unterredungen sich drehten und dem wir nun schließlich die Befreiung von seinen Qualen wünschten! Still, wie er gelebt, lag er auf seinem letzten Lager, und wenn meine Frau sich über ihn beugte, regte er seine müden Lippen und küßte sie.

»Streichle Papa, Sven«, sagte sie. »Papa ist hier.«

Dann richtete er sein großes, müdes Auge auf mich und legte seine schmale, weiße Hand an meine Wange mit einer Bewegung, als regte er sich nur im Schlaf.

So saßen wir in der letzten Nacht, und näher sind Menschen einander nie gesessen. Wir hielten uns über dem Bett des Kindes an den Händen, und ein leiser Druck sorgte dafür, daß keine Bewegung in seinem Gesicht verloren ging, wenn er aufsah und uns mit seinem großen einzigen Auge suchte. Wir sprachen zueinander: »Hast du das gesehen? Hast du es gesehen?« Und während wir gierig diesen Schatz von Erinnerungen sammelten, der das einzige sein sollte, was uns blieb, verstrichen die langsamen Stunden der Nacht, und die Morgenröte stieg über der Bucht auf, über die Eichen, über den ganzen alten Garten unter unseren Fenstern.

Als wollten wir der Seele des kleinen Brüderchens freien Lauf lassen, dahin zu fliegen, wohin wir ihm nicht folgen konnten, öffneten wir die Türen zur Veranda, und die frische Morgenluft strömte herein. Es hatte in der Nacht geregnet, und durch zersplitterte Wolken brach die Sonne über die Landschaft, während die Nebel über das Wasser der Bucht flogen. Sie stieg und stieg hinan, und bei ihren Strahlen begannen die Vögel zu zwitschern. Und das ganze herrliche Erwachen der Natur ergriff uns so, daß wir uns zum Schweigen zwingen mußten, um nicht den Kleinen zu stören, der schlief.

»Siehst du,« sagte Elsa, »siehst du? So schön muß es werden, wenn er sterben soll.«

Aber noch zögerte der Todesengel, noch dauerten die ruhigen, regelmäßigen Atemzüge des Kindes fort, und Müdigkeit ergriff uns. Ich nahm meine Frau halb mit Gewalt und zwang sie, sich auf dem Sofa neben dem Bett des Knaben zur Ruhe zu legen. Da schlief sie, mit der Hand auf seinem Bette, und während die Morgensonne emporstieg, saß ich allein wach und lauschte ihren schweren Atemzügen, während in mir alles still und ruhig wurde, und ich rief nach einem Ende dieser Pein für uns alle. Ich saß da, bis meine Frau sich von ihrem Schlummer erhob. Dann wechselten wir die Plätze, und ermattet schlief ich ein, die Hand auf der Stelle, wo eben die ihre geruht hatte.

So vergingen ein paar Stunden, und die Sonne stieg höher und höher an einem klaren Sommerhimmel empor. Ich erwachte dadurch, daß meine Frau ihre Hand auf meinen Arm legte.

»Wache auf, Georg«, sagte sie. »Sven stirbt jetzt.«

Ich konnte nicht dort drinnen bleiben. Ich ging hinaus in den Garten; und in dem Gedanken, ihm eine letzte Freude zu bereiten – ihm, der immer Blumen geliebt – brach ich eine Rosenknospe, die schönste, die ich finden konnte, kehrte zurück und legte sie auf das Kissen meines Knaben, neben das Auge, das noch sehen konnte. Außerstande, es länger ertragen zu können, ging ich wieder hinaus auf die Veranda. Von dort hörte ich, wie Svante hereinkam und sich an das Bett setzte. Aber ich drehte mich nicht um. Ich ging nur und horchte auf die langen, furchtbaren Atemzüge, die wie von einem erwachsenen Manne kamen und mir in die Seele schnitten. Da hörte ich einen Laut von meiner Frau, und ich wendete mich um.

Sven hatte das Auge aufgeschlagen und die Rose gesehen. Dann hatte er seine Hand nach der Blume ausgestreckt, sie aufgehoben, als wollte er ein letztes Mal die Rose sehen, und hatte sie dann zurück auf das Kissen fallen lassen.

Plötzlich wurde sein ganzer Körper von furchtbaren, langandauernden Krampfanfällen geschüttelt. Sie begannen beim Kopfe, der schräggedreht wurde, und schienen sich bis in die Glieder fortzusetzen, die steif und bläulich wurden. Da senkte meine Frau das Haupt, um nicht sehen zu müssen. Aber als die Anfälle aufgehört hatten, weinte sie still, und wieder reichte sie mir über das kleine Bett ihre Hand.

So saßen wir dort drinnen, bis die Atemzüge aufhörten . . . wiederkamen . . . sich verlängerten, an Stärke zunahmen . . . und aufhörten. Dann wurde alles still. Das Schweigen des Todes herrschte. Gebeugt und weinend folgten wir den Flügelschlägen der Seele, die im Entfliehen war.

Wir hatten ihn jedes an einer Hand gehalten, und auf einmal ließen wir die kalten Hände hinab auf die Decke sinken.

Dann ging meine Frau aus dem Gemach und suchte die Ruhe. Aber ich blieb sitzen und fühlte mit Entsetzen, wie stumm alles geworden war.

 

Am Nachmittag kam Olof, und zusammen mit Vater und Mutter trat er von seinem ersten Ausflug in die Welt an das Bett, wo das kleine Brüderchen tot lag. Da weinte er männlich und still, und als er in den Speisesaal kam, zeigte ihm Svante ernst seinen Finger.

Der trug ein tiefes Zeichen, und Svante beschrieb, wie das kleine Brüderchen seinen Nagel hineingedrückt hatte, bevor es gestorben war. Er behielt dieses Zeichen mehrere Tage lang, und er vermißte es, als es verschwand.

 


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